15. Juni 2020 4 Likes

Historie schreiben

Adrian Tchaikovskys Science-Fiction-Romanwelten

Lesezeit: 4 min.

Der Weltraum, unendliche Weiten. Irgendwo da draußen gibt es Planeten, auf denen Menschen eine neue Heimat finden könnten. Danach suchen die letzten Überlebenden der Menschheit. So auch der zusammengewürfelte Haufen aus Forschern, Ingenieuren, Militärs und Normalbürgern an Bord der Arche Gilgamesch. Als die Crew auf ein fast vergessenes Terraforming-Projekt stößt, scheint der Traum von der zweiten Erde in Erfüllung zu gehen. Doch ein Satellit macht der Gilgamesch schnell klar, dass er jeden zerstören wird, der einen Fuß auf den Planeten setzen möchte. Und auf ihm wartet intelligentes Leben, das den meisten Menschen Albträume bereitet.

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“. Selten passte ein Zitat so gut zu einem Roman wie zu Adrian Tchaikovskys Space Opera „Die Kinder der Zeit“ (im Shop), für den der Brite den „Arthur C. Clarke Award“ erhielt. Denn der Auftaktband zur „Children of Time“-Serie ist weitaus mehr als „nur“ lesenswerte Science Fiction, sondern auch ein Abriss über die Hochs und Tiefs der Menschheitsgeschichte. So verwundert es nicht, dass ein Historiker die Hauptrolle spielt. Doch alles der Reihe nach.

Der Expedition der Gilgamesch ging der Untergang unserer Welt, des „Alten Imperiums“, voraus. Fundamentalisten zerstörten alle Formen irdischer Technologie. Davon blieben auch die Terraforming-Projekte im All nicht verschont. Auf einem der neu geformten Planeten wollte Dr. Avrana Kern Affen ansiedeln und deren Evolution durch ein Nanovirus beschleunigen. Doch durch einen Terroranschlag verliert Kern nicht nur ihre Crew, sondern auch ihre Primaten. Während sie überlebt und langsam den Verstand verliert, beginnt das Virus damit, die Geschichte einer anderen Spezies zu bestimmen.


Adrian Tchaikovsky. Foto: Panmacmillan

Auf rund 670 Seiten porträtiert Tchaikovsky eindrucksvoll und detailreich wie sich das Leben an Bord der Gilgamesch und auf „Kerns Welt“ innerhalb weniger Jahrtausende parallel entwickelt. Auf der Arche hat Historiker Holsten Mason die Aufgabe, die Sprache des „Alten Imperiums“ zu entschlüsseln und mit einem feindlich gesinnten Satelliten in der Umlaufbahn von „Kerns Welt“ zu kommunizieren. Nicht nur hier realisiert er, dass er und seine Mitfahrer wahrhaftig auf den Schultern von Riesen stehen, deren Technologien sie höchstens ansatzweise verstehen. Doch Mason muss sich mit weitaus Schlimmerem abfinden als einer durchgeknallten künstlichen Intelligenz. Jedes Mal, wenn Mason unsanft aus seinem Kälteschlaf geweckt wird, gehen die Gilgamesch und ihre Bewohner ein Stück weiter vor die Hunde.

Während die Bewohner des Schiffs eine Degeneration fast schon well‘schen Ausmaßes durchleben, erblüht auf „Kerns Welt“ eine insektoide Zivilisation. Der Nanovirus hat die dortigen Portia-Springspinnen wachsen und gedeihen lassen. Die intelligenten Achtbeiner errichten Städte, führen Kriege und revolutionieren mit Seide und Duftstoffen die Biowissenschaft. Ihr Aufstieg gleicht denen der Menschen: So durchleben Portia, Bianca, Viola, Fabian und ihre Nachkommen den Untergang von Spinnenreichen, stellen ihre Göttin in Frage, erkennen sich selbst und ordnen ihre Art im Kosmos ein. Einziger Unterschied: Die Spinnengesellschaft ist matriarchal organisiert. Für Männchen ist es ein langer oftmals tödlicher Weg hin zur Emanzipation. Hier und an anderen Stellen halten Portiden und Archebewohner gleichermaßen der Menschheit den Spiegel vor und erinnern an die schlechten Seiten ihrer Geschichte.

Auch Rex schreibt in Tchaikovskys „Im Krieg“ (im Shop) seine Historie, wenn auch unfreiwillig. Denn er ist das Ergebnis eines anderen Experimentes – und eine monströse Waffe. Halb Hund, halb Supersoldat, möchte der 2,30 Meter große Anführer einer tierischen Spezialeinheit eigentlich nur eines sein: ein guter Hund. Doch schon seine bloße Existenz bringt das negative im Menschen zum Vorschein. Daher muss sich Rex sein Leben lang damit auseinandersetzen, wer er ist. Ähnlich wie die männlichen Portiden emanzipiert er sich langsam von den Vorstellungen der Anderen und wird so zu einem geschätzten, gleichwertigen Mitbürger.

Tchaikovskys jüngste Science Fiction-Werke zeigen, wozu das Genre in der Lage ist. Es konfrontiert uns mit dem Andersartigen, dem Fremden, das uns Menschen so ähnlich ist. Seine Romane stellen ethische und philosophische Fragen, die auch in Zukunft noch diskutiert werden und uns die Grenzen des eigenen Horizonts aufzeigen. Portia, Rex und Co. sind der literarische Beweis dafür, dass sich der Blick über den Tellerrand stets lohnt und der sense of wonder die fremde wie auch eigene Welt in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lässt. Wer auf der Suche nach anspruchsvoller, intelligenter und spannend erzählter Science Fiction ist, kommt momentan an Adrian Tchaikovsky nicht vorbei.

Doch was wurde nun aus den Menschen an Bord der Gilgamesch? Deren Kindeskinder sind im ebenfalls preisgekröntenDie Erben der Zeit“ (im Shop) auf „Kerns Welt“ heimisch geworden und gehen nun mit ihren arachniden Partnern auf große Raumfahrt. Und auch diese ungewöhnliche Crew wird der gemeinsamen Historie ein neues Kapitel hinzufügen. Doch das ist – wie so oft – eine andere Geschichte.

Adrian Tchaikovsky: Die Kinder der Zeit • Aus dem Englischen von Birgit HerdenWilhelm Heyne Verlag, München 2018 • 672 Seiten • 15,99 € (im Shop)

Adrian Tchaikovsky: Im Krieg • Aus dem Englischen von Peter Robert • Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 • 384 Seiten • 14,99 € (im Shop)

Adrian Tchaikovsky: Die Erben der Zeit • Aus dem Englischen von Irene HolickiWilhelm Heyne Verlag, München 2020 • 672 Seiten • 15,99 € (im Shop)

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