12. Juni 2014 1

Denker und Designer

Comic-Autor Jonathan Hickman im Portrait

Lesezeit: 5 min.

In den deutschsprachigen Ausgaben der Marvel-Comics führt der extrem science-fiction-lastige amerikanische Autor Jonathan Hickman die Avengers derzeit durch das kosmische Crossover Infinity – das erste Marvel-Großereignis, das Hickman als alleiniger Autor der Event-Hauptserie verantwortet, während er zugleich die Rächer-Reihen Avengers und New Avengers lenkt und die mächtigsten Helden der Erde gegen Bedrohungen aus anderen Universen, Zeitlinien und Welten antreten lässt. Mit „East of West 1“ ist außerdem der erste Sammelband von Hickmans faszinierender Science-Fiction-Western-Saga erschienen. Und der US-Sender Syfy verkündete erst vor Kurzem, dass man aus Mr. Hickmans Pax Romana-Comicserie eine TV-Serie machen wird. Jonathan Hickman, von Warren Ellis wie von Cory Doctorow gleichermaßen gepriesen, hat vorerst also fraglos seinen persönlichen Zenit als Comicschaffender erreicht.

Seine Autorenkarriere startete der ehemalige Grafikdesigner Ende 2006 mit „The Nightly News“. In seinem anstrengenden, aber erfrischend andersartigem Comic-Debüt, das Hickman sogar schrieb und zeichnete, beschäftigte sich der Amerikaner mit der verlorenen journalistischen Integrität und Neutralität der Nachrichtenmedien, die heftigen, geradezu terroristischen Gegenwind erfahren und für ihre amoralische Unaufrichtigkeit zur Kasse gebeten werden. Obwohl Hickman sich noch heute regelmäßig auf seine Wurzeln als Grafiker besinnt und z. B. weiße Seiten mit Symbolen und Text in seine Panel-Storys einbaut, ist seine gestalterische Prägung in „The Nightly News“ noch deutlicher zu sehen: Wenn er seine Geschichten selbst visualisierte, dachte Hickman nicht wie ein Comiczeichner, sondern viel mehr wie ein Designer, und nutzte Infografiken, Karten und andere Kniffe der Informationsaufbereitung aus seinem alten visualisierendem Betätigungsfeld als narratives Mittel für seine Comics. Dasselbe Bild in „Pax Romana“, einer weiteren Miniserie, in der Hickman den Vatikan das Geheimnis der Zeitreise ergründen lässt, woraufhin die Kirche die glorreiche Idee hat, die Zukunft zu verbessern, indem man in die Vergangenheit eingreift und ein paar bestens ausgerüstete Kämpfer ins Rom des Jahres 312 schickt. Ein Plan, der von vorne herein auf tönernen Füßen steht, jedoch endgültig umkippt, als der für die Zeitreise-Mission verantwortliche Kardinal erschossen wird …

Mit seinen nachfolgenden Comicwerken, „Transhuman“ (über das genetische Alltags-Wettrüsten rivalisierender Firmen), „A Red Mass for Mars“ (über eine Welt, die nach vielen überstandenen Katastrophen lediglich ein Held vor der Invasion retten kann – wenn er denn möchte…) und Auftragsarbeiten aus dem Top Cow-Universum, schrieb Hickman dann erstmals Storys, die von Zeichnern für ihn umgesetzt wurden. 2007 scriptete er mit der Horrorgeschichte „Legion of Monsters: Satana“ überdies seinen ersten Marvelcomic.

Die Zusammenarbeit zwischen Hickman und dem Haus der Ideen wurde ab 2009 kontinuierlich ausgebaut, als Hickman die neue Serie „Secret Warriors“ zusammen mit Marvel-Motor Brian Michael Bendis aus der Taufe hob und schließlich nach dem ersten Storybogen allein fortführte. Knapp 30 Kapitel lang zeigte „Secret Warriors“ ein Team aus jungen Neu-Helden, die von Spionage-Veteran Nick Fury handverlesen worden sind, um hinter den Kulissen des Marvel-Superheldenuniversums in einem geheimen Krieg zu kämpfen. Ein Highlight, das dazu führte, dass Hickman die Abenteuer der Fantastic Four als Autor übernahm.

