Genre in Cannes
Science-Fiction-Filme auf dem wichtigsten Filmfestival der Welt
Erstaunlich genrelastig war das Programm der 72. Filmfestspiele von Cannes, die gleich mit Jim Jarmuschs Zombie-Film „The Dead Don’t Die“ begannen. Wie kaum anders zu erwarten dient dem New Yorker Regisseur das Genre vor allem als Aufhänger für eine Reflektion über den moralischen Verfall der Gesellschaft, ebenso wie der Österreicherin Jessica Hausner in ihrem Drama „Little Joe“. Eine lose „Invasion der Körperfresser-Version ist dieser Film, der in einer nahen Zukunft von einer Forscherin erzählt, die an einer genetisch manipulierten Pflanze arbeitet, deren Geruch Glücksgefühle erzeugen soll. Doch ganz ausgereift scheint die Pflanze noch nicht zu sein, denn bald stellt sich heraus, dass sie all jene, die ihren Duft einatmen in seltsame Wesen verwandelt, die nur noch den Erhalt der Pflanze selbst im Sinn haben. Dass die Forscherin alleinerziehende Mutter eines Sohns namens Joe ist deutet schon an, dass es Haussner hier um den schwierigen Spagat einer modernen Frau geht, die versucht Arbeit und Familie in Einklang zu bringen. Die seltsamen Pflanzen dienen dabei vor allem als Katharsis, die zur übergreifenden Frage führen ob echte und künstlich erzeugte Gefühle unterschiedlich sind – und ob diese Unterscheidung für das Gegenüber von Belang ist.
Philosophisches Genre könnte man diese Art von Autoren-Kino nennen, im Gegensatz zu den harten Genrefilmen, die vor allem im parallel zum Festival stattfindenden Filmmarkt zu finden sind: Groß und teuer produzierte russische Science-Fiction-Kracher mit generischen Titeln wie „Project Gemini“ oder „Spaceballs“ findet man hier, mit ebenso generischen Taglines wie: Every Universe Needs A Hero.
Deutlich interessanter ist da, was sich an der Virtual Reality-Front tut, ein Feld des Kinos, das gerade auf Festivals immer prominenter präsentiert wird. Was andererseits auch auf eines der größten Probleme der Form hinweist: der Frage nach der kommerziellen Nutzung. Wo soll etwa ein Film wie „Being an Astronaut“ gezeigt werden, für den der französische Astronaut Thomas Pesquet während eines halbjährigen Aufenthalts auf der Internationalen Raumstation Aufnahmen machte. Eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der Pesquet von der Erfüllung seines Kindheitstraums berichtet, sind spektakuläre Aufnahmen vom Start der Weltraumrakete in Baikonur zu sehen, vor allem aber auch erstaunlich gute, bestechend scharfe Aufnahmen aus der Raumstation und sogar dem All.
Das inzwischen Kameras existieren, die offenbar klein genug sind, sie auch an solche abgelegenen Orte mitzunehmen, die aber dennoch gute Bilder erzeugen, erweitert die Möglichkeiten der VR natürlich enorm. Was auch in „Everest VR“ zu sehen ist, der seinem Titel alle Ehren macht: Mit einem Sherpa und dem Regisseur auf den Everest steigen. Der Neuigkeitswert des Films übersteigt zwar seine filmische Form, doch so nah wird der Normalsterbliche sicher nicht dem Gefühl kommen, auf dem höchsten Berg der Erde zu stehen. Laurie Anderson und Hsin-Chien Huang dagegen, nutzen die Moeglichkeiten der VR für viel abstraktere Filme. In „Chalkroom“ konnte man durch eine Welt der Wörter schweben, schwerlos Räume erkunden, die mit Gedichten beschriebenen Tafeln bestanden. Ihre neue Zusammenarbeit „To the Moon“ ermöglicht dagegen, das Gefühl der Schwerelosigkeit nachzuempfinden und über reale, aber surreale Variationen der Mondlandschaft zu schweben.
Surreal ist schließlich auch der schöne Lo-Fi-Sci-Fi-Film „Vivarium“, der nach einem alten lateinischen Wort für Zoo benannt ist. Das deutet schon an, was dem von Jesse Eisenberg und Imogen Poots gespieltem Paar widerfährt, das in einer an die Bilder Rene Magrittes erinnernden Reihenhaussiedlung landet – und nicht mehr rauskommt. Mit einfachsten Mitteln erzeugt Lorcan Finnegan in seinem zweiten Langfilm ein zunehmendes Gefühl der Irritation, zeigt das Leben als Hamsterrad, in dem die Menschen von tiefsitzenden Algorithmen gelenkt werden.
Großes Bild ganz oben: Jessica Hausners „Little Joe“.
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