15. Januar 2015 5 Likes 7

Der lange, graue Bart der Zukunft

Nicht alles ist neu in einem neuen Jahr – Eine Kolumne von Sascha Mamczak

Lesezeit: 4 min.

Mitte Januar. Die letzten Weihnachtsbäume werden abtransportiert. Der Schnee wird zu Regen, wird zu Schnee, wird zu Regen. Ein Sturm fegt die Straßen aus. Im Briefkasten Sommerkataloge. Mitte Januar. Sind Sie schon im neuen Jahr angekommen? Ich noch nicht. Noch liegen die Bilder von 2014 mit ihren unerfreulichen Informationen über die menschliche Natur herum wie nicht weggeräumte Silvesterböller: ein vom Himmel gefallener Teddybär in einem ostukrainischen Acker, verpixelte Leichen in syrischen Ruinen, der Schlag ins Gesicht eines jungen Mädchens auf einem Parkplatz in Offenbach. Und noch warten die Dezemberausgaben der Wissenschaftsmagazine mit ihren Ausblicken auf 2015 darauf, dass ich mich endlich dem Neuen, dass ich mich der Zukunft zuwende: Drohnen als Paketzusteller, 3D-Tablets, automatische Simultanübersetzer und andere einstige Science-Fiction-Träume.

Doch das neue Jahr nimmt keine Rücksicht auf meine temporale Trägheit, das neue Jahr ist schon längst im neuen Jahr angekommen: Am 7. Januar stürmen zwei Männer mit Kalaschnikows bewaffnet in die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo und verüben ein Massaker. Nichts daran ist neu, mörderische Anschläge im Namen Allahs begleiten uns nun schon seit fünfzehn Jahren, wenn nicht viel länger, und trotzdem ist es die Zukunft. Denn man muss kein begnadeter Trendforscher oder Wahrsager sein, um zu prognostizieren, dass auch 2015 ein von Anschlägen geprägtes Jahr sein wird. Dass die nächsten zehn Jahre von der Auseinandersetzung mit dem religiösen Fundamentalismus bestimmt sein werden. Ja, dass die meisten von uns eine wie auch immer geartete Lösung dieses Problems gar nicht mehr erleben werden. Was genauso auf zahlreiche andere Probleme unserer Zeit zutrifft: die europäische Staatenbildung, die ökologische Krise, die globalen Flüchtlingsströme. Ein Mensch sein heißt, im permanenten Übergang zu leben.

Und permanenter Übergang heißt: Die Zukunft ist kein Ort, den es zu erreichen gilt, um die Unannehmlichkeiten der Gegenwart endlich hinter sich zu lassen; die Zukunft ist Gegenwart, nur später. Und die Zukunft ist nicht das Neue, das Noch-nie-dagewesene, das die trübe Vergangenheit verdrängt; die Zukunft ist alles zusammen: das, was sein wird, das, was ist, und das, was war. Ja, möglicherweise werden unsere Geschenkpakete bald von Drohnen zugestellt (wenn es die Luftverkehrsordnung gestattet), aber diese Drohnen werden auch etwas anderes zustellen als Geschenke. Und ja, unsere Tablets werden bald Bilder in 3D zeigen – 3D-Bilder von geköpften Menschen. Das Neue, so segensreich es manchmal ist oder erscheint, hat noch nie etwas an der menschlichen Grundeinstellung geändert – Menschen nutzen das Neue für ihre jeweiligen Interessen. Und sie nutzen es für ihre Perversionen. Sind wir deshalb oft enttäuscht, wenn wir die „Versprechungen“ der Science-Fiction früherer Jahrzehnte Revue passieren lassen? Denn etliches davon gibt es ja inzwischen wirklich – aber nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben, nicht so, wie es eigentlich sein sollte.

