10. Juni 2019

Das 4-D-Haus

Eine Kurzgeschichte aus Robert A. Heinleins Sammlung „Entführung in die Zukunft“

Lesezeit: 30 min.

Er gehört zu den produktivsten und auch wohl einflussreichsten Autoren der Science-Fiction: Robert A. Heinlein. Seit Jahren gibt der Heyne Verlag eine Auswahl seiner Romane und Kurzgeschichten in einer neuen Werkausgabe heraus, zum Teil auch in exklusiven digital-only E-Book-Ausgaben.

Als kleine Kostprobe präsentieren wir Ihnen hier eine Story aus dem jüngst erschienenen Erzählungsband „Entführung in die Zukunft“ (im Shop) – eine Geschichte, in der sich Heinlein auf augenzwinkernde Art den Problemen der mehrdimensionalen Geometrie (und der südkalifornischen Architektur) widmet.

*

 

Das 4-D-Haus

 

Amerikaner werden auf der ganzen Welt für verrückt gehalten.

Sie geben meistens zu, dass dieser Vorwurf berechtigt ist, verweisen aber gleichzeitig auf Kalifornien als Infektionsherd. Kalifornier behaupten, ihr schlechter Ruf beruhe nur auf dem Verhalten der Einwohner von Los Angeles County. Angelenos leugnen das meistens nicht einmal, fügen jedoch hastig hinzu: »Daran ist Hollywood schuld. Wir können nichts dafür – das wollten wir nicht; Hollywood ist einfach von selbst gewachsen.«

Robert A. Heinlein: Entführung in die ZukunftDen Bewohnern von Hollywood ist das gleichgültig; sie genießen ihre Rolle sogar. Sie fahren interessierte Besucher in den Laurel Cañon hinauf – »wo die ganz Verrückten wohnen«. Die Cañonbewohner – jene braunbeinigen Frauen und Männer in kurzen Hosen, die unablässig mit dem Bau ihrer ewig unfertigen Villen beschäftigt sind – lächeln ihrerseits über die geistlosen Kreaturen, die dort unten in der Ebene hausen, und bewahren in ihren Herzen die Erkenntnis, dass nur sie allein wissen, wie man wirklich lebt.

Lookout Mountain Avenue heißt ein Seitencañon, der vom Laurel Cañon aus in die Höhe führt. Die anderen Cañonbewohner sprechen nicht gern von ihm. Irgendwo muss es schließlich eine Grenze geben!

Hoch oben auf dem Lookout Mountain stand das Haus Nummer 8775 gegenüber der Zuflucht des Eremiten – des echten Eremiten von Hollywood. Dort wohnte Quintus Teal, graduierter Architekt.

Selbst die Architektur in Südkalifornien ist anders. Hot Dogs werden aus einer Konstruktion heraus verkauft, die wie ein Hund aussieht und auch so heißt. Eiscreme in der Waffel holt man sich bei einer gigantischen Eiscremewaffel aus Gips, und Neonröhren verkünden »Hier bekommen Sie Ihre Chilischüssel« von Dächern, deren Gebäude eindeutig Chilischüsseln sind. Benzin, Motorenöl und Straßenkarten werden unter den Flügeln dreipropelliger Transportflugzeuge verkauft, deren geprüfte WC-Kabinen – für Ihr Wohlbefinden stündlich gereinigt – direkt in der Flugzeugkabine liegen. Während den Touristen solche Dinge überraschen und amüsieren mögen, nehmen sie die örtlichen Bewohner, die trotz der berühmten kalifornischen Mittagssonne auf ihre Hüte verzichten, schlicht als gegeben hin.

Quintus Teal hielt die Bemühungen seiner Architekten-Kollegen für lau, unentschlossen und kleinmütig.

 

»Was ist ein Haus?«, wollte Teal von seinem Freund Homer Bailey wissen.

»Hmm«, meinte Bailey vorsichtig, »ich sehe Häuser ganz allgemein als eine Vorrichtung an, die vor Regen schützt.«

»Quatsch! Du bist so schlimm wie alle anderen.«

»Ich habe nicht behauptet, dass meine Definition vollständig ist …«

»Vollständig! Sie zielt nicht einmal in die richtige Richtung. Von diesem Standpunkt aus könnten wir ebenso gut in Höhlen hocken. Aber ich mache dir daraus keinen Vorwurf«, fuhr Teal großmütig fort, »du bist auch nicht schlimmer als die Idioten, die heutzutage Häuser bauen. Selbst die sogenannten Modernen – alles, was sie zustande gebracht haben, ist der Wechsel von der Hochzeitskuchenschule in die Tankstellenschule. Statt Lebkuchen klatschen sie jetzt Chrom an die Wände, aber im Herzen sind sie so konservativ und traditionsversessen wie ein Landkreisrathaus. Neutra! Schindler! Was haben diese Kerle mir voraus? Was hat ein Frank Lloyd Wright, was ich nicht habe?«

»Aufträge«, antwortete sein Freund.

»Ha? Was war das?« Teal stolperte kurz in seinem Monolog, schluckte zweimal und erholte sich dann. »Aufträge. Ganz recht. Und warum? Weil ich Häuser nicht als gepolsterte Höhlen ansehe; ich sehe sie als Wohnmaschine, als ein lebendes, dynamisches Ding, das sich den Stimmungen seiner Bewohner anpasst – nicht als einen toten, statischen, übergroßen Sarg. Warum sollten wir uns von den versteinerten Auffassungen unserer Vorfahren behindern lassen? Jeder Schwachsinnige mit dem grundlegendsten Verständnis von Geometrie kann ein gewöhnliches Haus konstruieren. Aber ist Euklids statische Geometrie die einzige Möglichkeit? Sollen wir die Picard-Vessiot-Theorie völlig außer Acht lassen? Wie steht es mit Modularsystemen – ganz zu schweigen von dem Formenreichtum der Stereochemie? Gibt es in der Architektur keinen Platz für Transformation, Homomorphologie und aktionale Strukturen?«

»Keine Ahnung«, gab Bailey zu. »Davon verstehe ich so wenig wie von der vierten Dimension.«

»Und warum sollten wir uns auf drei beschränken, anstatt … he!« Teal starrte in der Ferne. »Homer, das war eine blendende Idee! Warum auch nicht? Wenn ich mir vorstelle, welche Möglichkeiten der Artikulation und Beziehung in vier Dimensionen stecken. Was ein Haus, was ein Haus …« Er stand ganz still; nur seine blassblauen Augen blinzelten nachdenklich.

