22. November 2012

Systemzeit

„Next“ von Miriam Meckel

Lesezeit: 7 min.

»Wir wissen, wo Sie wohnen, wir wissen, welche Schule Ihr Hund besucht«, heißt es im Prolog zu Charles Stross’ Roman »Du bist tot«, in dem reales und virtuelles Geschehen untrennbar miteinander verknüpft sind. Dank der Jobinformant™-Technologie liegt ein akkurates Persönlichkeitsprofil des Informatikers Nigel vor, und bei Fehlern ist die Agentur bereit, »2000 € dafür (zu) bezahlen, dass Sie uns einen Tag lang dabei helfen aufzuklären, in welcher Hinsicht unsere Datenanalyse versagt hat«. Fiktion – aber längst keine Science Fiction mehr.

Unter der Überschrift »Zugriff auf die Datenbank des Denkens und Fühlens« behandelt Constanze Kurz in der FAZ vom 2. März 2012 die Monetarisierung der Datenbestände von Twitter – die Vermarktung des Archivs ab Januar 2010 durch die britische Firma Datasift. »Das Entscheidende an der Verfügbarkeit der Twitter-Archive ist«, schreibt Kurz, »dass sich nunmehr Algorithmen an historischen Daten testen lassen. Während man zuvor ein Vorher­sage­programm auf der Basis von Twitter-Stimmungen nur anhand aktuell verfügbarer Daten testen konnte, lassen sich nun Korrelationen von Ereignissen und Twitter-Trends retroaktiv prüfen, um die Algorithmen zu optimieren. Es ist wie bei automatischen Trading-Systemen, die in den Archiven nach vergleichbaren Trends und Situationen suchen, um daraus Vorhersagen für das Jetzt abzuleiten: Ihr Nutzen hängt von der digitalen Verfügbarkeit historischer Börsendaten in hoher Auflösung ab … Eine ähnliche Entwicklung ist durch die Vermarktung der Twitter-Daten auch für andere Branchen zu erwarten. Unternehmen und Politiker werden versuchen, ihre PR und Werbung gezielt anhand aufgezeichneter Reaktionen zu optimieren und anzupassen. Bewusste Manipulationen der öffentlichen Meinung werden deutlich vereinfacht, es gibt nun genügend Testmaterial.«

Solche aktuellen Entwicklungen sind Ausgangspunkt von Miriam Meckels Roman – einer Dystopie, in der die Spezies Mensch im fehlerlos lösungsorientiert arbeitenden System der Algorithmen aufgegangen ist und dabei auch ihre körperliche Existenz eingebüßt, zum größten Teil sogar freiwillig aufgegeben hat. Aus zwei Perspektiven und in zwei Teilen, den »Erinnerungen eines ersten humanoiden Algorithmus« und den »Erinnerungen eines letzten Menschen«, erzählt Meckel die Geschichte dieser Verschmelzung (zur Unterscheidung der Erzählstimmen sind die Kapitelanfänge im Bericht des Algorithmus durch reale Barcodes, in der Erzählung des Menschen durch Morsezeichen gekennzeichnet).

Mit akribischer Recherche und einer Fülle von Zitaten und Fußnoten hat die Kommunikationswissenschaftlerin Meckel, seit 2005 Professorin an der Universität St. Gallen, solche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zusammengetragen und analysiert, die den Weg zum »quantifizierten Selbst« und zur »Mathematisierung der Menschheit« gewiesen haben. Das Spektrum reicht dabei von der Videoüberwachung an Bahnhöfen bis zu den RFID-Chips bei der Fußball-WM 2006, von den Quants bei Börsentransaktionen bis zum Cloud Computing, vom altmodischen »Eliza«-Programm bis zum aktuellen »Cleverbot« (dem mit Algorithmen gefütterten virtuellen Gesprächspartner), vom Superrechner Watson bis zur genialen Schachspieler-KI Deep Blue, von der Personalisierung sozialer Netzwerke bis zu den digitalen Kommunikationsmitteln als Beförderern des »Arabischen Frühlings«.

