13. Juni 2024

Heimkino-Highlights im Juni 2024

Neues und Altes jenseits des großen Saals

Lesezeit: 8 min.

Jeden Monat die gleiche quälende Frage angesichts eines Bergs von Neu-Veröffentlichungen: „Was lohnt sich?“ – regelmäßige Hinweise der Redaktion sollen das Leben zumindest ein wenig leichter machen!

 

1. Drive (1997)

Bei wem? ‎Turbine Als was? Mediabook (2 Blu-rays) Wann? 31.05.2024

Worum geht’s? Das organisierte Verbrechen ist ihnen dicht auf den Fersen. Aber nicht einmal Handschellen können den Martial-Arts-Experten Toby und den sprücheklopfenden Barkeeper Malik stoppen. Toby ist blitzschnell, schlagkräftig und er macht jeden Gegenstand zur Waffe. Doch Toby trägt etwas in sich, wofür seine Verfolger bereit sind zu töten: In seiner Brust wurde ein Biomotor implantiert, der seinem Träger übermenschliche Kräfte verleiht …

Prognose: Einer der besten US-Actionfilme der 1990er-Jahre hatte leider ein tragisches Schicksal: Obwohl das Publikum bei Festival-Screenings vor Freude tobte und selbst die notorisch genrefeindlichen Kritiker recht angetan waren, wanderte „Drive“ in den meisten Ländern direkt in die Videotheken. Aber nicht nur das: Die Videothekenkundschaft bekam zumeist nur eine von der Produktionsfirma stark gekürzte Version zu Gesicht, deren Soundtrack zu allem Überfluss noch durch eine schlechtere Alternative ausgetauscht wurde. Deutschland hatte wenigstens da Glück: Zwar ging’s hierzulande ebenso direkt in die Videoschuppen, aber wenigstens in der vom Regisseur intendierten Version. Besonders bitter war aber: Nur ein Jahr später kam „Rush Hour“ mit Jackie Chan in die Kinos, die der Low-Budget-Produktion „Drive“ verblüffend ähnelt, sich aber zu einem der größten Hits des Jahres entwickelte.

Der große Unterschied zwischen den beiden: „Drive“ ist der weitaus bessere Jackie-Chan-Film. Während es sich bei „Rush Hour“ um eine typische US-Großproduktion handelt, inszeniert von Brett Ratner, der sich während seiner Karriere vor allem durch Einfallslosigkeit, reine Zweckmäßigkeit auszeichnete, stammt „Drive“ hingegen von Steven Wang, ein großer, großer Fan von Jackie Chan und japanischen Superhelden-Shows, der Anfang der 1990er-Jahre mit fantasievollen Science-Fiction-B-Movies wie „Mutronics – Invasion der Supermutanten“ (1991) oder „Guyver – Dark Hero“ auf sich aufmerksam machte, die sich vor allem durch exzellente choreographierte Kampfszenen auszeichneten, für die der ebenfalls schwer Jackie-Chan-beeinflusste Regisseur, Stuntman und Actionchoreograph Koichi Sakamoto verantwortlich war.

Sakamoto rückte mit seinem 1992 gegründeten „Alpha Stunts“-Team auch bei „Drive“ an und sorgte für eine ganze Reihe von perfekt im Stil des Hongkong-Kinos gefilmten (das heißt, die Kamera passt sich der Action an, geht mit ihr mit, verschmilzt mit ihr), unglaublich dynamischen und herrlich verspielten Kampfsequenzen, bei denen im besten Chan-Stil oft Gegenstände aus der Umgebung irgendwie in die Kämpfe eingebaut werden. Hilfreich dabei war natürlich, dass mit Marc Dacascos ein Darsteller parat stand, der in Sachen Martial-Arts-Skills Chan kaum nachsteht. Der große Gag des Films: Dacascos kann fast alles, was da im Film zu sehen ist, auch in echt, ganz ohne Biomotor.

