1. Oktober 2014

„Ich kenne keinen Schmerz, denn der Chili gibt mir das Sehen“

Johanna Sinisalos Anti- und Postfeminismus so scharf wie heiter konternde Dystopie „Finnisches Feuer“

Lesezeit: 3 min.

Das Finnland einer nahen Zukunft (der Jahre 2016 bis 2017) ist gegenüber den es umgebenden dekadenten „Verfallsdemokratien“ und „Hedonistenstaaten“ das einzige Land, in dem Mobiltelefone, Rauschmittel und insgesamt freies Leben verboten sind. Staatsgewalt, Hoheitsakte und Totalüberwachung vollzieht ein einziges Organ, das Gesundheitsamt. Volkslotto treibt Männer in die Spielsucht und macht sie finanziell und mental gefügig. Vor allem aber entspricht die Gesellschaftsordnung dieser finnischen Dystopie dem utopischen Ideal finsterster patriarchalischer Wunschträume. Die Maskos (umgangssprachliche Bezeichnung für die paarungsfähigen Vertreter des herrschenden männlichen Geschlechts) haben sich die paarungsfähigen Femifrauen (umgangssprachlich Elois genannt) auf sehr entschiedene Weise zu perfekt devoten, so schmückenden wie dienenden Weibchen abgerichtet; den Morlocks genannten Neutrifrauen – also Frauen, die den hohen Barbie-Prinzessinnen-Standards nicht entsprechen oder es gar wagen, selbstständig zu denken – wird gesellschaftlicher Nutzen ausschließlich und bestenfalls als niederen Tätigkeiten gewachsenen Arbeitskräften zugeschrieben. Die Entscheidung über die Zugehörigkeit zur einen oder anderen „Unterart“ liegt in den Händen von Kinderkontrolleuren des Gesundheitsamts und wird auf der Grundlage von an sehr jungen Frauen durchgeführten Psychotests getroffen: Mädchen, die sich für Jungsspielzeug interessieren, fallen durch. Eine die Ur-Gebärerin Gaia verehrende und sich vegan ernährende Untergrund-Organisation beginnt, Widerstand gegen das Regime zu leisten – durch das Anbauen von und Dealen mit Chilischoten. Der bewusstseinserweiternden und bekanntermaßen körperintensiven Wirkung der in Chilis enthaltenen Droge Capsaicin sind auch die als Eloi Vanna getarnt lebende Morlock Vera und ihr Ehemann Jahre verfallen. Gemeinsam mit der Gaia-Anhängerschaft versuchen die beiden, auf dem von Veras verstorbener Pflegemutter Aulikki hinterlassenem Gut Neulapää ein anderes, besseres, freieres Leben zu führen. Für Vera/Vanna bedeutet dies nicht zuletzt, endlich das Verschwinden, vielleicht den Tod ihrer kleinen Schwester Mira/Manna zu verarbeiten.


„Finnisches Feuer“ ist der bereits siebte Roman der Science-Fiction-, Fantasy-, Kurzgeschichten-, Comicszenario- und Drehbuchautorin Johanna Sinisalo. Spätestens als Ko-Autorin des Filmskripts der finnisch-australisch-deutschen, künftige Welteroberungspläne mittels Reichsflugscheiben umsetzende Mond-Nazis verhandelnden SF-Komödie „Iron Sky“ von 2012 hat Sinisalo bewiesen, dass sie sich exzellent darauf versteht, dystopischen Fiktionen mit satirischer Schlagseite ordentlich Pfeffer, antikonformistische Genre-Freizügigkeit und eine gewisse Portion unverkrampfter Kauzigkeit zu verpassen. Letztere mag der Tatsache geschuldet sein, dass auf finnischer Gegenwarts-Fantastik keinerlei Druck eines größeren Kanons lastet und man umso freier und frischer ans Werk gehen kann. Abgesehen von den H.G. Wells‘ „Zeitmaschine“ (erstmals 1895 erschienen) entlehnten Elois und Morlocks (Wells gilt in Sinisalos schwerstmisogynen Finnland als gesellschaftskritischer Prophet) steht der Roman in der literarischen Tradition feministischer Science-Fiction, wie etwa Marge Piercy, Joanna Russ oder Octavia Butler sie erdachten, wobei Sinisalo ihren gesellschaftskritischen Prophezeiungen bisweilen auf allzu überraschungsfreie, da allzu naheliegende bzw. ihren Zerrbildcharakter allzu mutwillig ausstellende Art Gestalt verleiht, wenn es zum Beispiel über Elois heißt: „Sie lispeln weiche S-Laute und krähen als Gegengewicht im Falsett Wörter wie süß und echt und schrecklich und krass und ui. Sie heißen Hanna, Janna, Sanna und Leanna, und jede von ihnen will aus ganzem Herzen meine Brautjungfer werden.“ (S. 140)


Dies ist aber auch das einzige kleine Manko von „Finnisches Feuer“. Neben verschiedene Erzählstimmen und -perspektiven treten Auszüge aus Sachbüchern wie „Kurze Geschichte der Domestizierung der Frauen“ oder aus Vernehmungsprotokollen, Briefe Veras an Mira, Lemmata aus dem „Wörterbuch der finnischen Gegenwartssprache“, Anzeigen- und Lehrbuchtexte oder Zitate aus nur bedingt fiktivem Märchen- und Volksliedgut; bedingt fiktiv ist diese mit einer Vokabel wie sexistisch noch mild bedachte Zukunftsstaatsliteratur deshalb, weil die Schlechtigkeit und Dummheit von Frauenhass und dessen (seien es noch so verdruckste und verlogene) sprachliche Erscheinungsformen leider weder frei erfunden sind noch großartig übertrieben werden müssen, um in ihrer Widerwärtigkeit identifiziert werden zu können. Diese Stimmenvielfalt sowie Johanna Sinisalos unpathetisch-eitelkeitsfreier Stil machen das Buch überaus süffig. Schließlich ist auch das „Pepper-High“, also die Endorphin-Ausschüttung durch Capsaicin-Genuss, eine belegte Angelegenheit, und die Autorin kommuniziert über ihr leicht bizarres Drogenmotiv sowohl Innerlichkeit, Stimmungen, Witz und Wut als auch die mindesterforderliche Schärfe ihrer Gegenwartsdiagnosen. Lesen Sie das. Und dazu Barbara Kirchners ebenfalls angemessen feurigen Essay „Dämmermännerung“, um mal probehalber Maskos mit Maskulinisten zu vergleichen.

Johanna Sinisalo: Finnisches Feuer · Aus dem Finnischen von Stefan Moster · Tropen bei Klett-Cotta, Stuttgart 2014 · 320 Seiten · € 21,95

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