14. Mai 2018 2 Likes

Warum fühle ich mich durch dieses Buch so sexy?

Ein ausführliches Interview mit der britischen Starautorin Naomi Alderman

Lesezeit: 16 min.

Mit „Die Gabe“ (im Shop) hat Naomi Alderman den am meisten diskutierten Roman des letzten Jahres veröffentlicht. Ausgezeichnet mit dem Bailey Women’s Prize for Fiction und von Ex-Präsident Barack Obama persönlich empfohlen, war „Die Gabe“, obwohl bereits ein Jahr früher geschrieben, plötzlich DAS Buch zum Weinstein-Skandal und Naomi Alderman eine starke Stimme in den Reihen der Frauen, die sich nicht mehr mit den vorhandenen gesellschaftlichen Gepflogenheiten abfinden wollen. Im Interview spricht sie nun über Literatur, Macht und Sex und darüber, wie es ist, mit Margaret Atwood befreundet zu sein.

 

Was hat Sie dazu inspiriert, Die Gabe zu schreiben?

Als ich eines Tages vor ein paar Jahren mit der U-Bahn fuhr, fiel mir an einer Haltestelle das Werbeplakat für einen Thriller auf. Darauf war das Gesicht einer wunderschönen, weinenden Frau zu sehen, die ganz offensichtlich zu Tode erschrocken war. Ich durchlebte zu dieser Zeit eine schwierige Trennung, und als ich dieses Plakat sah, zerbrach etwas in mir. Ich hatte das Gefühl, als würde es mir zurufen: „Hey du, das, was du gerade durchmachst – all deine Tränen und all dein Schmerz -, das gefällt uns. Gib uns mehr davon. Das macht uns an. Braves Mädchen.“ Und ich fragte mich, wie unsere Welt wohl sein müsste, damit ich das Bild eines wunderschönen, weinenden, zu Tode erschrockenen Mannes in einer U-Bahn-Station als völlig normal, ja sogar als begehrenswert empfinden würde. Wie müsste die kleinstmögliche Veränderung aussehen, um so eine Welt zu erschaffen? Und plötzlich war die Idee zu Die Gabe geboren.

 

Während Sie Die Gabe schrieben, haben Sie gleichzeitig an einer Dokumentation über Aale für die BBC gearbeitet. Haben Sie auch mit anderen Formen als Elektrizität experimentiert, um den Frauen im Buch ihre Macht zu verleihen?

Oh ja, eine Zeit lang hatte ich sogar überlegt, in die esoterische Richtung zu gehen. Ich dachte dabei an eine Kraft, die die Nerven schädigt oder auch an die Wirkung von Pheromonen. Aber dann wies mich jemand darauf hin, dass in meinem ersten Roman Ungehorsam eine Szene vorkommt, in der die Protagonistin Ronit sich vorstellt, einen wirklich üblen Typen mittels eines Stromschlages aus ihrer Hand zu töten. Dieses Bild hat mich anscheinend schon länger beschäftigt.

 

Wie wurden Sie zu Margaret Atwoods Protegé und welche Rolle spielt sie für Sie? Stand sie Ihnen zur Seite, als Sie Die Gabe geschrieben haben? Und was war der wichtigste Rat, den sie Ihnen gegeben hat?

Rolex sponserte damals ein Förderprogramm für Künstler, und Margaret und ich wurden einander zugelost. Das war der Beginn unserer Freundschaft. Dass die Idee zu meinem Roman einer so brillanten Schriftstellerin, einer Literaturheldin, gefiel, bedeutete mir ungeheuer viel. Margaret war meine Motivation weiterzumachen, weiterzuschreiben. Wir haben viel über den Roman selbst gesprochen, aber der wichtigste Ratschlag, den sie mir gab, betraf das Leben als Schriftstellerin. Sie brachte mir bei, dass es wichtig ist, auch mal Nein zu sagen. Da hat sie sehr strikte Ansichten. Wir Frauen tendieren dazu, öfter Ja zu sagen, als gut für uns ist – Margaret ermutigte mich, kleinere Anfragen und Gefälligkeiten, um die ich gebeten wurde, ablehnen, damit ich mich voll und ganz auf meine Arbeit konzentrieren konnte.

