Astronauten der neuen Generation
Was Langzeitflüge im Weltraum mit dem Lockdown auf Erden gemeinsam haben
Jetzt also die Generation C. Das kommt nicht etwa von Corona, sondern von Creation, Curation, Connection und Community, und meint die YouTube-Generation. Aber welcher Buchstabe auch immer einmal vor der nachfolgenden Generation - der meines Kindes - stehen wird (ich selbst bin ein Y, ein Millennial), die Pandemie wird die Art, wie sie aufwächst, maßgeblich prägen. Davon bin ich überzeugt.
Denn bereits nach wenigen Wochen mit Kind im Home Office wusste ich eines mit Bestimmtheit zu sagen: Die Stimmung hätte besser sein können. Bei mir und dem Kind. Auch der Fernseher, dieser Retter in der Not (da hört man sie wieder, die MTV-Generation in mir), hilft gestressten Eltern nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn unsere friedliche Koexistenz bestehen bleiben sollte, musste ich mir also etwas einfallen lassen.
Glücklicherweise habe ich zur Zeit des ersten Lockdowns gerade für meinen Roman „Der vierte Mond“ zu Langzeitflügen im All recherchiert, und da sind mir einige interessante Parallelen zwischen Astronauten auf dem Weg zu Mars oder Jupiter und meinem Sprössling hier unten im Lockdown aufgefallen. Natürlich ist eine Wohnung kein Raumschiff und der Gang zur Mülltonne hinter dem Haus in den meisten Fällen nicht so gefährlich wie ein Flug ins All. Dennoch verursacht die Begrenzung auf einen engen Lebens- und Arbeitsraum den meisten Menschen nach einer gewissen Zeit ein gesteigertes Maß an Stress - ganz gleich ob sich der Raum auf 1.200 Kubikmeter (ISS), 204.000 Kubikmeter (Biosphäre II) oder 240 Kubikmeter plus fünfzehn Kilometer Bewegungsradius (Beispielwohnung) erstreckt.
Neben den körperlichen Aspekten, mit denen Astronauten in der Schwerkraft zu kämpfen haben, sind es vor allem mentale Probleme, die eine Mission zum Scheitern bringen können. Astronauten haben lediglich Kontakt zu einer Handvoll Menschen. Privatsphäre ist so gut wie nicht vorhanden, und nach monatelanger Mission weiß jeder alles über jeden, es gibt keine Überraschungen mehr.
Mein Kind sah auch immer dieselben Leute, und das Ergebnis war: Ich langweilte mein Kind. Und nicht nur ich, sondern auch jedes Spielzeug und jede bekannte Ablenkung. Langeweile ist erwiesenermaßen eines der größten Probleme einer Langzeitmission.
Während ich also versuchte, die Meuterei im Kinderzimmer zu verhindern, recherchierte ich weiter zum Thema Isolation und mentaler Verfassung von Astronauten.
So stellte man bei Untersuchungen in Forschungsstationen in der Antarktis und während des Biosphäre-II-Projekts fest, dass einige Teilnehmer auf die Isolation mit Depressionen, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und abnehmender Konzentrationsfähigkeit reagierten, ähnlich der von russischen Forschern festgestellten Asthenie bei Kosmonauten auf Langzeitmissionen an Bord der MIR. Diese Studien werden auch heute noch für Auswahl und Training von Astronauten herangezogen. Die Art der Isolation ist nicht dieselbe, trotzdem liefern die Untersuchungen wichtige Hinweise auf mögliche mentale Probleme, die während eines Langzeitflugs auftreten können.
Oder während eines Lockdowns. Auch mein Kind schlief schlechter, wurde launisch und konnte sich weniger konzentrieren (ebenso wie viele seiner Freunde).
Wenn es also zwischen denen da oben und uns hier unten Parallelen gibt, helfen dann vielleicht auch die Maßnahmen, die ergriffen werden, um Astronauten auf die Isolation vorzubereiten? Ich beschloss, mein Kind wie einen Astronauten zu trainieren.
Es gibt verschiedene Theorien darüber, warum einige Menschen in solchen Situationen besser zurechtkommen als andere. Der offensichtlichste Faktor ist der, dass sie freiwillig an der Mission teilnehmen. Außerdem besitzen sie eine Reihe von Eigenschaften, die sie resilienter machen: Sie sind zielorientiert, unabhängig, verfügen über Einfühlungsvermögen, gute Kommunikationsfähigkeiten, mögen Herausforderungen und entwickeln beruflichen Ehrgeiz – und sie passen ihre Erwartungen der Situation an.