An diesem wichtigen, allein aus historischen Gründen immens ikonischem Marvel-Titel zeigte Hickman, zu was für komplexen Epen er wirklich fähig ist, wenn er den Raum und die Zeit hat: Wie genau er seine Geschichten plant, aufbaut und über viele Monate hinweg seinem Masterplan folgend durchführt, und wie weit weg das vom üblichen Superhelden-Mainstream ist. Nicht selten wirkt das etwas übermotiviert und -ambitioniert und fordert für eine Story mit bunten Kräften und noch bunteren Kostümen fast zu sehr – und kann zugleich sehr lohnenswert sein. Im Fall der Fantastischen Vier baute Hickman Marvels First Family zur Future Foundation um, parkte die Fackel vorübergehend im Heldentod und hatte einen richtig langen Atem für seinen FF-Run, der ihn an die Spitze der derzeitigen Marvel-Autoren-Riege katapultierte.

Seine „SHIELD - Architects of Forever“-Miniserie von 2010/2011 war Hickmans eigenständigem Frühwerk unterdessen wieder recht ähnlich, aber eben in den Marvel-Kontext eingebettet, da Hickman einen antiken Vorläufer der Organisation – inklusive des Machtkampfes zwischen Da Vinci und Newton – präsentierte. Die Fortsetzung wartet seit längerer Zeit auf Fertigstellung; Zeichner Dustin Weaver verkündete Anfang des Jahres immerhin, dass das finale Heft der zweiten Mini in Arbeit sei.

Zwischenzeitlich tobte Hickman sich noch an „The Red Wing“ (einem eigenständigen Vierteiler über zeitreisende Kampfpiloten) und im seinerzeit just neu durchgestarteten Ultimativen Universum (mit den dortigen Versionen von Thor, Hawkeye und den Rächern) aus. Im regulären Marvel-Universum gehörte er indes zu den damals als solchen bezeichneten Marvel-Architekten, die gemeinsam das Blockbuster-Event „Avengers vs. X-Men“ inszenierten und damit die Marvel-Zukunft einläuteten. Denn nach „AvX“ startete die Ära „Marvel Now!“ mit viel frischem kreativen Wind und Jonathan Hickman als Denker und Lenker hinter den Avengers.

Doch auch abseits seiner Marvel-Erfolge ist Hickman weiterhin fleißig und veröffentlicht bei Image oder inzwischen auch Avatar Press eigenständige neue Titel wie den Parallelweltcomic „The Manhattan Projects“, die düstere Geheimagenten-Serie „Secret“, oder „God is Dead“, in dem Hickman die altertümlichen Götter zurückbringt und mit der ungläubigen Moderne kollidieren lässt. Und natürlich ist da noch „East of West“ (Leseprobe), in dem mit Ende des Sezessionskriegs, ein paar Prophezeiungen und einem Kometeneinschlag alles anders wurde – die USA formen sich aus den Sieben Staaten von Amerika, deren Oberhäupter in der SF-Western-Alternativwelt unbedingt das Ende der Schöpfung herbeiführen wollen und dafür mit drei Wiedergeburten der apokalyptischen Reiter paktieren. Allerdings hat Tod, der vierte Reiter, anderes im Sinn: Rache …

Man muss Jonathan Hickmans Art, Comics mit großen Ideen, noch größeren Konzepten und weit vorausblickenden, entsprechend konstruierten und großen Handlungsbogen zu konstruieren, nicht vorbehaltlos mögen. Der Denker und Innovator unter den gegenwärtigen Spitzen-Autoren der US-Szene ist manchmal wirklich etwas zu bewusst sperrig und entsprechend anstrengend zu lesen, und oft dauert es etwas länger, bis die Mühe beim Lesen belohnt wird. Dennoch kann und muss man unabhängig von den persönlichen Vorlieben und dem gewünschten Schwierigkeitsgrad für z. B. „klassische“ Superheldencomics anerkennen, dass Hickman ein Kreativer ist, der seinen eigenen Visionen und Ideen auch mit wachsendem Erfolg treu geblieben ist. Darüber hinaus lebt er das Vorzeige-Modell für einen modernen Comic-Autor vor: Mit aufregenden, kommerziell erfolgreichen Arbeiten innerhalb der Grenzen und Gewohnheiten des Marvel-Kanons, die nichtsdestotrotz klar seine Handschrift tragen, und einem steten Fluss an eigenen, innovativen Comicschöpfungen.

Kommentare

Bild des Benutzers brainbug

Habe bei Hickman immer das Gefühlr, er verzettelt sich in zu viele Projekte. Die Ideen und Konzepte sind fast alle Klasse, bei der Umsetzung wird es dann manchmal etwas schlampig... Trotzdem wichtiger Impulsgeber gerade!

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