 

Ist Die Gabe Ihre Antwort auf Der Report der Magd?

Ich würde nicht unbedingt sagen, dass es meine Antwort darauf ist, aber Der Report der Magd hat für mein Buch sicher eine Rolle gespielt – neben anderen Dingen.

 

Es entsteht der Eindruck, dass Sie – ebenso wie Margaret Atwood in Der Report der Magd – in Ihrem Roman nur Ereignisse aufgreifen, die wirklich passiert sind. Stimmt das?

Das ist absolut richtig – auch wenn bei diesen Ereignissen im wahren Leben natürlich keine Elektroschocks verteilt wurden. Aber um ehrlich zu sein, ich habe manche Dinge, die Frauen von Männern tagtäglich angetan werden, gar nicht erst berücksichtigt, weil sie im Buch unglaubwürdig und lächerlich erschienen wären. Wie zum Beispiel, dass es Frauen unter der Herrschaft der Taliban untersagt war, in der Öffentlichkeit laut zu lachen.

 

Es ist entsetzlich zu lesen, wie Männer in Ihrem Buch von den Frauen gequält werden, und es fühlt sich auf eine sehr eigenartige Weise falsch an. Denken Sie, das hat etwas damit zu tun, dass wir sosehr daran gewöhnt sind, dass diese Gewalt im wahren Leben hauptsächlich Frauen widerfährt?

Natürlich. Die Gabe ist in gewisser Weise wie eine Fingerübung für junge Künstler - meine Mutter ist Kunstlehrerin -, bei der sie die alten Meister kopieren müssen. Nur eben andersherum. Das ist eine Technik, bei der man lernt, genau hinzusehen und frei von der eigenen Fantasie und den eigenen Vorurteilen darauf zu achten, was wirklich auf einem Bild, wie zum Beispiel Van Goghs Sonnenblumen, oder in einer Skulptur dargestellt ist. Wenn es sich also schrecklich anfühlt, mitzuerleben, wie die Männer im Roman misshandelt werden – und ich hoffe, dass es sich schrecklich anfühlt -, dann zeigt uns das nur, dass wir eigentlich dasselbe Entsetzen empfinden sollten, wenn diese Gewalttaten gegenüber Frauen verübt werden. Während des Schreibens musste ich immer wieder an die Pilotfolge der französischen Krimiserie Engrenages denken, in der die Polizei eine Frauenleiche in einem Müllcontainer findet. Ihr Körper war schrecklich verstümmelt, man hatte ihr die Brüste abgeschnitten. Daraufhin sagt einer der Polizisten zu seinen Kollegen: „Sie wurde wegen ihrer Schönheit getötet.“ Ich fand die Beiläufigkeit, mit der er diese Worte ausspricht, abstoßend und die Szene hat mich noch lange verfolgt. Es ist nämlich in unserer Gesellschaft absolut undenkbar, eine TV-Serie zu auszustrahlen, in der eine Männerleiche mit abgetrenntem Penis gefunden wird und ein Polizist zum anderen sagt: „Ach, er wurde wegen seiner Schönheit umgebracht.“ Woran liegt das? Warum gilt Gewalt gegen Frauen als gelungener Auftakt eines Samstagabend-Krimis? Warum ist es so naheliegend, dass das Aussehen einer Frau zu einem Verbrechen an ihr führt? Warum empfinden wir das auch noch als „unterhaltsam“?

 

Welche Botschaft wollen Sie mit Die Gabe vermitteln?