Bailey rüttelte ihn an der Schulter. »He, wach auf! Was soll der Unsinn mit vier Dimensionen? Die Zeit ist eine vierte Dimension, aber in die kannst du keine Nägel schlagen.«

Teal schüttelte ihn ab. »Natürlich, natürlich. Die Zeit ist eine vierte Dimension, aber ich denke an eine räumliche vierte Dimension wie Länge, Höhe und Tiefe. Was Wirtschaftlichkeit und Materialeinsparung angeht, wäre sie unschlagbar. Gar nicht zu sprechen vom Grundriss – man könnte ein Acht-Zimmer-Haus auf derselben Fläche wie heute ein Ein-Zimmer-Haus bauen. Wie ein Tesserakt …«

»Was ist ein Tesserakt?«

»Hast du in der Schule geschlafen? Ein Tesserakt ist ein Hyperwürfel, ein quadratischer Körper mit vier Dimensionen, wie ein Würfel drei und ein Quadrat zwei haben. Pass auf, ich zeige dir, was ich meine.« Teal lief in die Küche seines Apartments und kam mit einer Schachtel Zahnstocher zurück, die er auf den Tisch leerte, nachdem er Gläser und eine Ginflasche zur Seite geschoben habe. »Jetzt brauche ich Plastilin … ich habe letzte Woche noch welches hier gehabt.« Er zog eine Schreibtischschublade in einer Ecke seines Esszimmers auf und kam mit einem Klumpen öliger Modellierpaste zurück. »Ah, bei mir geht eben nichts verloren!«

»Was hast du vor?«

»Das wirst du gleich sehen.« Teal machte erbsengroße Plastilinkugeln und verband mit ihnen vier Zahnstocher zu einem Quadrat. »Da! Das ist ein Quadrat!«

»Offensichtlich.«

»Ein zweites Quadrat und vier weitere Zahnstocher ergeben einen Würfel.« Die Plastilinkugeln hielten die Ecken zusammen. »Jetzt machen wir einen zweiten Würfel wie den ersten, und die beiden bilden zwei Seiten des Tesserakts.«

Bailey fing an, ihm beim Formen der Kugeln für den zweiten Würfel zu helfen, ließ sich aber von dem sanften Gefühl der Knete ablenken und bearbeitete und formte ihn schon bald mit seinen Fingern.

»Schau«, sagte er, »Gypsy Rose Lee.«

»Sieht mir eher nach Gargantua aus; sie sollte dich verklagen. Jetzt pass auf, Homer! Man öffnet eine Ecke des ersten Würfels, verbindet ihn dort mit dem zweiten und schließt die Ecke wieder. Dann nimmt man weitere acht Zahnstocher und verbindet den Boden des zweiten. Die obere Fläche des ersten wird auf gleiche Weise mit der oberen des zweiten verbunden.« Während er redete, arbeitete er rasch weiter.

»Was soll das denn sein?«, erkundigte Bailey sich.

»Das ist ein Tesserakt – acht Würfel bilden die Seiten eines vierdimensionalen Hyperwürfels.«

»Sieht mir mehr nach einer Katzenwiege aus. Außerdem sehe ich nur zwei Würfel. Wo sind die anderen sechs?«

»Hast du keine Fantasie, Mann? Sieh dir die oberen Flächen des ersten und zweiten Würfels an – sie bilden den dritten. Dann die beiden Bodenflächen, die Vorderseiten, hinten, links und rechts – insgesamt acht Würfel.« Er zeigte sie Bailey.

»Ja, ich sehe sie. Aber das sind keine Würfel; das sind, wie heißt das … Prismen. Sie sind nicht quadratisch, sie sind schräg.«

»Das liegt nur an der Perspektive, Homer. Wenn du einen Würfel zeichnest, sind die Seitenflächen auch verschoben, nicht wahr? Eine vierdimensionale Figur sieht in der dritten Dimension natürlich verzerrt aus. Aber das sind trotzdem alles Würfel.«

»Vielleicht für dich – aber für mich sind sie schief.«

Teal überhörte diesen Einwand. »Stell dir das als Gerüst eines Achtzimmerhauses vor, Homer. Im Erdgeschoss haben wir einen Raum – Heizung, Garage und so weiter. Im nächsten Geschoss sind es sechs: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Esszimmer, Bad und dergleichen. Und ganz oben liegt dein Arbeitszimmer mit Fenstern an allen vier Seiten. Na, wie gefällt dir das?«

»Ich glaube, dass die Badewanne aus der Decke im Wohnzimmer hängt. Diese Räume sind wie Krakenarme ineinander verschlungen.«

»Nur in der Perspektive, nur in der Perspektive. Hier, ich zeige es dir anders.« Diesmal baute Teal einen Würfel aus Zahnstochern und einen zweiten aus halben Zahnstochern, den er mithilfe von abgebrochenen Zahnstochern genau in der Mitte des ersten befestigte. »Der große Würfel ist das Erdgeschoss, der kleine stellt deine Arbeitsräume dar. Die sechs übrigen sind Wohnräume. Siehst du das?«

Bailey studierte die Anordnung und schüttelte den Kopf. »Ich sehe nur einen großen und einen kleinen Würfel. Die anderen Körper sind diesmal pyramidenförmig – aber trotzdem keine Würfel.«

»Weil du sie in einer anderen Perspektive siehst! Siehst du das nicht?«

»Hmm, vielleicht. Aber dieser Raum hier ist völlig eingeschlossen. Sagtest du nicht, er solle vier Fenster haben?«

»Die hat er auch – er wirkt nur eingeschlossen. In einem Tesserakthaus liegt jedes Zimmer an der Außenseite, aber jede Wand dient zwei Räumen, und ein Achtzimmerhaus braucht nur ein Fundament in der Größe eines Zimmers. Das ist revolutionär!«

»Um es milde auszudrücken. Du bist verrückt, mein Lieber; so ein Haus kann man nicht bauen. Dieses Zimmer liegt in der Mitte – und dort bleibt es auch.«

Teal beherrschte sich mühsam. »Leute wie du verhindern eine Weiterentwicklung der Architektur. Wie viele Seiten hat ein Würfel?«

»Sechs.«

»Wie viele davon liegen innen?«

»Na, gar keine. Sie liegen alle außen.«

»Gut. Hör zu – ein Tesserakt hat acht quadratische Seiten, die alle außen liegen. Ich klappe diesen Tesserakt jetzt auseinander, ganz wie man einen Papierwürfel auseinanderfalten kann, bis er flach ist. Dann kannst du alle acht Würfel sehen.« Teal baute rasch einen Körper aus vier übereinanderstehenden Würfeln und fügte an jeder Seite des zweiten Würfels einen weiteren Würfel an. Der Bau schwankte etwas, weil die Plastilinkugeln nachgaben, aber er blieb stehen. Acht Würfel in der Form eines umgedrehten Kreuzes mit zwei Querarmen in alle vier Richtungen. »Ist dir die Anordnung jetzt klar? Alles ruht auf dem untersten Raum, dann kommen die sechs Wohnräume – und hier ganz oben ist dein Arbeitszimmer.«

Baileys Blick ließ mehr Anerkennung als bei den letzten Konstruktionen erkennen. »Das verstehe ich wenigstens. Ist das auch ein Tesserakt?«