Die Action kann sich jedenfalls rund 25 Jahre später nach wie vor absolut sehen lassen – die von einem Journalisten aufgestellte These, dass „Drive“ der beste Martial-Arts-Film ist, der je in den USA produziert wurde, ist gar nicht mal so verwegen. Er ist ebenso einer der besten Jackie-Chan-Filme ohne Jackie Chan. Doch Wangs Film zeichnet sich noch durch etwas anderes aus. Es werden nicht nur Actionszenen aneinandergereiht: Der Film liebt seine Charaktere und nimmt sich Zeit für sie und das zu Recht, denn die beiden Hauptdarsteller Mark Dacascos und Kadeen Hardison sind spitze und harmonieren prächtig. Tiefgründig wird’s natürlich nie, dafür aber oft lustig und es gibt wohl kaum einen zweiten Martial-Arts-Actioner, in dem zum Beispiel eine biotechnisch aufgerüstete Kampfmaschine urplötzlich einen hinreißenden Karaoke-Auftritt absolviert. Apropos: Es ist wirklich schade, dass Dacascos karrieretechnisch nie so wirklich durchstarten konnte: Der Mann ist nicht nur ein erstaunlicher Kampfsportflummi, er scheint zudem das Geheimnis ewiger Jugend und Schönheit entdeckt zu haben und versprüht Charisma wie ein Rasensprenger.

„Drive“ ist jedenfalls ein mit viel Liebe und Herzblut gemachter, fröhlicher, ein wenig cartoonhafter Gute-Laune-Film zum immer wieder gucken, und Turbine hat jetzt die perfekte Blu-ray-Edition für die Vitrine veröffentlicht: Original- wie Kurzfassung, 45-minütiges Making-of, in dem die Schwärmerei der Beteiligten dieses Mal tatsächlich glaubhaft wirkt, Kurzinterviews, gelöschte Szenen und ein Audiokommentar mit Wang, Sakomoto, Dacascos und Kadeem Hardison machen das Paket so richtig fett.

Drive USA 1997 Regie: Steve WangDarsteller: Marc Dacascos, Kadeem Hardison, John Pyper-Ferguson, Brittany Murphy, Tracey Walter, James Shigeta, Masaya Katô

 

2. Faceless (1988)

Bei wem? 8 Films Als was? Mediabook (2 Blu-rays) Wann? 04.06.2024

Worum geht’s? Durch ein Säure-Attentat wird die Tochter eines Arztes grausam enstellt. Der Vater arbeitet fortan daran, seiner Tochter ein neues Gesicht zu verschaffen. Zu diesem Zweck kidnapped er junge Mädchen, denen er die Gesichtshaut abzieht und seiner Tochter transplantiert. Durch wiederholte Fehlschläge bei den Operationen gerät ein Detektiv hinter die Machenschaften des mörderischen Arztes …

Prognose: Jess Franco gilt hierzulande ja gerne als „Stümper“, wenn sein Name ins Spiel kommt, rümpfen selbst Fans allerniederster Kost reflexhaft die Nase um zu beweisen, dass man ja doch irgendwie guten Geschmack hat. Dass das kompletter Unsinn ist, erkannte man 2009 selbst in Francos Heimatland und verlieh der 2013 leider verstorbenen Ein-Mann-Filmfabrik sogar den Ehren-Goya für seine Beiträge zum spanischen Kino. Der Brite Stephen Thrower, einer der besten Autoren, wenn es um ungewöhnliches Kino geht, toppte das in den Jahren danach noch mit einer zweiteiligen, insgesamt über 1000-seitigen (!!!) Aufarbeitung von Francos Karriere und Filmen. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass Franco natürlich eine gewisse Offenheit benötigt: Franco war kein Stümper, der kleine Spanier hatte zum Beweis sauber inszenierte, verhältnismäßig hochbudgetierte Filme wie „Faceless“ abgeliefert, der gemeinhin als einer seiner besten gilt. Der Punkt ist aber: Das sind eben keine „echten“ Franco-Produktionen. Es sind die kleinen, am Wegesrand mal hier- und da angefertigten, massiv von seiner Liebe zum Jazz geprägten, wild inszenierten Streifen, die durch und durch vom Geist Francos beseelt sind – für eine etwas ausführlichere Analyse von Francos Schaffen verweise ich einfach mal auf diesen Essay von mir.