Eigentlich gibt es mehrere Fragen, die der Roman aufwirft. Warum sind die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen so, wie sie sind? Sind Frauen wirklich „netter“ als Männer, oder sind sie einfach nur zu schwach, um physische Gewalt auszuüben? Wie erleben wir eine Welt, in der Männer die Opfer und Frauen die Täter sind? Und wenn wir von dieser fiktionalen Welt, in der Gewalt gegen Männer an der Tagesordnung ist, schockiert sind – warum sind wir dann nicht gleichermaßen von der Gewalt gegen Frauen in der realen Welt schockiert?

 

Steckt hinter Die Gabe die Absicht, männlichen Lesern vor Augen zu führen, was es bedeutet, ständig Angst zu haben?

In gewisser Weise spielt der Gedanke sicher eine Rolle – ich wollte beiden Geschlechtern einen Spiegel vorhalten und ihnen die Welt durch die Augen des jeweils anderen zeigen. Frauen sollten lernen, wie es sich anfühlt, zu den physisch Überlegenen zu gehören, und Männer sollten lernen, wie es ist, wenn man sich die ganze Zeit ein wenig unbehaglich fühlt.

 

Warum haben Sie eine Dystopie statt einer Utopie geschrieben? Hatten Sie keine Angst, dass Ihre Botschaft missverstanden werden könnte? Dass der Kampf für die Frauenrechte gar nutzlos erscheinen könnte? Obwohl die Forderung nach Gleichberechtigung natürlich nicht automatisch in einem Matriarchat enden muss …

Davor hatte ich tatsächlich etwas Angst, doch dann kam ich zu dem Schluss, dass ich darauf vertrauen musste, dass meine Leser klug genug sind, meine Botschaft zu verstehen. Ich würde Die Gabe auch nicht unbedingt als Dystopie bezeichnen, sondern eher als Spiegel. Die Dinge, die im Roman passieren, sind ja nicht schlimmer, als die, die jeden Tag in der realen Welt passieren. Wenn Die Gabe eine Dystopie ist, dann ist unsere Welt ebenfalls eine.

Die Frage, auf die ich gerne eine Antwort hätte, ist Folgende: Warum denken wir, dass Frauen verantwortungsbewusster mit Macht umgehen als Männer? Weil sie von „Natur aus gütiger und sanftmütiger“ sind? Wirklich? Haben Sie mal gesehen, wie Mädchen einander behandeln? Glauben wir ernsthaft, Frauen würden sich daran erinnern, wie es war, misshandelt zu werden und sich deshalb zurückhalten? Ist es nicht ebenso wahrscheinlich, dass sich Frauen daran erinnern würden, wie es war, misshandelt zu werden, und deshalb Rache nehmen wollen? Am Ende muss jede Leserin und jeder Leser seine eigene Schlussfolgerung aus Die Gabe ziehen. Ich persönlich habe keinen Grund zu denken, dass Frauen besser wären als Männer. Ich habe danach gesucht, aber ich konnte keinen finden.

 

Die Gabe ist hauptsächlich ein Gedankenspiel zum Thema Machtmissbrauch. Gab es während des Schreibens einen Moment, in dem Sie das Gefühl hatten, dass Macht selbst zum Thema des Romans wurde? Unterdrücken Männer Frauen – einfach, weil sie es können?

Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass Macht das Thema all meiner Romane ist. Die verschiedenen Formen von Macht, wie sie eingesetzt wird und wie sie Menschen verändert. Mein Vater ist Historiker, und bei uns zu Hause wurde immer viel darüber diskutiert, wie politische Systeme die Individuen, die innerhalb dieser Systeme leben, beeinflussen. Macht und Kontrolle, wer an Macht gewinnt, wer sie verliert, welche Formen von Macht jeder einzelne von uns hat und wie er sie einsetzt – das sind Fragen, die mich schon immer brennend interessiert haben. Schließlich besitzt jeder von uns eine gewisse Form von Macht, aber nicht jeder setzt sie ein, und einige Menschen haben eindeutig zu viel davon.  Ich denke, es gibt in jedem Gesellschaftssystem Menschen mit Macht, die Menschen ohne Macht unterdrücken - weil sie es eben können. Manche Menschen sind Sadisten, die Befriedigung aus ihrer Grausamkeit gegenüber anderen ziehen, aber weil Sadisten nun mal kein Tattoo auf der Stirn tragen, das sie als solche kennzeichnet, leben die Schwächeren Mitglieder einer Gesellschaft eben ständig in Angst. Dazu ist es noch nicht einmal nötig, dass jeder Mächtige, seine Macht auch missbraucht. Denken Sie zum Beispiel an ein voll besetztes Fußballstadion. Dreißigtausend Leute genießen das Spiel, aber es reicht ein Verrückter mit einem Gewehr, um das Leben aller anderen zu ruinieren.

 

Was würden Sie tun, wenn Sie „die Gabe“ hätten? Erzählen Ihnen Frauen manchmal, dass sie gerne die Macht hätten, über die die Frauen in Ihrem Roman verfügen?

Oh ja, ständig! Ich würde wahrscheinlich auch nicht Nein sagen, wenn mir „die Gabe“ auf dem Silbertablett angeboten würde, einfach nur um die Welt einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen – selbst wenn ich mir der Konsequenzen bewusst wäre. Wenn man sein ganzes Leben lang Angst hat, wäre das wirklich mal nett.

 

Frauen mit Superkräften sind uns aus Serien wie Buffy, die Vampirjägerin und Charmed bekannt. Sind diese Frauen Männern unheimlich?

Natürlich. Allerdings sind den Männern wahrscheinlich weniger die Superkräfte der Frauen unheimlich, als vielmehr der Gedanke daran, dass Frauen auch nicht „netter“ sind als sie selbst. Manche Leute in Nordamerika behaupten zum Beispiel von den Ureinwohnern, dass sie „gütiger, sanftmütiger und naturverbundener“ seien. Das kann man natürlich leicht über jemanden sagen, den man bezwungen und unterdrückt hat. Der Glaube an dieses „die würden uns niemals antun, was wir ihnen angetan haben“ verleiht den Siegern ein Gefühl von Sicherheit. Und darin liegt der Irrtum. Ich denke, Männer sollten sich nicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Ich denke, dass es sehr wohl Frauen gibt, die Männern ohne mit der Wimper zu zucken das antun würden, was manche Männer Frauen angetan haben – wenn sie die Gelegenheit dazu hätten.

 

Warum haben Sie an den Anfang und das Ende Ihres Romans einen Briefwechsel gesetzt?

Erstens, weil er mich zum Lachen gebracht hat, und ich fand, dass meine Leser am Ende dieser doch relativ brutalen Geschichte etwas zu lachen haben sollten. Zweitens, weil auch ich als Autorin Teil des Systems von Sexismus und Kontrolle bin. Kräfte, die für das Verlagswesen ebenso wie für die Medienwelt, die Öffentlichkeit und, ja, sogar für dieses Interview gelten. In den Briefen geht es darum, dass auch die Literatur zu einem System gehört, das darauf beharrt, dass „Männer x und Frauen y“ sind und dass dieses System sich selbst stützt. Und drittens sind die Briefe meine Art, vor Der Report der Magd den Hut zu ziehen.

 

Es geht in Die Gabe außerdem um das Entstehen einer neuen Religion. Trifft das Thema einen Nerv bei Ihnen?

Absolut. Ich bin in einem jüdisch-orthodoxen Haushalt aufgewachsen und habe mich schon immer für Religionen interessiert. Gerade wir in Europa sind häufig etwas selbstgefällig, was das Thema angeht. Religion spielt im Leben vieler Leute nach wie vor eine große Rolle, sehr viele sind religiös – vor allem in den USA. Menschen haben schon immer die eine oder andere Form von Glauben praktiziert, wahrscheinlich ist es eine für uns natürliche Form des Denkens. Was nicht automatisch bedeutet, dass es eine gute oder erstrebenswerte Form des Denkens ist. Aber wir müssen verstehen, wie Religionen funktionieren und weshalb sie eine so große Anziehungskraft ausüben. Nur dann können wir auch im Alltag damit umgehen.