Vielleicht rührt diese Enttäuschung aber auch daher, dass unsere Sicht auf die Zukunft eben zu sehr am „Neuen“ hängt. Vielleicht sollten wir nicht immer das Neue im Alten, sondern manchmal auch das Alte im Neuen suchen, um die Zukunft zu verstehen. Neu ist etwa, dass die Menschen, wie es H. G. Wells einst prophezeit hat, inzwischen per Mausklick das gesamte Weltwissen abrufen können; alt ist, dass Wissen nicht gleich Wissen bedeutet, dass auch im Digitalen Wahrheiten aufeinanderprallen und es viel Mühe und Zeit und Engagement kostet, Informationen zu prüfen und zu gewichten. Neu ist, dass sich junge Menschen in Europa und anderswo in einem cyber-islamistischen Weltbild einmauern, das mit dem Islam fast nichts zu tun hat; alt ist, dass die Religion schon seit Tausenden von Jahren als Kampfanzug dient, dass sich Gewalt und Machtstreben immer eine Hülle, eine Rechtfertigung suchen. Neu ist, dass sich, wie man in den Tagen nach dem 7. Januar gesehen hat, peu à peu eine europäische Öffentlichkeit etabliert, die eines Tages Teil einer echten Weltöffentlichkeit sein könnte; alt ist, dass Öffentlichkeit, wie groß auch immer, Auseinandersetzung, Debatte, Kompromiss voraussetzt.

Was erfordert hier eigentlich mehr Vorstellungskraft, mehr „suspension of disbelief“, was ist hier eigentlich mehr Science-Fiction: das Neue oder das Alte?

Ich weiß es nicht. Aber es ist ja noch früh im neuen Jahr. Es ist noch Mitte Januar. Die letzten Weihnachtsbäume werden abtransportiert, ein Sturm fegt die Straßen aus, die Ferien sind vorbei. Wie immer fahre ich mit dem Rad zur Arbeit. Und wie häufig werde ich an einer Kreuzung beinahe von einem Auto überrollt, weil der Fahrer sich nicht umschaut, bevor er abbiegt. Jetzt, Mitte Januar 2015, aber ist es zum ersten Mal ein Elektroauto, frisch aus der Fabrik.

Die Zukunft: so neu, so uralt.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich.

Kommentare

Bild des Benutzers Horusauge

"die Zukunft ist Gegenwart, nur später."
Das erleichtert mir etwas das vordringen in die Lektüre der Zukunft.

Bild des Benutzers Sebastian Pirling

Jacques Lacan würde den Spieß wohl milde lächelnd umdrehen:
"Die Vergangenheit ist Gegenwart, nur unbewusst."
Was noch einmal ganz eigene Probleme für die Zukunft mit sich bringt ...

Bild des Benutzers Horusauge

Herr Pirling, jetzt wird es kompliziert.
Jeder von uns hat seine Vergangenheit mit seinen eigenen Erfahrungen, die jeder mit in die jeweilige Zukunft nimmt.
Da passiert es vielleicht auch in wenigen Momenten, dass uns die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft begegnet, aber der Mensch versteht es zu dem Zeitpunkt nicht.

Bild des Benutzers Sebastian Pirling

Solche Zeit-Koinzidenzen kenne ich auch. Im antiken Griechenland gab es ja ohnehin zwei unterschiedliche Begriffe für "Zeit", den Chronos = die stetig dahinfließende Abfolge von Zeitpunkten, und den Kairos = den einmaligen Moment, die ergriffene Gelegenheit. Dieser Kairos bringt seine eigene Zeitfülle mit sich, die quasi in den chronologischen Zeitpunkt eingefaltet ist. Und das ist, zugegeben, manchmal kompliziert genug.

Bild des Benutzers Sebastian Pirling

PS: Das erinnert mich übrigens an Haruki Murakamis Kurzgeschichte "Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah".

Bild des Benutzers Shrike

Ja, das philosophieren sie, die Horusaugen, Pirlings und Mamczaks.
Wie wärs denn, einfach mal wieder Großmeister Jeschkes Cusanus Spiel zu lesen. Steht alles da drin.

Bild des Benutzers Horusauge

Manchmal ist das eigene philosophieren aber interessanter :)
Danke Sebastian, wieder was dazu gelernt.

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