Bei „Faceless“ handelt es sich jedenfalls um ein Quasi-Remake von Georges Franjus Klassiker „Augen ohne Gesicht“ (1960), produziert von Rene Chateau, der sich primär durch diverse Zusammenarbeiten mit Jean-Paul Belmondo eine goldene Nase verdient hatte. Viele bekannte Namen, ein bisschen sleazy, gelegentlich spannend und zudem mit einem schön bösen Ende und teils etwas zu ausgewalzten Splatterszenen gewürzt (Franco war übrigens überhaupt kein Fan von expliziten Gewaltszenen) – an sich eine okaye Sache. Aber für Francoianer halt nur ein relativ konventioneller Horrorfilm mit leichtem Science-Fiction-Einschlag (die Produktion ist von 1988 und endet mit einer erfolgreichen Gesichtstransplantation, die erste reale Gesichtstransplantation wurde 2011 ausgeführt), den auch Max Mustermann gedreht haben könnte.

Faceless • Spanien/Frankreich 1988 • Regie: Jess Franco • Darsteller: Helmut Berger, Brigitte Lahaie, Telly Savalas, Christopher Mitchum, Stéphane Audran, Caroline Munro

 

3. The Artifice Girl – Sie ist nicht real (2022)

Bei wem? Tiberius Als was? Blu-ray, DVD, VOD Wann? 06.04.2024

Worum geht’s? Agenten des FBI entdecken ein revolutionäres Computer-Programm, das per künstlicher Intelligenz Online-Sextäter anlockt und überführt. Dazu gibt sich die Cherry genannte KI als minderjähriges Mädchen aus. Mit Hilfe des Entwicklers müssen die Agenten feststellen, dass sich das Programm sehr schnell entwickelt. Das hat möglicherweise fatalen Konsequenzen für zukünftige Technologien – und die gesamte Menschheit …

Prognose: Ein Film, der mich kalt erwischt hat. Da sitzt man abends gemütlich vor dem Monitor und will sich mit einem Glas Rotwein in den Pfoten entspannt was angucken, und dann kommt so ’n Teil daher. Das Budget dürfte was um die 14,99 Dollar betragen haben, die Handlung spielt überwiegend in gerade mal drei Räumen und auf ebenso vielen Zeitebenen und kreist um gerade mal vier Charaktere, die eigentlich nur eins machen … reden. Es gibt keine große Dramatik, keine Action, es geschieht praktisch nichts. Meint man zu Anfang noch in einen „Cyber-Thriller“ gelandet zu sein, wandert die Handlung allmählich in einen philosophisch angehauchten Diskurs um das Thema künstliche Intelligenz, der sich – grob zusammengefasst – um ethische und moralische Fragen dreht, darüber nachdenkt, wie man als Mensch mit einer hoch entwickelten AI umgehen soll und dabei, ohne es direkt auszusprechen, die recht provokante These durch den Raum schweben lässt, dass es sich bei der AI vielleicht um die nächste Evolutionsstufe des Menschen handeln könnte.

„The Artifice Girl“ kann man jetzt sicherlich im ersten Impuls als „verkopft“ bezeichnen und ja, zum mal eben mit ’nem Glas Rotwein in den Pfoten gucken, ist das nicht wirklich was. Man kann Regisseur und Drehbuchautor Franklin Ritch aber nicht unbedingt vorwerfen, dass er die Zuschauer aus den Augen verliert – ok, es wird viel geredet, aber eben nicht gelabert, und es entstehen immer neue, interessante Dynamiken zwischen den Charakteren, die von mir unbekannten, aber überzeugenden Darstellern gespielt werden. Als überragend kann man Tatum Matthews bezeichnen, Darstellerin der KI Cherry, die zum Drehzeitpunkt 12 oder 13 Jahre alt war und ihre Figur in den verschiedenen Entwicklungsphasen sehr nuanciert verkörpert.