 

Der Moment, in dem die Mädchen und jungen Frauen im Buch ihre Gabe entdecken, erinnert stark an das sexuelle Erwachen, das man in der Pubertät durchlebt. War es Ihnen wichtig, dass der „Strang“ eine sinnliche Komponente hat?

Sexualität drängt in der Pubertät an die Oberfläche. Die Veränderungen, die der Körper während dieser Zeit durchläuft, sind verschieden. Haare sprießen in unseren Achselhöhlen und in unserem Schambereich, Mädchen wachsen Brüste, Jungen entwickeln Bartwuchs, Mädchen bekommen ihre Periode, Jungen werden größer und muskulöser. Plötzlich passieren all diese Dinge auf einmal, so funktioniert der menschliche Körper nun mal. Und genau in diesem Moment – wenn Jungen stärker werden als Mädchen – fangen wir an, sexuelles Interesse zu entwickeln. Diese beiden Prozesse sind in unserem Unterbewusstsein eng miteinander verknüpft. Eine heterosexuelle Frau fühlt sich zu Männern hingezogen, und diese Anziehungskraft entsteht in dem Augenblick, in dem Männer eine körperliche Überlegenheit entwickeln. Ein heterosexueller Mann entwickelt das Bedürfnis nach Sex mit Frauen, sobald er in der Lage ist, sie physisch zu dominieren. Das ist eine schwierige Situation. Und wie ich schon sagte – nur, weil etwas natürlich ist, bedeutet das nicht, dass es auch gut oder erstrebenswert ist. Eine Geburt ist zum Beispiel die natürlichste Sache der Welt, und dennoch nehmen wir die Schmerzen und die Gefahren, die damit einhergehen, nicht einfach hin und finden sie wunderbar. Die Zwickmühle, in der sich die Menschheit befindet ist, dass das Ungleichgewicht der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sexuell aufgeladen ist. Erst wenn wir erkannt haben wieso das so ist, können wir anfangen darüber nachzudenken, ob wir den Status quo auch gut finden.

Eine Freundin schrieb mir folgende Nachricht, als sie Die Gabe las: „Warum fühle ich mich durch dieses Buch so sexy?“ Ich antwortete: „Weil du dir vorstellst, wie es wäre, auf offener Straße einfach einen Mann anzustarren, ohne Angst zu haben. Wie es wäre, zu flirten, die Kleidung zu tragen, die dir gefällt, die Befriedigung deiner Lust einzufordern, wann immer du willst – ohne an die Konsequenzen zu denken. Weil du dir vorstellst, wie es wäre, frei zu sein.“ Die Freiheit, die es uns erlaubt, Sexualität ohne Angst zu erleben. Ich denke, das ist eine völlig neue Erfahrung für viele Frauen.

 

Haben Sie sich Sorgen gemacht, Ihre männlichen Leser würden Die Gabe vielleicht nicht verstehen?

Manche Männer sehen mich an, als wäre ich ein Ungeheuer, weil ich die schrecklichen Sachen, die im Roman passieren, „erfunden“ habe. Aber die klugen Männer begreifen, dass ich mir diese Dinge nicht ausgedacht habe. Ein britischer Journalist schrieb in seiner wunderbaren Rezension, dass er die „Drosselprozedur“ völlig lächerlich fand - bis er sich an die Genitalverstümmelung erinnerte, die Mädchen und junge Frauen in vielen Ländern immer noch erleiden, und dann dachte: „Oh richtig, ich hab’s kapiert.“ Sehen Sie, die klugen Männer verstehen es.

