16. Mai 2022 4 Likes

Die Zukunft und die Zukunft

Die Ruinen von Mariupol sind auch ein Symbol für unsere Zukunftsblindheit

Lesezeit: 6 min.

Als das Putin-Regime 2014 der Ukraine die Halbinsel Krim raubte, war es eine der ersten Maßnahmen, dort die Zeit umzustellen. Seither tickt die Uhr auf der Krim nach Moskauer Zeit (wo man Mitteleuropa zwei Stunden voraus ist). Seither leben die Menschen auf der Krim den russischen Alltagsrhythmus. Seither sind sie Teil der „russischen Welt“, die, wie wir nun wissen und worüber wir nicht mehr zu spekulieren brauchen, auf gewaltsame Expansion aus ist: Noch viel mehr Menschen sollen Teil ihrer Zeitrechnung werden …

Es ist eine Binsenweisheit, dass es die Zukunft als Richtgröße nicht gibt. Zukunft ist eine Gegenwartsvariable und Gegenwart eine Zukunftsvariable – eine irre und weitgehend unerforschte Feedbackschleife, über die man sich stets im Klaren sein muss, wenn man Aussagen über die Zukunft trifft. Aber nach drei Monaten Krieg in der Ukraine, nach drei Monaten Putin‘schen Terrors, drängt sich die Frage auf, ob sich mit dem Begriff Zukunft überhaupt noch irgendetwas anfangen lässt. Was ist in diesen drei Monaten passiert?

Zunächst einmal das, was oft passiert, wir aber nur noch selten bemerken: Geschichte. Keine „Simulation von Geschichte“, wie sie Baudrillard einer durchvirtualisierten Welt attestierte. Auch nicht die Disruption unserer ökonomischen Bedürfnisse, die die aktuellen Ayn-Rand-Adepten als Geschichte interpretieren (und sich ans Revers heften). Sondern Geschichte in ihrer profansten, vulgärsten, unbarmherzigsten Form: die Geschichte, die paranoide, bösartige Herrscher in protzigen Palästen machen. Kaum meinten wir, das furchtbare 20. Jahrhundert endlich hinter uns gelassen zu haben, reiben wir uns die Augen und müssen erkennen, dass noch nicht einmal das 19. Jahrhundert vorbei ist.

Und noch etwas ist passiert. Wir reiben uns die Augen und müssen erkennen, dass das, was wir für die Vergangenheit gehalten haben, nicht nur Gegenwart ist, sondern auch ein konkreter Aspekt der Zukunft sein könnte. Für die Menschen in den westlichen Ländern ist eine solche Erkenntnis nahezu kontraintuitiv. Denn trotz aller Stolpersteine (Islamismus, Schuldenkrise, Trump) sahen wir uns doch eigentlich auf dem Weg in eine Zukunft der zunehmenden Freiheit, der Diversität, der Vernetzung, der ökologischen Rücksichtnahme, des aufgeklärten Postkolonialismus, der großen Menschheitsprojekte, kurz: Wir sahen uns auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft.

Aus dieser Perspektive sind die Ruinen der ukrainischen Hafenstadt Mariupol, sind Putin und sein Regime ein „schrecklicher Anachronismus“ (Juli Zeh). Oder wie der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin schreibt: „Auf den Schlachtfeldern der Ukraine ereignet sich ein Krieg der Zeiten, in dem die Zukunft von der Vergangenheit bombardiert und mit Raketen beschossen wird und heroischen Widerstand leistet.“

Es gibt jedoch noch eine andere Perspektive, und je weiter das 21. Jahrhundert mit seiner Geschichte voranschreitet, desto klarer werden ihre Konturen. Aus dieser Perspektive sind die Ruinen von Mariupol kein Anachronismus, sondern das Symbol einer Zukunft, die nach unterschiedlichen Zeiten tickt. In seinem Roman „Die Stadt & die Stadt“ erzählt China Miéville von zwei ineinander verwobenen Städten, in denen die jeweiligen Bürgerinnen und Bürger von Geburt an darauf konditioniert werden, jeden Beweis für die Existenz der anderen Stadt auszublenden, die jeweils anderen zu „nichtsehen“ und zu „nichthören“. Das ist die „russische Welt“, die das Putin-Regime erzeugt hat und ausweiten will: nicht nur ein Land, nicht nur eine Gesellschaft, sondern wirklich eine Welt – eine Welt des „Nichtsehens“ und „Nichthörens“, eine Welt für sich auf dem Weg in ihre ganz eigene Zukunft.