Ich bin noch zu keinem abschließenden Urteil gekommen, ich weiß aber eins: Ich muss den noch mal sehen. Bald. Und diesen Impuls lösen bei mir nicht allzu viele Neuerscheinungen aus.

The Artifice Girl – Sie ist nicht real USA 2022 • Regie: Franklin Ritch • Darsteller: Tatum Matthews, Lance Henriksen, Sinda Nicholson, David Girard, Franklin Ritch, Ivana Barnes

 

4. Caltiki – Rätsel des Grauens (1959)

Bei wem? Wicked Vision Als was? Mediabook (Blu-ray, DVD) Wann? 21.06.2024

Worum geht’s? Eine Expedition im mittelamerikanischen Urwald findet eine Höhle, in der sich Götzenbilder der Mayas befinden. Als der Trupp von einem gigantischen Monster, eine Art Einzeller, angegriffen wird, gelingt es mit einer Explosion das Ungeheuer vermeintlich zu zerstören. Doch ein kleiner Teil überlebt und infiziert einen der Expeditionsteilnehmer. Während das Monster wieder wächst, nähert sich zudem noch ein Asteroid der Erde, welcher der Erde auch schon näher kam, als die Kultur der Mayas schlagartig ausstarb …

Prognose: Ich hab’s leider noch immer nicht geschafft mir den anzusehen, dafür aber schon x-mal drüber gelesen und die meisten Stimmen waren zufrieden bis begeistert, empfinden ihn als bessere Variante zum ein Jahr vorher erschienenen Alltime-Klassiker „Blob –Schrecken ohne Namen“, was wohl daran liegt, dass hinter den Kulissen Großmeister Mario Bava am mitwerkeln war (Infos zur turbulenten Produktion gibt’s hier) und für eine schöne Atmosphäre gesorgt hat. „Caltiki“ wird auch in Texten und Büchern zu Lovecraft-Verfilmungen oft unter den besten Lovecraft-Filmen aufgeführt, die nicht auf eine seiner Geschichten basieren, aber trotzdem den entsprechenden Vibe mitbringen. Natürlich, bei einem 65 Jahre alten Low-Budget-Film wird man über das ein oder andere hinwegsehen müssen, aber ich geh schon davon aus, dass der sich lohnt. Und falls nicht so: Es gibt einen gigantischen Packen an Extras, darunter ganze vier (!) Audiokommentare, unter anderem von Troy Howard und Tim Lucas. Und vor allem Lucas ist jemand, dem ich ausgesprochen gerne zuhöre, der Mann ist ein echter Filmgelehrter mit enzyklopädischem Wissen.

Caltiki – Rätsel des Grauens • Italien/USA 1959 • Regie: Riccardo Freda, Mario Bava • Darsteller: John Merivale, Didi Perego, Gérard Herter, Daniela Rocca, Giacomo Rossi Stuart

 


„Lumberjack The Monster“

und was gibt’s im TV & Internet?

Lumberjack The Monster – 01.06.2024, Netflix: Überraschendes Streaming-Release des neuen Takashi-Miike-Films, es geht um einen psychopatischen Anwalt, der einen psychopatischen Serienkiller jagt – der erstere hat einen Neurochip im Kopf, der dafür sorgt, dass er ist, wie er ist. Hat seine Momente, ist leider aber sehr geschwätzig und erklärwütig.

• The Boys, Staffel 4 – ab 13.06.2024, Amazon Prime: Die neue Staffel der schräg-blutigen Superhelden-Variante.

Manifest, Staffel 3 – ab 16.06.2024, Kabel Eins: Free-TV-Premiere der beliebten Serie um die Besetzung eines Flugzeugs, die nach ihrem Flug erkennen muss, dass mysteriöserweise fünfeinhalb Jahre vergangen sind und sich jetzt mit einem Leben konfrontiert sieht, das nicht mehr dasselbe ist.

Young Sheldon, Staffel 7 – ab 26.06.2024, ProSieben Fun: Die letzte Staffel der Serie über die jungen Jahre des „Big Bang Theory“-Genies Sheldon Cooper.

Abb. ganz oben: „The Artifice Girl – Sie ist nicht real“, Tiberius

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.