 

Die Filmrechte an Die Gabe sind bereits verkauft. Welche Rolle spielen Sie bei der Verfilmung? Und glauben Sie, dass es irgendwann auch ein Videospiel zu Ihrem Buch geben wird?

Ich arbeite eng mit der Produktionsfirma Sister Pictures zusammen - ich schreibe sogar die Pilotfolge, bin also sehr stark in den ganzen Prozess miteingebunden. Es gibt reges Interesse an der Serie, aber wir haben uns noch nicht für einen Sender entschieden. Ein Videospiel könnte ich mir gut vorstellen, aber wie genau das funktionieren soll, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.

 

Was hat Sie das Schreiben für Videospiele über das Romanschreiben gelehrt? Könnten Sie sich auch vorstellen, auch in einer anderen literarischen Gattung zu schreiben? Was halten Sie von Fan-Fiction?

Wenn man die Storylines für Videospiele schreibt, lernt man dem Rezipienten (sei es nun der Gamer oder der Leser) Raum für seine eigene Fantasie zu lassen. Ich habe immer den Drang, mich über die Schulter des Lesers zu beugen und ihm zu erklären, was diese oder jene Stelle bedeutet. Beim Schreiben für Videospiele habe ich gemerkt, dass ein Spiel nur dann funktioniert, wenn der Gamer die Chance hat, es selbst mitzugestalten.

Ich würde mich sehr gerne mal an einem Comicbuch versuchen. Ich habe da so eine Idee für eine Geschichte in der sich Wendy aus Peter Pan mit Anthea aus Fünf Kinder und zehn Wünsche, Jane Banks aus Mary Poppins und Susan Pevensie aus Narnia zusammentut und sie gemeinsam auf Verbrecherjagd gehen. Falls ihr das lesen wollt – ruft mich an!

Jede Form des Schreibens ist in gewisser Weise auch Fan-Fiction. Jeder Text bezieht sich auf einen bereits geschriebenen Text, jede Geschichte findet Anklang in einer vorangegangenen Geschichte und setzt sie in ein neues Licht. Die Illias und Die Odyssee sind nichts anderes als von verschiedenen Autoren verfasste Fan-Fiction zu alten griechischen Mythen und Legenden. Das Neue Testament ist Fan-Fiction zum Alten Testament. Das Alte Testament ist Fan-Fiction zum phönizischen Schöpfungsmythos. Shakespeare schrieb Fan-Fiction zu Ovid, Vergil zu Homer. Warum sollte man sonst Geschichten schreiben wollen, wenn man nicht ein Fan der bereits existierenden Geschichten wäre?

 

Nach allem, was wir inzwischen über den Harvey-Weinstein-Skandal erfahren haben, würden Sie heute noch einmal denselben Roman schreiben?

Selbstverständlich. Die Nachricht über Harvey Weinstein war zwar tatsächlich eine Neuigkeit, aber die Tatsache, dass Männer in Machtpositionen ihre Macht missbrauchen, um Frauen zu belästigen, zu bedrängen und zu vergewaltigen, ist wohl kaum überraschend, oder? Ich denke, wir alle wussten darüber Bescheid.

 

Was halten Sie von #MeToo?

Ich bin froh, dass Frauen inzwischen zumindest darüber sprechen können, was ihnen zugestoßen ist. Ich hoffe, dass nicht nur berühmte Hollywood-Schauspielerinnen davon profitieren, sondern auch ganz normale Frauen. Ich hoffe, dass man einer Barkeeperin künftig mehr Glauben schenken wird, wenn sie sagt, dass ihr Boss sie begrapscht hat. Ich hoffe, dass Männer wie Dominque Strauss-Kahn nicht mehr so leicht davonkommen, wenn sie Zimmermädchen in Hotels sexuell belästigen.