Wir in den westlichen Gesellschaften sind ebenfalls in der Lage zu „nichtsehen“, denn aus dieser anderen Perspektive sind die Ruinen von Mariupol auch ein Symbol für unsere Zukunftsblindheit. Wir reiben uns die Augen und müssen erkennen, dass der Putinismus ein ebenso archaischer wie zukunftsgerichteter Faschismus ist. Archaisch, weil dieses Riesenreich politisch schon seit Jahrhunderten auf fatale Weise um sich selbst kreist („La Russie, c’est le néant“, diagnostizierte der junge Bismarck nach seinen Jahren an der preußischen Botschaft in St. Petersburg). Und gleichzeitig zukunftsgerichtet, weil über zwanzig Jahre national-religiöse Propaganda und staatliche Repression ein in sich geschlossenes, dynamisches System geschaffen haben. Es geht im Krieg in der Ukraine nicht um irgendwelche Ideologien, es geht letztlich auch nicht um historische Kränkungen oder Territorien; es geht darum, dass ein Land einem anderen Land das Recht zu existieren abspricht, weil, so der paranoide, bösartige Herrscher in seinem protzigen Palast, dieses andere Land „nie existiert hat“.

So betrachtet, kämpft in der Ukraine nicht die Vergangenheit gegen die Zukunft, sondern zwei Zukünfte kämpfen gegeneinander, und das Putin-Regime weiß ganz genau, dass, je länger der Kampf dauert, die Selbstgewissheit und der Zusammenhalt seiner Gegner bröckeln wird. (Die zynische Forderung hierzulande, die Ukraine solle sich mäßigen und auf einen „Kompromiss“ einlassen, ist ein früher Hinweis auf dieses Bröckeln.) Putin mag auf einen schnellen Sieg in der Ukraine gehofft haben, aber unzählige frozen conflicts in seinem Machtbereich zeigen, dass es ebenso seine Strategie ist, sich alle Möglichkeiten zur Eskalation offenzuhalten; dass unsere Angst eine seiner Trumpfkarten ist.

Wie lange aber kann ein solcher Kampf der Zukünfte wirklich dauern? Oder anders (und mit Wladimir Sorokin) gefragt: Wie viel Zukunft hat eine Zukunft, die mit Gas und Öl befeuert wird, die nach innen mit Lügen und Polizeigewalt und nach außen mit Atomwaffen zusammengehalten wird? Ich weiß es nicht. Ich hoffe, nicht allzu viel. Aber schon die Tatsache, dass sich diese Zukunft geformt hat – unbeachtet von uns, die wir uns auf dem Weg in die „echte“ Zukunft wähnten –, lässt daran zweifeln, dass der Begriff Zukunft jenseits politischer und kommerzieller Marketingsprüche („Das Land nach vorne bringen!“, „Zukunft bewegen!“) noch operationabel gemacht werden kann. Denn Zukunft ist eine Praxis, und wenn der Herrscher Russlands in seinem Palast beschließt, dass die Zukunft seiner Untertanen der Vergangenheit ähneln soll, und er die Mittel hat, das auch durchzusetzen, dann lösen sich all die „Zukunftsdiskurse“, die „die Menschheit“ miteinander führen soll, in einem Säurebad auf. Wer fühlt sich davon jetzt überhaupt noch angesprochen? Welche Menschheit kann sich auf welche Zukunft einigen?

Doch so multiperspektivisch die Zukunft in der Zukunft auch sein wird, sie ist nicht multidirektional. Denn „die Menschheit“ lebt nun einmal auf einem Planeten mit den dazugehörigen Abhängigkeiten und Fragilitäten. Auch das ist eine Binsenweisheit, das wissen wir alle, das hören wir ständig. Aber Putins Zukunftskrieg legt die Abhängigkeiten und Fragilitäten nicht nur bloß (wer wusste schon, dass die EU-Staaten jeden Tag eine Milliarde Euro für russische Energie zahlen?), er macht uns auch klar, dass die Grenze zwischen den Zukünften rein imaginär ist – so wie die Grenze zwischen den zwei Städten in China Miévilles Roman. Kurz nach Kriegsbeginn erschien der zweite Teil des neuen IPCC-Weltklimaberichts. Er beginnt nicht mit einer Warnung vor künftigen, sondern mit einer Aufzählung bereits eingetretener Katastrophen, die alle dazu angetan sind, die globale Sicherheit zu unterminieren. Das ist die Lage in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts.

Geschichte, auch wenn sich das der Herrscher in Moskau wünscht (übrigens, siehe Nordkorea, siehe die Türkei, siehe ganz aktuell die Philippinen, nicht nur dieser Herrscher), ist eben nicht einfach so rekonstruierbar. Das 21. Jahrhundert, diese Aussage über die Zukunft traue ich mir zu, wird keinem anderen vorhergehenden Jahrhundert ähneln. Diejenigen von uns, die das Ende des Jahrhunderts erleben werden, werden auf etwas völlig Neues, etwas Noch-nie-Dagewesenes zurückblicken. Die aus heutiger Sicht offene Frage ist, ob sie im Rhythmus von Uhren leben werden, die vorwärts und rückwärts zugleich gehen. Oder ob sie diese Art von Geschichte hinter sich gelassen haben werden.

Nur im zweiten Fall, meine ich, sollte man wirklich von Zukunft reden.

 

Sascha Mamczak ist Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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