„Schirkoa: In Lies We Trust“: Vom Finden der Freiheit
Rumpelige, aber faszinierende Dystopie in Gamer-Optik
Man möchte eigentlich schon nach kurzer Zeit wieder abschalten: Der Animationsfilm „Schirkoa: In Lies We Trust“ wurde vollständig mit Unreal Engine produziert, einer durch Computer- und Videospiele wie „Duke Nukem Forever“ oder „Fortnite“ bekannten Technologie, die Echtzeit-Rendering einsetzt, um bei der Produktion Zeit und Ressourcen zu sparen, und sieht dementsprechend oft wie ein Gameplay-Video aus. Dazu kommt, dass das Regiedebüt von Ishan Shukia, eine Spielfilmversion seines 2016 veröffentlichten gleichnamigen Kurzfilms, inhaltlich erstmal auf wenig originelle Art mit dem ganzen dicken Pinsel malt.
Bei Schirkoa handelt es sich um eine der zahllosen „Blade Runner“-inspirierten Großstädte, bestehend aus Hochhauschluchten, neonschillernden Anzeigetafeln und Rotlichtvierteln. Doch anders als in Ridley Scotts tief ins popkulturelle Bewusstsein eingesickerte Zukunftsfolie wirkt hier alles ein Tick kälter und die Bewohner müssen mit staatlich verordneten Papiertüten über den Kopf rumlaufen, auf denen Nummern stehen, denn Namen hat hier keiner mehr. Schirkoa ist ein geschlossenes System mit gesichtlosen Sklaven, die ihren Zweck erfüllen. Alles, was auf irgendeine Weise abweicht, gilt als Anamolie und wird bekämpft. Als besonders bedrohlich gelten Menschen, die von außerhalb kommen.
In dieser Vision einer komplett entindiviualisierten Gesellschaft begegnen wir dem Büroangestellten 197A, der kein Interesse an den Protesten gegen das Regime, sondern nur Augen für Nachbarin 242B hat. Doch die hat genug von Schirkoa und will nach Konthaqa fliehen – ein angebliches Paradies, in dem Menschen in Freiheit leben. 197A allerdings hegt Hoffnung in den Rat der Stadt aufgenommen zu werden. Doch dann wird ihm die Tüte vom Kopf genommen und er muss feststellen, dass ihm kleine Hörner am Kopf wachsen, er offenbar eine der Anomalien ist, vor denen die Regierung bei jeder Gelegenheit warnt …
Totalitarismus-, Kapitalismus- und Medienkritik, gewürzt mit Anspielungen auf das derzeit wieder brandaktuellen Thema Migrationspolitik: „Schirkoa“ reißt wenig subtil verschiedene Themenfelder an und beginnt in seinem orwellschen Setting eine Geschichte, die hundertfach gesehen anmutet, erzählt wird vom kleinen Mann, der über sich hinaus wächst. Doch dann die überraschende, von fernöstlicher Enlightenment-Philosophie und Gender-Thematik unterfütterte Volte: Konthaqa entpuppt sich zwar als ganz anders, bunt, schillernd, fröhlich, aber die vermeintliche Freiheit ist eine ambivalente –197A findet sich auch hier in einer stromlinienförmigen, unfreien Existenz wieder, und so lautet das Fazit: „Unvollkommenheit ist ein Miststück. Perfektion ist ein Monster“.
„Shirkoa: In Lies We Trust“ ächzt unter der Last seiner Ambitionen. Er wirkt übervoll, lässt allerlei Gedanken durch die Luft wirbeln, fängt aber nie etwas auf, sondern bleibt skizzenhaft, wirkt in Teilen gestelzt und mündet in einer diskussionswürdigen Conclusio, die man durchaus als ein Zerbrechen an der modernen Welt mit all ihren Möglichkeiten, als die Thematisierung eines First World Problems, deuten kann. Es wäre jedenfalls interessant zu wissen, wie jemanden, der totalitäre Unterdrückung erlebt hat, auf einen Film reagiert, der ernsthaft in Frage stellt, ob Freiheit wirklich die bessere Option ist.
Dennoch: „Schirkoa“ gelingen immer wieder wunderbare Minuten, meist dann, wenn nichts „Wichtiges“ ansteht, der Film sich rein auf seine Figuren besinnt. So gibt es unter anderem einen zauberhaften, schwarzhumorig-romantischen Abschnitt, in dem 197A auf dem Dach eines Hochhauses Suizid-Absichten umsetzen will und dabei die rebellische 33F kennenlernt, die ebenfalls kurz vor dem Absprung steht. Im Folgenden entspinnt sich eine Unterhaltung über die beste Art vom Dach zu hüpfen. Außerdem wird die These überprüft, dass man für sechs Stunden den Drang zu sterben verliert, wenn man vor dem Suizid Sex hat (Spoiler: vögeln macht mehr Spaß als sterben).
Als größter Pluspunkt entpuppt sich überraschenderweise dann doch die Optik. So „eckig“ die Bilder und klobig die Figuren wirken, der auf inhaltlicher Ebene gescheiterte Ehrgeiz des Regisseurs zahlt sich auf visueller Ebene aus. Shukla nutzt Science-Fiction in dieser Hinsicht tatsächlich als Traummaschine und fächert eine ungemein detaillierte Welt jenseits abgegriffener Hollywood-Klischees auf. Eine Welt, die so bekannt wie fremd wirkt und sich in wuselig-lautem Konthaqa, einer entrückten, farbenprächtigen Mischung aus Indien-Impressionen aus dem Tui-Katalog, Endzeit-Freizeitpark und Mescalin-Rausch, in seiner ganzen Pracht offenbart. „Schirkoa“ mag verglichen mit der meisten Konkurrenz sicherlich etwas „billig“ wirken, er trumpft aber mit Fantasie auf – zwar nur an der Oberfläche, aber immerhin. Da verzeiht man doch so einiges.
Schirkoa: In Lies We Trust (Indien/Frankreich/Deutschland 2024) • Regie: Ishan Shukla • Sprecher: Asia Argento, Gaspar Noé, Lav Diaz, Golshifteh Farahani, Karan Johar, Soko • ab dem 29. August 2024 im Kino
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