13. Oktober 2020 1 Likes

„Brave New World“ - Huxley als Serie

Eine starke TV-Adaption der wegweisenden Dystopie

Lesezeit: 3 min.

Seit 1949 George Orwells „1984“ (im Shop) erschien und damit 17 Jahre nach Aldous Huxleys „Brave New World“ der zweite der beiden großen dystopischen Romane, lässt sich darüber diskutieren, welche der beiden Zukunftsvisionen furchtbarer erscheint – vor allem aber auch, welcher Realität sich die Welt annähert. Die Welt von „1984“ schien stets näher an der Realität, entwickelte Orwell sie doch aus seinen Erfahrungen in der Sowjetunion seiner Zeit, dachte das stalinistische Überwachungssystem nur konsequent weiter. Huxleys Vision war nicht nur in ferner Zukunft angesiedelt, sondern mutete, gerade Anfang der 30er Jahre, vermutlich vollkommen absurd an.

Eine der vielen Stärken der aktuellen neunteiligen Verfilmung von „Brave New World“ ist es anzudeuten, wie sehr die Gegenwart der Menschheit, zumindest die der westlichen Welt, schon der von Huxley imaginierten Dystopie entspricht. Und das, obwohl auch die Serie in einer futuristischen Stadt namens New London spielt, irgendwann in der Zukunft, wenn es durch künstliche Befruchtung längst möglich ist, den Fortbestand der Menschheit vom Geschlechtsverhalten der Menschen loszulösen. Den Anforderungen entsprechend wird produziert: Einige Alphas, viele Betas und noch mehr Epsilons. Dank entsprechender Manipulation von Eizelle und Spermium weiß jeder Mensch, wo sein Platz ist und dank der Wunderdroge Soma herrscht dauerhafte Freude. Drei Regeln gibt es: Keine Privatsphäre, keine Familie, keine Monogamie, und besonders letzteren Aspekt betonen die Serienmacher Grant Morrison, David Wiener und Brian Taylor zur Genüge. Wie eine nie enden wollende Ecstasy-Party wirkt das Leben von Lenina Crowne (Jessica Brown Findlay), die ebenso makellos schön wirkt wie alle anderen Alphas und Betas. In weich fallenden, stets hellen Kostümen leben sie in einer Welt, die fast völlig aus Glas besteht. Ein Geheimnis kann ohnehin niemand haben, spezielle Kontaktlinsen lassen jeden Träger jede Emotion jedes anderen Menschen fühlen.

Und solange man stets Soma nachlegt sollte da nichts schiefgehen, tut es aber natürlich doch: Bernard Marx (Harry Lloyd), ein an seiner Rolle zweifelnder Alpha+ spürt auf einmal etwas seltsames: Emotionen. Spätestens als er mit Lenina in die Wildnis reist, einem Reservat, wo die Menschen noch so primitiv leben wie früher (also so wie wir heute), gerät seine Welt aus den Fugen. Mit John, dem Wilden (Alden Ehrenreich), nehmen sie einen Mann mit nach Neu London, der die Welt noch mit anderen, mit ehrlichen Augen sieht – zumindest anfangs.

Brot und Spiele hieß es bei den Römern, Soma und freie Liebe bei Huxley. Sind in der Gegenwart unserer westlichen Zivilisation die gesellschaftlichen Beruhigungsmittel Soziale Medien und Streamingdienste? Solange der Nachschub an neuem Stoff bei Netflix, Apple+ oder im Fall von „Brave New World“ Peacock (bzw. in Deutschland TV Now) nicht ins Stocken gerät, die Algorithmen – wenn man mag – automatisch neue Serien und Filme laufen lassen, braucht man nicht anderes tun, als sich berieseln lassen.

Man könnte an dieser Stelle den Machern von „Brave New World“ vorwerfen, dass sie etwas kritisieren, von dem sie selbst ein Teil sind. Immer wieder hat man aber das Gefühl, dass sie  sich dieser Ironie bewusst sind, dass ihnen durchaus klar ist, wie verführerisch ein Leben auf Soma, auf Netflix oder auf welcher Droge auch immer sein kann. Der Spruch „Ignorance is bliss“ beschreibt dieses Gefühl gut, das in den ausgiebigen Orgien-Szenen der Serie zunächst zelebriert, auf Dauer aber unterlaufen wird. Um die schöne neue Welt, in der es die Menschheit sich in der Gegenwart des Jahres 2020 gemütlich eingerichtet hat, zumindest zu erschüttern, wäre es nun eigentlich angebracht, konsequent zu sein und sich den visuellen und anderen Reizen von „Brave New World“ zu entziehen und gar nicht erst einzuschalten. Doch was wäre die Alternative? Und daher geben wir uns also weiter gern dem Soma, äh, den Streamingdiensten hin.

Brave New World • USA 2020 • Showrunner: Grant Morrison, David Wiener und Brian Taylor • Darsteller: Alden Ehrenreich, Jessica Brown Findlay, Harry Lloyd, Demi Moore • Alle 9 Folgen bei TV Now

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