Im Memorandum des Algorithmus liest sich das dann so: »Wir milderten die menschliche Unberechenbarkeit, in dem wir sie in unser deterministisches Modell einpflegten … Es geht nicht um ›Moral‹, ›Emotion‹ oder ›Ermessen‹. Von nun an gilt nur noch die Logik unseres Modells. Wir sind in der Lage, alles letztgültig zu verarbeiten und zu entscheiden. Also tun wir das.«

In der Erinnerung des »letzten Menschen« gibt es einen Punkt, an dem die quantitative Einflussnahme der Technik auf menschliches Leben in eine qualitativ neue Stufe evolutionärer Entwicklung umgeschlagen ist: »Wir sind an diesem Punkt zu unwissenden Helfern unserer technikgestützten Vollendung geworden.«

In der Science Fiction ist dieses Konzept des »Umschlagspunkts«, das Vernor Vinge als »Singularität« bezeichnet, längst Teil des motivischen Kanons, auf dem Romane wie die von Cory Doctorow oder Charles Stross implizit oder auch explizit aufbauen. Das Verschmelzen von Mensch und Maschinenintelligenz, das Uploading von Gehirnen und genetische Modifikationen haben in der Sin­gularität Selbstbild und Zivilisation der Spezies fundamental verändert. In Stross’ Roman »Accelerando« – der keineswegs eine Dystopie, sondern eher ein spielerisches Gedankenexperiment mit den Möglichkeiten der Singularität ist – haben die Rechen­potenziale der Prozessoren ein kaum noch messbares Vielfaches menschlicher Denkkapazität erreicht. Das »Menschsein« zerfällt dabei in einander überlappende Simulationen humaner Existenz, die durchaus ihre bizarren und komischen Aspekte haben.

Meckel dagegen hält sich strikt, nüchtern und geradlinig an Fakten gegenwärtiger Entwicklungen und deren Extrapolation. Ihre Projektionen sind keineswegs weit entfernt von Aussagen aus der Forschung über komplexe Systeme wie die Professor Klaus Mainzers, wenn er die menschliche Gesellschaft als »vernetzten Superorganismus« betrachtet und eine neue »kollektive Intelligenz« auf Grundlage der digitalen Evolution der Netzwelten prognostiziert.

»Next« ist eher Bestandsaufnahme als Handlung – ein als Roman verkleidetes kluges Sachbuch, das wegen der Fülle zu­sammengetragenen Wissens und vielfacher Variationen ein und desselben Themas ziemlich zähe Lektüre ist. Auch wenn das Buch viele schöne und einprägsame Sätze enthält, etwa wenn der letzte Mensch das Fehlen der Imagination in dieser neuen, entkörperlichten Welt reflektiert: »Wir haben unsere Vorstellungskraft verloren, weil wir etwas anderes gewonnen haben. Das umfassende Erinnern und Wissen. Wann immer ich etwas denke, bin ich immer mit allen Informationen vernetzt, mit allen Texten, Tönen, Bildern, emotionalen Updates, die sofort eingehen in die endgültige Berechnung des Gedachten. Und das Ergebnis ist immer klar und eindeutig. Ich bin nicht einmal mehr in der Lage, mir vorzustellen, wie es wäre, mir etwas vorstellen zu können. Glaube ich.«

Die philosophische Frage nach dem, was das Menschsein unter den Bedingungen der »Mathematisierung der Welt«, dem Ausschluss des Zufalls, dem »digitalen Kollaps« der alten Zivilisation und dem »ausgehandelten Mittelmaß« eigentlich noch ausmacht, ist das eigentliche Thema des Buches. Dieser Diskurs ist ja keineswegs neu, nur fällt Meckels Beitrag dazu besonders detailliert und lang (und stellenweise auch langatmig) aus.

Bereits vor mehr als vierzig Jahren schrieb Elias Canetti: »Eine peinigende Vorstellung: daß von einem bestimmten Zeitpunkt ab die Geschichte nicht mehr wirklich war. Ohne es zu merken, hätte die Menschheit insgesamt die Wirklichkeit plötzlich verlassen; alles, was seitdem geschehen sei, wäre gar nicht wahr: Wir könnten es aber nicht merken. Unsere Aufgabe sei es nun, diesen Punkt zu finden, und so lange wir ihn nicht hätten, müßten wir in der jetzigen Zerstörung verharren.« (aus »Die Provinz des Menschen«, Aufzeichnungen 1942). Jean Baudrillard hielt 1990 fest: »Vor allem die modernen Medien haben jedem Ereignis, jeder Erzählung und jedem Bild einen Simulationsraum mit grenzenloser Flugbahn eröffnet. Jedes Faktum, jedes politische, historische oder kulturelle Merkmal erhält bei seiner Verbreitung durch die Medien eine kinetische Energie, die es für immer seinem eigenen Raum entreißt und in einen Hyperraum vorantreibt … Wir brauchen keine Science Fiction mehr.« (»Das Jahr 2000 findet nicht statt«) Und Ende der Neunzigerjahre tritt Peter Sloterdijk mit seiner polemischen Rede (und dem späteren Buch) »Regeln für den Menschenpark« eine Debatte über das Ende des Humanismus-Konzepts los, denn der Angriff auf die menschliche Vorstellung von Individualität und Souveränität erfolge sowohl über das Hirn als auch über unsere Körperlichkeit. »Die Geschichte selbst wird immer mehr zu einer Reihe von Optionen«, stellt der Science-Fiction-Kritiker John Clute in einem Interview fest, das im SCIENCE FICTION JAHR 2000 veröffentlicht wurde. Filme wie Truman Show, eXistenz oder Matrix thematisieren diese Auflösung von Wirklichkeit.