»Das ist ein in drei Dimensionen aufgeklappter Tesserakt. Um ihn wiederherzustellen, steckt man den obersten Würfel in den unteren und klappt die seitlichen ein. Das alles geschieht natürlich in der vierten Dimension; man verändert die Würfel nicht und schiebt sie keineswegs nur ineinander.«

Bailey betrachtete die wacklige Konstruktion eingehend. »Hör zu«, meinte er schließlich, »warum lässt du die vierte Dimension nicht einfach sausen – mit der kommst du ohnehin nicht zurecht – und baust ein Haus wie das hier?«

»Was soll das heißen, ich komme nicht mit ihr zurecht? Das ist nur eine simple mathematische Aufgabe …«

»Ruhig Blut, mein Freund! Die Aufgabe mag simpel sein, aber ein vierdimensionales Haus würde nie genehmigt. Es gibt keine vierte Dimension – vergiss es! So ein Haus wie dieses hätte andererseits unbestreitbare Vorteile.«

Teal studierte das Modell. »Hmm, vielleicht hast du recht. Die Zahl der Räume und die Fundamentgröße bleiben gleich. Die außen liegenden Zimmer lassen sich so anordnen, dass sie möglichst viel Sonne bekommen. Die Mittelachse ist für die Zentralheizung ideal. Wir legen das Esszimmer nach Nordosten und die Küche nach Südwesten – und alle Räume bekommen große Fenster. Okay, Homer, wird gemacht! Wo soll das Haus gebaut werden?«

»Augenblick! Ich habe nicht gesagt, dass du es für mich bauen sollst …«

»Natürlich! Für wen sonst? Deine Frau will doch ein neues Haus – bitte sehr!«

»Aber sie will ein Haus im Kolonialstil.«

»Das bildet sie sich nur ein. Frauen wissen nicht, was sie wollen.«

»Meine Frau schon.«

»Diese Flausen hat ihr bloß irgendein altmodischer Architekt in den Kopf gesetzt. Sie fährt einen neuen Wagen und kleidet sich modern, nicht wahr? Warum sollte sie dann in einem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert wohnen wollen? Dieses Haus wird neuer als selbst das Modell aus dieser Saison sein. Das wird die Sensation des Jahres!«

»Hmm … ich muss aber erst mit ihr reden.«

»Nichts musst du! Das wird eine Überraschung für sie. Trink noch einen Schluck.«

»Ich kann ohnehin nichts entscheiden. Meine Frau und ich fahren morgen nach Bakersfield. Dort beginnen neue Bohrungen, weißt du.«

»Das ist die beste Gelegenheit! Wir überraschen sie bei eurer Rückkehr mit dem Haus. Schreib gleich einen Scheck aus – dann bist du alle Sorgen los.«

»Ich sollte sie wirklich erst fragen. Das passt ihr bestimmt nicht, wenn ich so etwas ohne sie entscheide.«

»Sag mal, wer hat eigentlich in deiner Familie die Hosen an?«

Der Scheck wurde ausgestellt, bevor die nächste Flasche Gin geleert war.

 

In Südkalifornien geht alles schnell. Gewöhnliche Häuser werden innerhalb weniger Wochen gebaut, und Teal brachte es fertig, die Arbeiter so anzutreiben, dass das Tesserakt-Haus in Tagen statt Wochen in die Höhe wuchs, wo sich sein kreuzförmiger zweiter Stock den vier Himmelsrichtungen entgegenreckte. Zuerst gab es wegen der hinausragenden Räume Schwierigkeiten mit der Baugenehmigung, aber Teal überwand sie durch massige Stahlträger und massive Bestechung der Verantwortlichen.

Einen Tag nach der Rückkehr der Baileys erschien Teal wie ausgemacht vor ihrer Villa und betätigte nachdrücklich die Mehrklanghupe seines Wagens. Bailey riss die Haustür auf. »Warum klingelst du nicht?«

»Zu langsam«, antwortete Teal unbekümmert. »Ich bin ein Mann der Tat. Ist deine Frau fertig? Ah, guten Morgen, Mrs. Bailey! Steigen Sie ein, wir haben eine Überraschung für Sie!«

»Du kennst doch Teal, Liebste«, warf Bailey unbehaglich ein.

Mrs. Bailey rümpfte die Nase. »Allerdings! Wir fahren in unserem Wagen, Homer.«

»Natürlich, Liebste.«

»Prima Idee«, stimmte Teal zu, »damit kommen wir schneller voran. Am besten fahre ich selbst; ich kenne den Weg.« Er nahm Bailey die Schlüssel ab und setzte sich ans Steuer, bevor Mrs. Bailey sich von ihrer Überraschung erholt hatte.

»Ich bin ein völlig sicherer Fahrer«, erklärte Teal Mrs. Bailey und drehte sich nach ihr um, während er in Richtung Sunset Boulevard raste. »Es geht um Kraft und Kontrolle, ein dynamischer Prozess, genau mein Ding – ich habe noch keinen schweren Unfall gehabt.«

»Sie haben bestimmt nur einen«, entgegnete sie bissig. »Wollen Sie bitte nach vorn sehen!«

Teal wollte ihr erklären, dass die Verkehrslage weniger nach einem aufmerksamen Auge verlange als nach einer intuitiven Integration von Spuren, Geschwindigkeiten und Wahrscheinlichkeiten, aber Bailey unterbrach ihn. »Wo ist das Haus, Quintus?«

»Haus?«, fragte Mrs. Bailey misstrauisch. »Was soll das, Homer? Hast du mir etwas verschwiegen?«

»Ganz recht, es handelt sich um ein Haus, meine liebe Mrs. Bailey«, warf Teal diplomatisch ein. »Eine Überraschung, die Ihr Mann sich ausgedacht hat! Warten Sie nur, bis Sie es selbst sehen …«

»Das werde ich wohl«, stimmte sie grimmig zu. »In welchem Stil ist es gebaut?«

»Dieses Haus verkörpert einen völlig neuen Stil. Nie da gewesen, fortschrittlicher als das Fernsehen, neuer als die nächste Woche! Man muss es sehen, um diesen Fortschritt richtig würdigen zu können. Da fällt mir übrigens noch etwas ein«, fuhr er rasch fort, ohne eine Reaktion abzuwarten, »haben Sie heute Nacht das Erdbeben gespürt?«

»Erdbeben? Welches Erdbeben? Homer, hat es ein Erdbeben gegeben?«

»Nur einen kleinen Erdstoß«, fügte Teal beruhigend hinzu. »Gegen zwei Uhr morgens. Wenn ich nicht wach gewesen wäre, hätte ich gar nichts gemerkt.«

Mrs. Bailey fuhr zusammen. »Entsetzlich! Hast du das gehört, Homer? Wir hätten in unseren Betten umkommen können, ohne etwas davon zu merken. Warum habe ich mich nur dazu überreden lassen, Iowa zu verlassen?«

