„Deep Me“ von Marc-Antoine Mathieu
Ein experimenteller Comic zwischen Koma, Weltraum und Zukunft
Ob der 1959 geborene Franzose Marc-Antoine Mathieu das 1983 erschienene US-Heft „Alpha Flight“ 6 von John Byrne gelesen hat? In jenem Superhelden-Heft von Marvel siedelte Byrne eine fünfseitige Sequenz in einem Schneesturm an – ohne Bilder, nur Panelrahmen, Sprechblasen, Textkästen und Soundeffekte. Etwas ähnliches macht rund 40 Jahre später nun auch der viel beachtete Comic-Grenzgänger Mathieu in seinem neuen Album „Deep Me“ über weite Strecken. Aber der Reihe nach.
Monsieur Mathieu kennt man für Comics wie „Hier“, „Gott höchstselbst“, „Julius Corentin Acquefaques, Gefangener der Träume“, „3 Sekunden“ und „Otto“, die formal immer wieder die Grenzen des grafischen Erzählens angegangen sind, nicht nur zur Freude von Scott McCloud. Über die Jahre etablierte sich Mathieu als Metaphysiker, Surrealist, Architekt, Neuerer. Sein schwarzes Album „Deep Me“ wird jetzt aus der Sicht eines Koma-Patienten erzählt. Lange besteht es vor allem aus schwarzen Seiten und leeren Panels, den Gedanken des reglosen Mannes sowie den Dialogen und Handlungen derer, die sein Krankenhauszimmer betreten. Später gibt es ein paar Erinnerungen und Entwicklungen, die mit diesem Konzept brechen und den Comic in mehr als einer Hinsicht zu richtiger Science-Fiction machen.
John Byrne, der Marvel-Ikonen wie die X-Men, die Fantastic Four und She-Hulk revolutionierte, mag den Schneesturm damals im Kampf gegen seine vielen monatlichen Deadlines eingesetzt haben (bezahlt wurde er, wie er 2006 in seinem Forum enthüllte, für volle Seiten, da Marvel-Chefredakteur Jim Shooter eine bewusste kreative Entscheidung des Zeichners hinter der bilderlosen Strecke sah). Marc-Antoine Mathieu wendet den Trick – den Gag – auf ungefähr 20 Mal so vielen Seiten an, und das mag letztlich ein bisschen zu viel des Guten sein. Andererseits zeigt er, wie wenig es für Kopfkino braucht – nur, braucht es für diese Erkenntnis wirklich einen 120-Seiten-Comic?
Mit weniger Seiten würde „Deep Me“ besser dastehen, und Marc-Antoine Mathieu hätte sein Statement dennoch genauso gut machen können, die Pointe genauso gut setzen. Auch vermisst man natürlich schon ein Stück weit seine berühmten, außergewöhnlichen Bilder und Formen. Interessant ist das Experiment der Bildergeschichte mit möglichst wenig Bildern und viel Bewusstsein trotzdem. Und dann ist da eben noch der SF-Spin …
Marc-Antoine Mathieu: Deep Me • Reprodukt, Berlin 2023 • 120 Seiten • Hardcover: 24 €
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