31. Juli 2023

„Paradise“ – die absolute Hölle

Netflix-Sci-Fi aus Deutschland

Lesezeit: 4 min.

In einem Berlin der nahen Zukunft ist die Bevölkerung divers bis zum Anschlag und es wird vorbildlich gegendert. Max (Kostja Ullmann) arbeitet für das Biotech-Unternehmen AEON, welches einen Transfer von Lebenszeit möglich gemacht hat (vorausgesetzt Empfänger und Spender sind kompatibel). Seine Aufgabe: Er soll mögliche Lebenszeitspender davon überzeugen, ihre kostbaren Jahre gegen harte Währung einzutauschen. Max ist natürlich einer der besten seines Jobs und auch sonst ganz zufrieden: Er ist glücklich mit Elena (Marlene Tanczik und Corinna Kirchhoff) verheiratet, die Wohnung sündhaft teuer, was will man mehr? Doch dann brennt die Bude ab und die Überraschung ist groß: Elena hat ohne Max’ Wissen 38 Lebensjahre als Sicherheit für das Wohnungsdarlehen hinterlegt und die muss sie jetzt direkt hergeben. Die so mächtige wie eiskalte Konzernbossin Sophie Theissen (Iris Berben) mag da nicht helfen – kein Wunder, sie hat ja selbst von dem Transfer profitiert. Als Max das erfährt, setzt er alles dran, den Tausch wieder rückgängig zu machen …

Es gibt einen Moment, in dem Elena, der die Jahre von AEON gerade abgezwackt wurden, feststellen muss, dass aus ihr über Nacht eine alte Frau geworden ist. Fast vier Jahrzehnte! Einfach weg! An diese Szene muss man beim Abspann von „Paradise“ denken: Zwei Stunden! Einfach weg!

Aber das ist den Verantwortlichen natürlich egal, denn letztendlich geht es ja gerade darum: Netflix & Co. buhlen mit ihrem konstanten, nie versiegendem Strom an neuen Erzeugnissen, an Content, um das Zeitkontigent des Zuschauers. Der soll – anders als bei einem Kinofilm oder einer Blu-ray – optimalerweise keine Gelegenheit haben zu reflektieren, sondern einfach nur schauen, schauen und schauen und nicht merken, wie ihm das Kostbarste im Leben überhaupt genommen wird.

Nicht ohne Grund bezeichnete Netflix-Chef Reed Hastings einmal den Schlaf als der größte Feind des Unternehmens. Dass da ab und an mal Glückstreffer wie „Nimona“ abfallen, die dem Zuschauer dann doch mal ein transzendierendes Erlebnis verschaffen, verlorene Zeit in frische Energie umwandeln, liegt in der Natur der Sache, aber auf einmal „Nimona“ kommen eben mindestens fünfzig Totalausfälle wie „Paradise“, Hintergrundrauschen, das nur da ist, weil eben laufend Content benötigt wird.

Der Plot wurde mit Sicherheit von „In Time - Deine Zeit läuft ab“ (2011)“ „inspiriert“, schafft es Andrew Niccols lauen Thriller aber mühelos zu unterbieten. Der von drei (!) Drehbuchautoren verzapfte Murks scheitert im Prinzip schon bei der für die meisten Zuschauer wohl eher schwer zu schluckenden Ausgangsituation. So landet das junge Paar vor allem in der Scheiße, weil man sich dank dem Kauf einer Wohnung für 2,5 Millionen (!!!) maßlos verschuldete hatte. Dabei wird sogar extra noch betont, dass Elena mit ihrer Tätigkeit im Krankenhaus nur einen Hungerlohn verdient, alles an Max hängt, der allerdings eine extrem laxe Einstellung zum Thema Geld zu haben scheint. Denn Max fantasiert gleich zu Anfang, obwohl bereits hochverschuldet, vom Haus am See („Du rufst einfach den netten Bankberater an und der gibt uns sicher den nächsten Kredit!“). Diese gar nicht uninteressante Ebene des sexy Vorzeigepärchens wird aber vom Drehbuch nicht weiter thematisiert (vielleicht in Berlin normal?), stattdessen rutscht die Geschichte nach und nach in handelsübliches Genreallerlei mit böser Konzernchefin (gespielt von Iris Berben, die mit ihren schlohweißen Haaren prima als Daenerys Targaryens Omi ins nächste „Game of Thrones“-Spin-off passen würde), cool-bedrohlicher Handlangerin und einem Protagonisten, der sich gegen „das System“ erhebt, ab.

Für Überraschungen sorgen da höchsten zwei Figuren, die gegen Ende der unglaublich zermürbenden 120 Minuten Laufzeit urplötzlich ihren moralischen Kompass ändern – aber das spielt dann auch keine Rolle mehr, da man das Finale trotz einem nahezu ununterbrochen aus den Boxen quellenden Soundtrack eh nur noch im Halbschlaf wahrnimmt. Leider verzichtet das Drehbuch nämlich nahezu komplett auf Schauwerte (die farbentsättigten Bilder sind immer gleich, die wenige Action nicht der Rede wert), sondern setzt – ähnlich wie „The Ordinaries“ vom Anfang des Jahres – auf didaktische Bedeutsamkeit und wirft mit Plattitüden wie „Jugend, das … das klingt so verführerisch, aber … Jugend allein macht das Leben nicht besser oder glücklicher“ um sich oder übt natürlich Kritik an das stets dankbare Ziel „die da oben“. Alles vorgetragen in diesem sauberen Präsentationsstil, der so vielen heimischen Produktionen anhaftet und einem oft das Gefühl gibt, man wohnt einer Theateraufführung bei.

„Paradise“ ist – man muss das einfach mal so brutal sagen – purer Abfall. Abfall, mit dem Netflix dank ordentlicher PR kurzzeitig bestimmt auf die gewünschten Clickzahlen kommt (Science-Fiction aus Deutschland!), aber eben auch Abfall, von dem schon am nächsten Tag jede Erinnerung verblasst sein wird.

Paradise (Deutschland 2022) • Regie: Boris Kunz • Darsteller: Kostja Ullmann, Marlene Tanczik, Corinna Kirchhoff, Iris Berben, Numan Acar, Aleyn Cara • Netflix

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