»Aber du wolltest doch nach Kalifornien, Liebste«, wandte Bailey hoffnungslos ein. »In Des Moines hat es dir nicht mehr gefallen.«

»Davon brauchen wir jetzt nicht zu sprechen«, erklärte sie ihm. »Du bist ein Mann; du hättest solche Dinge voraussehen müssen. Erdbeben!«

»Davor brauchen Sie in Ihrem neuen Haus keine Angst zu haben, Mrs. Bailey«, warf Teal ein. »Es ist absolut erdbebensicher! Jeder Teil des Hauses ist in perfekter Dynamik auf das andere abgestimmt.«

»Na, das hoffe ich sehr. Wo steht es überhaupt?«

»Gleich um die nächste Ecke. Hier ist schon die Ankündigung.« Teal zeigte auf eine große, pfeilförmige Reklametafel, wie sie Immobilienmakler gerne aufstellen, mit ungewöhnlich großer Schrift:

DAS HAUS DER ZUKUNFT!
KOLOSSAL – NEU – ERSTAUNLICH REVOLUTIONÄR

Sehen Sie, wie Ihre Enkel leben werden!

Q. Teal, Architekt

»Die Tafel verschwindet natürlich, bevor Sie einziehen«, fügte er hastig hinzu, als er Mrs. Baileys Gesichtsausdruck sah. Er bog um die Ecke und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haus der Zukunft. »Voilà!« Er beobachtete die Reaktion der Baileys.

Bailey starrte ungläubig aus dem Fenster; seine Frau verzog angewidert das Gesicht. Sie sahen einen einfachen Würfel mit Fenstern und Türen, sonst jedoch keinen hervorstechenden architektonischen Merkmalen, abgesehen von einigen komplizierten mathematischen Symbolen, mit denen die Fassade verziert war. »Was soll das, Teal?«, fragte Bailey langsam.

Teal drehte sich nach dem Haus um. Der seltsame Turm war verschwunden. Die sieben Räume über dem Erdgeschoss fehlten. Nur der unterste ruhte noch auf seinem Fundament. »Verdammt noch mal!«, rief Teal aus. »Man hat mich bestohlen!«

Er rannte los.

Es half nichts. Der Anblick blieb auf allen Seiten gleich: Die anderen sieben Räume waren verschwunden. Bailey holte ihn ein und hielt ihn fest. »Erklär mir das! Was soll das heißen, du bist bestohlen worden? Warum hast du nicht gebaut, was wir vereinbart hatten?«

»Das habe ich ja getan! Ein Achtzimmerhaus als aufgeklappter Tesserakt. Sabotage, das ist es! Eifersucht! Meine sauberen Kollegen wollten sich die Konkurrenz vom Hals schaffen!«

»Wann warst du zuletzt hier?«

»Gestern Nachmittag.«

»Und da war noch alles in Ordnung?«

»Ja. Die Gärtner waren fast fertig.«

Bailey betrachtete den wunderbar angelegten Garten. »Ich verstehe nicht, wie sieben Räume demontiert und weggeschafft worden sein sollen, ohne dass der Garten darunter gelitten hat.«

Teal sah sich um. »Sieht nicht danach aus, was? Das begreife ich auch nicht.«

Mrs. Bailey kam heran. »Na? Also? Soll ich mich etwa allein amüsieren? Warum sehen wir es uns nicht wenigstens an? Aber ich warne dich, Homer – es wird mir nicht gefallen.«

»Warum nicht«, stimmte Teal zu und holte die Schlüssel aus der Tasche. »Vielleicht entdecken wir wenigstens die Spuren der Täter.«

Die große Diele im Erdgeschoss schien völlig in Ordnung zu sein; die Schiebetüren zur Garage standen offen, so, dass der ganze Raum zu überblicken war. »Scheint in Ordnung zu sein«, stellte Bailey fest. »Vielleicht sehen wir vom Dach aus, was passiert ist. Wo ist die Treppe? Oder haben sie die auch gestohlen?«

»Nein, nein«, versicherte Teal ihm. »Sehen Sie.« Er drückte auf einen Knopf unter dem Lichtschalter; ein Deckenpanel glitt zurück, und eine schmale, elegante Treppe sank lautlos von der Decke herab – eine silberglänzende Aluminiumkonstruktion mit durchscheinenden Plastikstufen und -geländern. Teal lächelte triumphierend wie ein Schuljunge, dem gerade ein Kartentrick geglückt war, während Mrs. Bailey sichtlich auftaute.

»Nicht übel«, gab Bailey zu. »Aber sie scheint nirgends hinzuführen …«

»Oh, diesbezüglich …« Teal folgte seinem Blick. »Die Abdeckung hebt sich automatisch, sobald man sich ihr nähert. Offene Treppenhäuser sind ein Anachronismus. Kommen Sie!« Er hatte recht. Die Decke über ihnen öffnete sich tatsächlich geräuschlos und ließ sie die nächste Ebene erreichen, die jedoch wider Erwarten nicht aus dem Dach des einzelnen Raumes gebildet wurde. Sie standen in der Mitte eines der fünf Zimmer, die das zweite Geschoss der ursprünglichen Anlage bildeten.

Teal war zum ersten Mal in seinem Leben sprachlos. Bailey folgte seinem Beispiel und kaute auf seiner Zigarre herum. Vor ihnen, durch einen offenen Bogen und einen durchsichtigen Raumteiler erreichbar, lag die Küche – ein Meisterwerk der Innenarchitektur, der Traum jedes Chefkochs: schimmerndes Metall, durchgezogene Küchentheke, indirekte Beleuchtung, funktionales Arrangement. Links von ihnen erwartete das vornehm, aber trotzdem behaglich möblierte Speisezimmer die ersten Gäste.

Noch bevor Teal den Kopf drehte, wusste er genau, dass der Salon und das Wohnzimmer dort lagen, wo sie sich eigentlich gar nicht befinden konnten.

»Wirklich hübsch, das muss ich zugeben«, stellte Mrs. Bailey anerkennend fest, »und die Küche ist geradezu fantastisch – obwohl ich nie gedacht hätte, dass in einem Haus dieser Größe im ersten Stock so viel Platz sein würde. Aber manche Änderungen sind natürlich unvermeidlich. Wenn wir das Sofa hierher stellen, damit die …«

»Halt die Klappe, Mathilda«, unterbrach Bailey sie grob. »Was hältst du davon, Teal?«

»Homer Bailey! Wie kommst du dazu, mir …«

»Halt die Klappe, habe ich gesagt. Na, Teal?«

Der Architekt zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Das sage ich lieber noch nicht. Kommt, wir gehen weiter hinauf.«

»Wie denn?«

»So.« Teal drückte auf einen Knopf; eine Verwandte der Feentreppe aus dem unteren Stockwerk in dunkleren Tönen senkte sich herab. Sie stiegen hinauf, ohne auf Mrs. Bailey zu achten, die ihnen schimpfend folgte, und befanden sich im Schlafzimmer. Auch hier waren die Vorhänge wie im ersten Stock geschlossen, aber die sanfte Beleuchtung wurde automatisch eingeschaltet. Teal drückte sofort auf den Knopf für die nächste Treppe, und sie eilten in das Arbeitszimmer hinauf.