Wenn es um Anschuldigungen wie „Ich habe nicht begeistert mitgemacht/ich habe mich verkrampft/habe nicht reagiert/habe nichts mehr gesagt und dir so gezeigt, dass ich nicht mit dem einverstanden bin, was du tust und trotzdem hast du weitergemacht …“ geht, denke ich, dass wir damit so umgehen sollten wie mit Alkohol am Steuer. Früher war es gesellschaftlich akzeptiert und jeder hat es getan. Heute ist das anders. Es macht wenig Sinn, Männer strafrechtlich zu verfolgen, weil sie 1982 mit einer Frau Sex hatten, die nicht begeistert bei der Sache war. Sie sollten nur wissen, dass dieses Verhalten nicht länger akzeptabel ist.

 

Steht uns ein Krieg zwischen den Geschlechtern bevor?

Das wohl eher nicht, aber ich hoffe, dass es uns gelingen wird, unser Denken in bestimmten Punkten zu verändern. Darum bemühen wir uns schließlich schon die letzten dreihundert Jahre. Wird es weiterhin Gewalt gegen Frauen geben? Wahrscheinlich schon. Werden Männer weiterhin Opfer männlicher Gewalt sein? Vermutlich. Solange Frauen nicht die Fähigkeit entwickeln, anderen Menschen mit der Kraft ihrer Gedanken Stromschläge zu verpassen, solange wird es auch keine massenhaften Gewaltausbrüche von Frauen geben.

 

Ihr Verweis auf eine „männliche Literatur“ am Ende von Die Gabe ist toll. Haben Sie es als Schriftstellerin schwerer, Karriere zu machen? Oder hat inzwischen eine Art Wandel eingesetzt? Immerhin finden mehr und mehr feministische Bücher den Weg in die Buchläden und auf die Bestsellerlisten. Würden Sie sich selbst als feministische Autorin bezeichnen?

Ich bin definitiv eine feministische Autorin. Es gibt bestimmte Formen der Frustration, denen man als Frau, die schreibt, nicht entgehen kann. Es ist für einen Verlag sehr einfach, eine „Frau, die Literatur verfasst“ in einen „Verfasser von Literatur für Frauen“ zu verwandeln – aber das sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. Die aktuelle Situation auf dem Buchmarkt sieht so aus: Frauen kaufen sowohl Bücher die von Frauen, als auch Bücher, die von Männern geschrieben wurden. Männer kaufen Bücher, die von Männern geschrieben wurden. Dessen muss sich jede Autorin bewusst sein. Die Verlage werden ihre Bücher immer so verpacken, dass sie für andere Frauen ansprechend sind. Wenn man da raus will, muss man als Autorin sicherstellen, dass jedes Cover, jedes Zitat und jede Werbeanzeige ein Buch beschreibt, von dem man sich vorstellen könnte, dass es ein Mann kauft. Frauen werden immer die Bücher anderer Frauen kaufen – auch wenn sie „männlich“ aussehen. Es sind die Männer, die wir überzeugen müssen, unsere Bücher zu kaufen. Ich hoffe, dass sich die Dinge ändern; ich vermute, es wird ein langwieriger Prozess. Aber ich bin stolz drauf, Teil dieses Wandels zu sein.

 

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich trage seit einiger Zeit die Idee für einen Roman mit mir herum. Wahrscheinlich wird die Geschichte wieder in der nahen Zukunft spielen, aber es ist noch nicht konkret. Momentan konzentriere ich mich voll und ganz auf die Verfilmung von Die Gabe – ich möchte, dass es etwas ganz Besonderes wird.

 

Naomi Alderman ist in London aufgewachsen und studierte in Oxford und an der University of East Anglia. Sie stellt bei BBC Radio 4 „Science Stories“ vor und ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Bath Spa Universität. Als Autorin wurde sie bereits mehrfach mit Preisen für junge Autoren ausgezeichnet. Naomi Alderman lebt in London.

Naomi Alderman: „Die Gabe“ Roman Aus dem Englischen von Sabine Thiele Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 464 Seiten Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

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