Das war der Punkt, mit dem ich begann. Und zwar bei mir. Der erste Schritt war Akzeptanz. Astronauten müssen akzeptieren, dass sie es sich nicht auf halbem Weg anders überlegen und umkehren können, und ich musste akzeptieren, dass meine gewohnte Arbeitsroutine auf unbestimmte Zeit unmöglich war.
Anschließend begannen wir mit der Mission „Raumflug“. Das Arbeitszimmer wurde zum Kommunikationsmodul und das Wohnzimmer zur Kraterlandschaft des Mondes, in der das Kind über Tische und Sofa klettern musste, um Proben (Snacks) zu sammeln. Genau wie Astronauten übten wir Andockmanöver: Die Couch dockte am Esstisch an, der Couchtisch am Bücherregal, ich erkannte nichts wieder. Während Astronauten „Weltraumspaziergänge“ entlang ihres Raumschiffs unternehmen, sind wir im Viertel „auf Erkundungstour“ gegangen. (Zugegeben, wir liefen dabei nicht Gefahr, ins All geschleudert oder von Mikrometeoriten getroffen zu werden.) Ich jagte das Kind durch alle Zimmer, ließ es auf einer Matte Purzelbäume schlagen und über die Bettkante balancieren, um das Gleichgewicht zu trainieren, und manchmal stoppten wir die Zeit bei einem solchen Parcour, damit das Ganze zur Herausforderung wurde. Das Kind durfte die eintreffenden Pakete die Treppe hinauf- und die vollen Mülltüten hinuntertragen, denn auch Krafttraining ist für Astronauten wichtig, da es dem Muskelabbau vorbeugt.
Ich erstellte eine Liste mit kleinen Zielen. Unter anderem lernte das Kind alle Planeten unseres Sonnensystems auswendig (und auch dass Pluto mal als einer galt, schließlich hat meine Generation das noch so gelernt). Ich ließ es mit seinen Freunden skypen, und sie fanden heraus, wie sie digital nebeneinander spielen können, indem sie alles erklären, und dass sie es hinnehmen müssen, wenn einer mal keine Lust mehr auf den Austausch hat.
Da Astronauten ihre Sprachkenntnisse vertiefen müssen, ließ ich das Kind alte Rocksongs hören, damit es erste englische Begriffe lernt; es kann jetzt also Ace of Spades von Motörhead und I’m still standing von Elton John mitsingen. Durchaus passend, wie ich finde.
Bei Thema Robotik erlitten wir allerdings Rückschläge, als ich den Staubsauger zum Satelliten erklärte und das Kind ihn aufschrauben wollte, um nachzusehen, wie der Satellit von innen aussieht. Wir mussten das Experiment abbrechen.
Das Tauchtraining (Gewöhnung an die Schwerelosigkeit) in der Badewanne führte natürlich zu Überschwemmungen, sodass wir anschließend das Putzen üben konnten. So ein Raumschiff will schließlich auch in Schuss gehalten werden.
Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, unser Astronautentraining zahlte sich aus. Die Stimmung hob sich (möglicherweise habe ich nicht nur das Kind trainiert, sondern auch mich selbst), und ich konnte mich etwas besser in die Figuren meines Romans hineinversetzen, die auf Langzeitmissionen unterwegs waren. Wir haben also beide davon profitiert, das Kind und ich.
Es kann schon sein, dass die Generation Pandemie einige Eigenschaften aufweisen wird, die den Generationen davor seltsam erscheinen, aber vielleicht sind das auch genau die Umstände, die aus ihnen später einmal geeignete Astronauten für Langzeitflüge zu Mars oder Jupiter machen, schließlich sind sie an Isolation gewöhnt und haben Resilienz dagegen entwickelt. Man wünscht es ihnen.
Jetzt, da die ESA neue Astronauten sucht …
Kathleen Weise, geboren 1978 in Leipzig, absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig mit den Schwerpunkten Prosa und Dramatik/Neue Medien. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Leipzig und war außerdem viele Jahre ehrenamtlich für das Literaturbüro Leipzig e.V. tätig, wo sie Textwerkstätten, Schullesungen und Workshops organisierte und durchführte. Ihr Science-Fiction-Roman „Der vierte Mond“ ist im Heyne Verlag erschienen.
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