»Hör zu«, schlug Bailey vor, als er Atem geschöpft hatte. »Können wir aufs Dach über diesem Raum hinaus? Dann könnten wir uns umsehen.«

»Klar – dort oben befindet sich eine Beobachtungsplattform.« Sie stiegen die vierte Treppe hinauf, aber als die Abdeckung sich hob, um sie die nächste Ebene betreten zu lassen, standen sie nicht auf dem Dach – sondern in dem Raum im Erdgeschoss, durch den sie das Haus betreten hatten.

Mr. Bailey wurde blass. »Alle Heiligen, helft mir!«, rief er. »In diesem Haus spukt es. Komm, wir bleiben keine Sekunde länger hier!« Er zog seine Frau hinter sich her, riss die Haustür auf und stürmte hinaus.

Teal war zu beschäftigt, um auf ihren Abgang zu achten. Er überlegte noch, ob er seinen fünf Sinnen trauen sollte, als er irgendwo über sich Rufe hörte. Er ließ die Treppe herab und eilte nach oben. Bailey stand im mittleren Raum über seine Frau gebeugt, die ohnmächtig geworden war. Teal lief zur Hausbar und kam mit einem Glas Kognak zurück, das er Bailey gab. »Da – das hilft bestimmt.«

Bailey trank den Kognak. »Der war für deine Frau«, sagte Teal.

»Schon gut«, knurrte Bailey. »Hol ihr noch einen.« Teal war vorsichtig genug, erst selbst einen zu kippen. Als er mit dem Glas zurückkam, schlug Mrs. Bailey eben die Augen auf.

»Hier, Mrs. Bailey«, beruhigte er sie. »Das hilft Ihnen auf die Beine.«

»Ich trinke nie Alkohol«, protestierte sie – und leerte das Glas in einem Zug.

»Was ist eigentlich passiert?«, erkundigte Teal sich. »Ich dachte, ihr wärt gegangen.«

»Das wollten wir auch! Wir sind aus der Haustür getreten und waren plötzlich hier oben.«

»Unmöglich! Hm, Augenblick.« Teal ging in den Salon. Dort stand das große Fenster offen. Er sah vorsichtig hinaus und hatte nicht die kalifornische Landschaft, sondern den Raum im Erdgeschoss vor sich – oder eine täuschend ähnliche Nachbildung. Er ging schweigend zur Treppe. Der Raum lag unter ihm. Irgendwie brachte das Erdgeschoss es fertig, gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten auf zwei Ebenen zu sein.

Teal kam in den mittleren Raum zurück, ließ sich den Baileys gegenüber in einen Sessel fallen und zog die knochigen Knie hoch. »Homer«, begann er, »weißt du, was passiert ist?«

»Nein, das weiß ich nicht – aber wenn ich es nicht bald erfahre, passiert hier ein Unglück!«

»Homer, meine Theorien sind bestätigt. Dieses Haus ist ein echter Tesserakt.«

»Wovon redet er, Homer?«

»Warte, Mathilda – nein, das ist lächerlich, Teal. Du hast dir diesen Streich ausgedacht, um uns zu ängstigen. Aber das lassen wir uns nicht gefallen, verstehst du? Wir wollen hinaus!«

»Du kannst nur für dich sprechen, Homer«, warf seine Frau ein. »Ich hatte keine Angst; mir war nur ein bisschen komisch. Das liegt in der Familie – wir sind alle zart und empfindlich. Was ist also mit diesem Tessy-Ding, Mr. Teal? Los, reden Sie schon!«

Teal erklärte ihr, so gut er das wegen zahlreicher Unterbrechungen konnte, auf welcher Theorie die Konstruktion des Hauses beruhte. »Wie ich jetzt sehe, Mrs. Bailey«, schloss er, »war dieses Haus, das in drei Dimensionen völlig stabil ist, in vier Dimensionen bedauerlicherweise labil. Ich hatte es als aufgeklappten Tesserakt gebaut, aber irgendein heftiger Stoß hat bewirkt, dass es in seine gewöhnliche Form zusammenstürzte – es ist zusammengeklappt.« Er schnalzte plötzlich mit den Fingern. »Ich hab’s – das Erdbeben!«

»Erdbeben?«

»Ja, ja, der kleine Erdstoß von heute Nacht. Vom vierdimensionalen Standpunkt aus war das Haus so labil wie eine Ebene, die auf der Kante steht. Ein Stoß genügte, um es zu einer stabilen vierdimensionalen Figur zusammenfallen zu lassen.«

»Ich dachte, Sie hätten vorhin erwähnt, wie sicher dieses Haus ist.«

»Das ist es auch – dreidimensional.«

»Ich nenne ein Haus aber nicht sicher«, stellte Bailey aufgebracht fest, »das beim ersten Stoß umfällt.«

»Sieh dich doch um!«, protestierte Teal. »Nichts ist verändert, kein Stück Porzellan ist angeknackst. Die Rotation durch die vierte Dimension beeinflusst eine dreidimensionale Konfiguration genauso wenig, wie man Buchstaben von einem Blatt Papier schütteln kann. Ihr hättet nichts davon gemerkt, wenn ihr hier geschlafen hättet.«

»Das fürchte ich eben! Ist deinem großartigen Intellekt übrigens schon eingefallen, wie wir aus dieser Falle wieder entkommen?«

»Was? Oh, ganz recht. Ihr wolltet gehen und seid leider hier oben gelandet, nicht wahr? Aber es gibt bestimmt eine Möglichkeit – wir sind hereingekommen, wir können hinaus. Ich werde es gleich versuchen.« Er eilte die Treppe hinab, riss die Haustür auf, trat über die Schwelle – und stand den Baileys im ersten Stock des Hauses gegenüber. »Hmm, das scheint ein gewisses Problem zu sein«, gab er zu. »Aber wir können noch immer durch ein Fenster hinaus.« Er trat an die großen Fenstertüren des Salons und zog den Vorhang zurück. Er hielt plötzlich inne. »Hmm«, meinte er dann, »interessant, sehr interessant.«

»Warum?«, fragte Bailey und kam näher.

»Darum!« Das Fenster führte ins Speisezimmer statt ins Freie. Bailey ging rückwärts bis zu der Ecke, wo Salon und Speisezimmer in einem Winkel von neunzig Grad an den zentralen Raum anstießen.

»Aber das ist doch unmöglich!«, protestierte er. »Das Fenster ist fünf, sechs Meter vom Speisezimmer entfernt.«

»Nicht in einem Tesserakt«, verbesserte Teal ihn. »Pass auf!« Er öffnete das Fenster, trat hindurch und sprach dabei über seine Schulter hinweg mit Bailey.