In »Next« ist an die Stelle der »Körperzeit« die »Jetztzeit« (oder »Systemzeit«) getreten, in der die Zeit im doppelten Sinne aufgehoben ist; da alles gleichzeitig existiert, ist der Spezies Mensch auch jede zeitliche oder räumliche Verortung abhandengekommen. Der Verlust der Außenwahrnehmung, der Zerfall der Realität in Momentaufnahmen, löst beim »letzten Menschen« die Sucht nach Vergewisserung aus, eine Suche nach dem verlorenen Ort und der verlorenen Zeit. »Ich müsste etwas erheben, etwas messen können, was einen Unterschied markiert zwischen mir und den anderen. Zwischen hier und dort. Zwischen damals, jetzt und zukünftig. Aber es gibt nichts mehr, was mir diese Unterschiede offenbaren könnte, wenn sie denn noch vorhanden wären.«

Andere Reflexionen betreffen die Bedeutung von sensorischen Empfindungen und Gefühlen für das Denken. »Den Körper ab­zuschaffen, hieße dann, auch die Kapazität des Geistes zu reduzieren … Die Haltung, die wir als Menschen früher einnahmen, beeinflusste nachgewiesenermaßen unsere innere Haltung zu uns selbst und zu anderen Menschen ebenso wie die Haltung anderer Menschen uns gegenüber.«

Letztendlich ist es das Beharren des Menschen auf der eigenen Erzählung, das den Algorithmus vor ein unlösbares Problem stellt, weil er dieses Erzählen nicht decodieren kann. Denn der Zweifel, die Uneindeutigkeit, der Zufall, die Untrennbarkeit von Emotion und Ratio als Elementen der Kognition, die Kreativität sind in dessen eindeutig formulierten Regelschritten nicht vorgesehen und bringen das System zum Absturz. Wie allerdings der letzte Mensch der deterministischen Gleichschaltung entgehen konnte, enthüllt das Buch leider nicht.

Miriam Meckel hält auch für die Zukunft am Konzept menschlicher Willensfreiheit fest. »Wir können nicht alle menschlichen Prozesse in das lineare Schema ›Ursache-Wirkung‹ pressen«, sagt sie in einem Interview mit dem Tagesspiegel zu ihrem Buch. »Da gibt es Varianten, die wir nicht erklären können. Wären wir als Menschen deterministisch angelegt, dann wäre das Leben ziemlich reizlos.«

»Rettet den Zufall!«, ruft der Aufkleber auf dem Buchcover. Ist »Next« also in erster Linie ein didaktischer Versuch medialer Aufklärung? Die Autorin selbst sieht das Buch, wie sie im Nachwort schreibt, »nicht als Ergebnis der Überlegungen einer vermeintlichen Kultur- oder Technikpessimistin«, sondern als einen »›Denkraum‹, in dem sich jeder selbst verorten kann … Das Szenario … ist ein Angebot zum Weiterdenken darüber, was uns Menschen in einer digitalisierten Welt ausmacht und wie wir leben wollen. Schon dadurch, dass wir über die Zukunft nachdenken, gestalten wir sie.« Ähnlich klingt es, wenn Klaus Mainzer in »K.I. – Künstliche Intelligenz« (2003) der KI-Forschung und Informatik als Leitlinie vorgibt, »den Menschen als Selbstzweck zu achten und zum Maßstab der Technik zu machen … Es sollte in unserer Hand liegen zu entscheiden, wer wir sind, was wir bleiben und was wir an künstlicher Intelligenz neben uns brauchen und dulden wollen.«

Selbst wenn »Next« als Roman mangels Spannungsbogen und durch häufige thematische Wiederholungen nicht funktioniert: Zumindest ist der Denkraum dieses Buches so weit gefasst, dass es seinen Lesern jede Menge gedanklicher Vernetzungsmöglichkeiten bietet – von der Gehirnforschung bis zur K.I.-Forschung, von der Informatik bis zur Philosophie im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung, von Huxley bis Stross.

Miriam Meckel: Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns • Roman · Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011 · 316 Seiten · € 19,95

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