Von den Baileys aus verschwand er einfach.

Aber nicht von seinem eigenen Standpunkt aus. Er brauchte einige Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. Dann arbeitete er sich mühsam aus einem Rosenbeet hervor, in dem er sich beinahe unrettbar verheddert hatte, fasste den Entschluss, nie wieder Gärten mit Dornensträuchern anlegen zu lassen, und sah sich um.

Er befand sich außerhalb des Hauses. Die massigen Mauern des Erdgeschosses ragten neben ihm auf. Offenbar war er vom Dach gefallen.

Teal lief ums Haus, riss die Tür auf und rannte in den ersten Stock. »Homer!«, rief er. »Mrs. Bailey! Ich habe einen Ausgang entdeckt!«

Bailey wirkte eher wütend als erleichtert. »Wo hast du gesteckt?«, wollte er wissen.

»Ich bin hinausgefallen. Ich war draußen. Das könnt ihr auch – ihr braucht nur durch diese Fenstertür zu gehen. Aber passt auf die Rosen auf. Wir sollten wohl erst einen weiteren Treppenaufgang bauen.«

»Wie bist du wieder hereingekommen?«

»Durch die Haustür.«

»Dann gehen wir dort hinaus. Komm, Liebste.« Bailey setzte sich seinen Hut auf und marschierte mit seiner Frau die Treppe hinunter.

Teal erwartete sie im Salon. »Ich hätte euch sagen können, dass das nicht klappen würde«, verkündete er. »Aber ich habe mir die Sache inzwischen überlegt: Wie ich sehe, hat ein dreidimensionaler Mensch in einem vierdimensionalen Haus jeweils zwei Möglichkeiten zur Wahl, wenn er eine Verbindungslinie wie eine Mauer oder eine Schwelle überquert. Normalerweise biegt er im rechten Winkel durch die vierte Dimension ab, obwohl er das in der dritten nicht spürt. Seht her!« Er trat durch die gleiche Fenstertür wie vorhin. Aber diesmal fiel er nicht, sondern tauchte im Speisezimmer auf.

»Ich habe auf den Weg geachtet und bin dort angekommen, wo ich wollte.« Teal kam in den Salon zurück. »Vorher habe ich nicht aufgepasst und bin im Normalraum aus dem Haus gefallen. Das scheint wohl eine Frage der unbewussten Orientierung zu sein.«

»Ich möchte aber nicht von unbewusster Orientierung abhängig sein, wenn ich die Morgenzeitung hereinhole!«

»Das geht später ganz automatisch«, beruhigte Teal ihn. »Nun also, wenn Sie das Haus verlassen wollen, Mrs. Bailey, brauchen Sie sich nur mit dem Rücken zu diesem Fenster zu stellen und rückwärts hinauszuspringen. Ich bin davon überzeugt, dass Sie im Garten landen werden.«

Mrs. Baileys Gesichtsausdruck zeigte, was sie von Teal und seinen Ideen hielt. »Homer Bailey«, keifte sie, »willst du etwa zulassen, dass mich dieser Mensch hier stehen lässt und …«

»Aber Mrs. Bailey«, versuchte Teal zu erklären, »wir können Sie natürlich auch anseilen und Sie ganz sanft …«

»Schlag dir das aus dem Kopf, Teal«, unterbrach Bailey ihn. »Wir müssen eine bessere Möglichkeit finden. Meine Frau und ich springen nicht aus Fenstern.«

Teal war einen Moment lang perplex, bis Bailey die entstandene Stille unterbrach. »Hast du das gehört, Teal?«

»Was?«

»Irgendwo hat jemand gesprochen. Glaubst du, dass andere Leute im Haus sind und uns Streiche spielen?«

»Ausgeschlossen! Ich habe den einzigen Schlüssel.«

»Aber ich bin davon überzeugt«, warf Mrs. Bailey ein. »Ich habe die Stimmen gleich beim Eintreten gehört. Homer, das halte ich nicht länger aus. Tu endlich etwas!«

»Nur keine Aufregung, Mrs. Bailey«, beschwichtigte Teal sie. »Hier kann zwar sonst niemand sein, aber ich sehe trotzdem gleich nach. Homer, du bleibst bei deiner Frau und beobachtest die Zimmer im ersten Stock.« Er ging aus dem Salon ins Erdgeschoss und von dort aus durch die Küche ins Schlafzimmer weiter. Dadurch kam er auf geradem Wege in den Salon zurück – er war immer geradeaus gegangen und befand sich nun wieder am Ausgangspunkt.

»Niemand da«, berichtete er. »Ich habe alle Fenster und Türen geöffnet – nur das hier nicht.« Er trat an das Fenster, das der Fenstertür, durch die er vorhin gefallen war, genau gegenüberlag, und zog den Vorhang zurück.

Teal sah vier Räume weiter einen Mann stehen, der ihm den Rücken zukehrte. Er riss das Fenster auf, kletterte hindurch und rief dabei: »Da ist er! Haltet den Dieb!«

Der Mann schien ihn gehört zu haben; er floh eilig. Teal verfolgte ihn durch Wohnzimmer, Küche, Speisezimmer, Salon, durch einen Raum nach dem anderen, ohne ihn, seiner größten Anstrengung zum Trotz, einholen zu können. Der Vorsprung des anderen blieb stets bei vier Räumen.

Er sah den Verfolgten ungelenk durch ein Fenster klettern, wobei er seinen Hut verlor. Als er diese Stelle erreichte, hob er die Kopfbedeckung auf und war froh, endlich Atem schöpfen zu können. Er stand wieder im Salon.

»Der Kerl ist mir entwischt«, gab er zu. »Aber ich habe seinen Hut. Vielleicht können wir ihn dadurch identifizieren.«

Bailey betrachtete den Hut, schnaubte verächtlich und setzte ihn Teal auf. Der Hut passte. Teal nahm ihn verwirrt ab, sah hinein und entdeckte das Monogramm Q. T. auf dem Schweißband. Der Hut gehörte ihm.

Langsam ging Teal ein Licht auf. Er trat wieder an das Fenster, durch das er den mysteriösen Fremden verfolgt hatte, sah in die gleiche Richtung und schien dabei Winksignale mit den Armen zu geben. »Was tust du da?«, wollte Bailey wissen.

»Seht euch das an!« Die Baileys kamen heran und folgten seinem Blick. Vier Räume weiter sahen sie drei Gestalten von hinten: zwei Männer und eine Frau. Der größere hagere Mann wedelte komisch mit den Armen.

Mrs. Bailey kreischte und fiel wieder in Ohnmacht.

 

Einige Minuten später, als Mrs. Bailey wiederbelebt und beruhigt worden war, diskutierten Bailey und Teal die Lage. »Ich möchte dir jetzt keine Vorwürfe machen, Teal«, sagte Bailey. »Sie wären zwecklos, und ich bin davon überzeugt, dass du das alles nicht vorausgesehen hast. Aber du siehst doch ein, wie ernst unsere Situation ist? Wie sollen wir wieder hinauskommen? Es sieht ganz danach aus, als müssten wir hier verhungern. Jeder Raum führt in einen anderen.«

»Du bist zu pessimistisch, Homer. Ich war doch schon einmal im Freien.«

»Ja, aber du kannst den Trick nicht wiederholen!«

»Wie dem auch sei, wir haben es noch nicht mit allen Zimmern versucht. Ich denke dabei auch an das Arbeitszimmer …«

»Das Arbeitszimmer, richtig. Wir sind bei unserem ersten Besuch nur hindurchgegangen. Glaubst du, dass wir dort durch die Fenster hinauskönnen?«

»Wer weiß? Mathematisch müssten sie zu den vier Nebenräumen dieses Stockwerks führen. Aber wir haben die Vorhänge noch nicht geöffnet; vielleicht sollten wir das einmal tun.«

»Meinetwegen. Liebste, du bleibst am besten hier und ruhst dich aus, während wir …«

»Ich soll hier allein bleiben? Kommt nicht infrage!« Mrs. Bailey war mit einem Mal wieder auf den Beinen.

Sie gingen ins Arbeitszimmer hinauf. »Dies ist der Raum im Inneren, richtig, Teal?«, fragte Bailey auf dem Weg durchs Schlafzimmer hinauf ins Arbeitszimmer. »Also der kleine Raum in deinem Diagramm, der in der Mitte des großen Würfels hing.«

»Richtig«, bestätigte Teal. »Schön, sehen wir also hinaus. Theoretisch müssten wir die Küche vor uns haben.« Er zog an der Schnur; der Vorhang glitt zur Seite.

Das Fenster führte nicht in die Küche hinaus. Ein Blick genügte, um sie schwindlig werden zu lassen. Unwillkürlich fielen sie alle drei gleichzeitig zu Boden und hielten sich am Teppich fest. »Mach es zu! Mach es zu!«, stöhnte Bailey.

Teal brachte es mit gewaltiger Anstrengung fertig, seine tiefe, instinktive Angst zu überwinden, zum Fenster zurückzukriechen und den Vorhang wieder zu schließen. Sie hatten aus dem Fenster nicht nach draußen, sondern nach unten geblickt.

Mrs. Bailey war erneut ohnmächtig geworden.

Teal holte Kognak, während Bailey ihre Handgelenke rieb. Als sie zu sich gekommen war, ging Teal vorsichtig an das Fenster und schob den Vorhang etwas zur Seite. Nachdem er sich mit den Knien abgestützt hatte, winkte er Bailey heran. »Sieh dir das an, Homer. Erkennst du das?«

»Du bleibst hier, Homer Bailey!«

»Ich bin ganz vorsichtig, Mathilda.« Bailey trat neben Teal. »Siehst du die Wolkenkratzer? Das ist das Chrysler Building. Und dort liegen East River und Brooklyn.« Die beiden Männer sahen an der glatten Außenwand eines riesigen Gebäudes herab. Mehr als dreihundert Meter unter ihnen erstreckte sich eine sehr lebendige Spielzeugstadt. »Soweit ich es erkennen kann, blicken wir an der Seite des Empire State Buildings herab.«

»Was ist das?«, fragte Bailey. »Eine Luftspiegelung?«

»Nein, dazu sind alle Details zu perfekt. Ich glaube, dass der Raum hier in der vierten Dimension gefaltet ist – und wir sehen an der Falte vorbei.«

»Wir sehen New York also nicht wirklich?«

»Doch, wir sehen es! Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn wir aus dem Fenster klettern würden, aber ich möchte es nicht versuchen. Diese Aussicht! Fabelhaft! Komm, wir sehen auch aus den anderen Fenstern.«

Sie näherten sich dem nächsten Fenster mit gebührender Vorsicht, was sich als weise Entscheidung herausstellte. Denn was sie nun sahen, war noch verstörender, noch mehr dazu geeignet, sie an ihrem Verstand zweifeln zu lassen, als es der taumelnde Blick von einem Wolkenkratzer gewesen war. Diesmal sahen sie ein offenes Meer unter blauem Himmel – aber das Wasser war dort, wo für gewöhnlich der Himmel hing, und der Himmel hatte sich zum Meer verkehrt. Teal und Bailey hatten sich zwar auf etwas in der Art gefasst gemacht, doch beide mussten sich bemühen, beim Anblick der über ihnen rollenden Wellen nicht seekrank zu werden, und schlossen rasch den Vorhang, bevor Mrs. Bailey reagieren konnte.

Teal sah zu dem dritten Fenster hinüber. »Hast du noch Mut, Homer?«

»Hmm … Na, wir finden doch keine Ruhe, wenn wir es nicht versuchen. Aber sei vorsichtig!« Teal schob den Vorhang ein paar Zentimeter zur Seite und sah nichts. Er öffnete ihn weiter – noch immer nichts. Er zog ihn langsam ganz auf. Sie sahen – nichts.

Nichts, rein gar nichts. Welche Farbe hat das Nichts? Lass die Dummheiten. Welche Form? Form ist eine Eigenschaft von etwas; das hier hatte weder Form noch Tiefe. Es war nicht einmal schwarz. Es war einfach nichts.

Bailey nahm seine Zigarre aus dem Mund. »Wie erklärst du dir das, Teal?«

Teals Gelassenheit hatte einen erheblichen Knacks bekommen. »Ich weiß es nicht. Dafür habe ich keine Erklärung, Homer. Aber ich glaube, dass es besser wäre, dieses Fenster zuzumauern.« Er starrte den geschlossenen Vorhang an. »Wahrscheinlich haben wir einen Ort gesehen, an dem Raum überhaupt nicht existiert. Wir haben um eine vierdimensionale Ecke gesehen – aber dort war gar nichts.« Er rieb sich die Augen. »Ich habe Kopfschmerzen.«

Sie warteten einige Zeit, bevor sie es mit dem vierten Fenster versuchten. Solange es geschlossen blieb, war es wie ein ungeöffneter Brief – vielleicht fand man ja doch keine schlechte Nachrichten vor. Der Zweifel ließ Hoffnung. Schließlich wurde die Spannung jedoch unaushaltbar, und Bailey öffnete den Vorhang selbst, entgegen aller Proteste seiner Frau.

Es war nicht so schlimm. Vor ihnen erstreckte sich eine Landschaft in der gleichen Höhe mit dem Fenster des Arbeitszimmers. Aber die Szenerie war entschieden unfreundlich.

Eine gleißend heiße Sonne brannte aus einem zitronengelben Himmel herab. Der braune Erdboden war ausgedörrt, bleich und steril. Die einzigen Pflanzen waren knorrige Bäume, die ihre knotigen, verdrehten Äste in den Himmel reckten. Kleine Klumpen aus spitzen Blättern wuchsen an den äußersten Enden ihrer missgestalteten Zweige.

»Heiliger Zwieback«, keuchte Bailey, »wo ist das?«

Teal zuckte schweigend mit den Schultern. »Frag jemand anderes.«

»Das sieht gar nicht wie die Erde aus. Mehr wie ein fremder Planet. Vielleicht ist es der Mars.«

»Keine Ahnung, Homer. Aber vielleicht ist alles noch schlimmer. Schlimmer als ein anderer Planet, meine ich.«

»Wie? Was meinst du?«

»Vielleicht liegt das gar nicht mehr in unserer Galaxis. Ich weiß nicht, ob das unsere Sonne ist. Sie kommt mir zu hell vor.«

Mrs. Bailey war zögernd herangekommen und betrachtete jetzt die fremdartige Landschaft. »Homer«, sagte sie leise, »ich fürchte mich vor diesen scheußlichen Bäumen.«

Er tätschelte ihre Hand.

Teal machte sich am Fenstergriff zu schaffen.

»Was hast du vor?«, wollte Bailey wissen.

»Ich stecke den Kopf ins Freie – vielleicht sehe ich dann mehr.«

»Gut, meinetwegen«, stimmte Bailey zu. »Aber sei vorsichtig!«

Teal öffnete das Fenster einen Spalt weit und atmete prüfend ein. »Na, wenigstens die Luft ist in Ordnung.« Er öffnete das Fenster ganz.

Bevor er seine Absicht verwirklichen konnte, wurde er abgelenkt. Ein leichtes Zittern wie ein erster Anflug von Übelkeit lief ein Sekunde lang durch das Haus und klang wieder ab.

»Ein Erdbeben!«, sagten sie alle gleichzeitig. Mrs. Bailey umklammerte schluchzend ihren Mann.

»Nur keine Aufregung, Mrs. Bailey!«, sagte Teal, nachdem er geschluckt hatte. »In diesem Haus sind Sie völlig sicher. Das war nur ein harmloses Nachbeben.« Er hatte eben ein beruhigendes Gesicht gemacht, als der zweite Stoß kam, diesmal kein leichtes Zittern, sondern eine Erschütterung, die die Wände schwanken ließ.

In jedem Kalifornier schlummert ein tief sitzender Reflex, sei er angeboren oder anerzogen. Ein Erdbeben löst in ihm einen derart heftigen klaustrophobischen Anfall aus, dass er schlicht nicht anders kann, als um jeden Preis ins Freie zu streben. Die bravsten Pfadfinder schubsen alte Großmütter zur Seite, um ihm zu gehorchen. In diesem Fall landeten Teal und Bailey auf Mrs. Bailey, die offenbar als Erste aus dem Fenster gesprungen war und damit wahrscheinlich einen Rekord aufstellte. Diese Reihenfolge beruhte sicher nicht auf der Höflichkeit der beiden Gentlemen; wir müssen vielmehr annehmen, dass Mrs. Bailey sich nur in günstigerer Ausgangsposition befand.

Sie rissen sich zusammen, kamen zur Besinnung und rieben sich den Sand aus den Augen. Zuerst waren sie froh, festen Wüstenboden unter den Füßen zu haben. Dann merkte Bailey etwas, das sie augenblicklich auf die Füße stellte und selbst Mrs. Bailey sprachlos machte.

»Wo ist das Haus?«

Es war spurlos verschwunden. Sie standen inmitten der trostlosen Landschaft, die sie vom Fenster aus gesehen hatten. Doch abgesehen von den gequälten Verrenkungen der Bäume war nichts zu sehen außer einem gelbem Himmel, von dem die Grelle des fremdartigen Gestirns herunterbrannte wie ein Hochofen.

Bailey sah sich um und wandte sich dann an den Architekten. »Wie erklärst du dir das?«, fragte er drohend.

Teal zuckte hilflos mit den Schultern. »Vorläufig gar nicht«, gab er zu. »Ich weiß nicht einmal, ob wir noch auf der Erde sind.«

»Hier können wir nicht stehen bleiben«, entschied Bailey. »Welche Richtung, Teal?«

»Irgendeine. Wir müssen uns nach dem Sonnenstand orientieren.«

 

Sie hatten eine größere Strecke zurückgelegt, als Mrs. Bailey rasten wollte. Teal nahm Bailey beiseite und fragte: »Ist dir schon etwas eingefallen?«

»Nein, noch nichts … Sag mal, hörst du das?«

Teal nickte. »Ein Auto – falls wir nicht schon fantasieren.«

»Hört sich wie ein Auto an. Das ist ein Auto!«

Bis zur Straße waren es weniger als hundert Meter. Das Auto kam heran und erwies sich als ein alter, schnaubender Lieferwagen mit einem Rancher am Steuer. Der Fahrer hielt, als sie winkten. »Wir liegen hier fest. Können Sie uns mitnehmen?«

»Klar. Steigt nur ein!«

»Wohin fahren Sie?«

»Los Angeles.«

»Los Angeles? Wo sind wir hier überhaupt?«

»Nun, Sie sind hier mitten im Joshua-Tree-Nationalpark.«

 

Ihre Rückkehr war so entmutigend wie Napoleons Rückzug aus Moskau. Mr. und Mrs. Bailey saßen vorn neben dem Fahrer, während Teal auf der offenen Ladefläche hockte, kräftig durchgeschüttelt wurde und seinen Kopf vor der Sonne zu schützen versuchte. Bailey gab dem freundlichen Rancher ein Trinkgeld, damit er einen Umweg zu dem Tesserakt-Haus machte – aber nicht etwa, weil sie es wiedersehen wollten, sondern um ihren dort geparkten Wagen zu holen.

Schließlich bog der Lieferwagen um die Ecke, hinter der ihr Abenteuer begonnen hatte. Aber das Haus stand nicht mehr dort.

Selbst der Erdgeschossraum war nicht mehr zu sehen. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Baileys, die sich ihr Interesse trotz allem nicht nehmen lassen konnten, stocherten gemeinsam mit Teal im Fundament herum.

»Kannst du dir das erklären, Teal?«, fragte Bailey.

»Ich nehme an, dass das Haus beim letzten Stoß einfach in einen anderen Raum gefallen ist. Offenbar hätte ich es besser im Fundament verankern sollen.«

»Das ist nicht alles, was du hättest tun sollen!«

»Hör zu, ich sehe nicht ein, weshalb du so deprimiert bist. Das Haus war versichert, und wir haben Erstaunliches gelernt. Stell dir die Möglichkeiten vor, Mann, diese Möglichkeiten! Ich habe schon jetzt eine Idee, wie man ein revolutionäres neuartiges Haus …«

Teal duckte sich rechtzeitig, sodass Baileys Schwinger ihn verfehlte. Er war schon immer ein Mann der Tat gewesen. 
 

*

Aus: Robert A. Heinlein: Entführung in die Zukunft · Erzählungen · 320 Seiten · E-Book: 9,99 Euro (im Shop)

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