15. November 2015 2 Likes

Rauchbares Brot und Winterpulver

John Crowleys Roman „Maschinensommer“ beschreibt eine sehr fremdartige Zukunft

Lesezeit: 3 min.

Postapokalyptische Szenarien gehören zu den Standardthemen der Science-Fiction und neigen zu einer gewissen Abgegriffenheit. John Crowley geht mit „Maschinensommer“ (im Shop) allerdings einen großen Schritt weiter und entwirft eine zukünftige Welt, die ihr Geheimnis bewahrt – und gerade darum so überzeugend wirkt.

John Crowley: MaschinensommerJahrhunderte nach dem nur als „Der Sturm“ bekannten Ereignis ist der Untergang der Menschheit kaum mehr als eine Legende. Die Welt der „Engel“, die fliegen konnten und Dinge wie Barometer, Telefone und Geld kannten, ist dem Vergessen anheimgefallen. Eine neue technikferne Zivilisation hat sich entwickelt, die von dörflichen Gemeinschaften dominiert wird und den Hinterlassenschaften der Vergangenheit oft ratlos eggenüber steht. Der Roman handelt von Sprechendes Schilfrohr, einem Jungen, der zum Clan der „Handtellerschnur“ gehört und in Klein Belaire lebt, einem labyrinthartigen Ort, dessen Bewohner kein Privateigentum kennen. Zum Handel mit Außenstehenden dienen ihnen vor allem zwei Dinge: Glasbläserarbeiten und das seltsame St.-Bea-Brot, das nach allem schmeckt und auch geraucht werden kann. Es wächst an einem geheim gehaltenen Ort und wird von einem „Pflanzer“ betreut, einer großen und mit Metallteilen durchsetzten Spinne, die von den Engeln einst zu den Sternen geschickt wurde, um Proben von fremden Planeten auf die Erde zu bringen.

Schilf, wie er meist genannt wird, ist noch jung und unerfahren. Aus den Geschichten, die ihm seine Lehrerin Rotbemalt erzählt, hört er aber heraus, wie wichtig es ist, klar und aufrichtig zu sprechen – und dass diejenigen, die dies am besten können, die „Heiligen“ genannt werden. Ihnen gelingt es, alle Geschichten in der einzigen Geschichte ihres Lebens zu vereinen. Genau dies ist Schilfs Ziel – weswegen er den Weggang von Einmal-am-Tag, einem Mädchen, in das er sich verliebt hat, durchaus als Herausforderung begreift. Er folgt ihr, wird von einem Einsiedler aufgenommen und verbringt zum ersten Mal einen Winter außerhalb von Belaire. Ein Pulver, das einen zeitrafferähnlichen Zustand erzeugt, hilft den beiden, mit den Entbehrungen der kalten Jahreszeit fertig zu werden.

Dann zieht Schilf weiter. Er sucht die „Liste von Dr. Boots“, eine Gruppe, die Arzneien und Essenzen herstellt und der sich Einmal-am-Tag angeschlossen hat. Die Mitglieder leben mit großen Katzen zusammen, an deren Lebensweise sie sich weitgehend angepasst haben, und reagieren sehr skeptisch auf Fremde. Doch Schilf begegnet dort tatsächlich Einmal-am-Tag wieder. Obwohl sie sich sehr verändert hat, möchte er bei ihr bleiben und ebenfalls der „Liste“ angehören. Er kann nicht ahnen, welche Folgen dieser Entschluss hat …

„Maschinensommer“ – der Titel bezieht sich auf jene letzten warmen Tage des Jahres, bevor der Herbst kommt – gehört zu den ungewöhnlichsten Science-Fiction-Romanen überhaupt. Im Original 1979 veröffentlicht, schließt er die frühe Phase im Werk des 1942 geborenen US-Amerikaners John Crowley ab. Wie „The Deep“ (1974,  dt. „In der Tiefe“) und „Beasts“ (1976, dt. „Geschöpfe“) erzählt auch „Maschinensommer“ eine ambitionierte Geschichte, die den Leser vor Herausforderungen stellt. Schilf ist Repräsentant einer posttechnologischen Gesellschaft und versteht daher viele Errungenschaften der Engel nicht, weshalb manches Detail seiner Geschichte unklar bleibt. Entsprechend rätselhaft nimmt sich der legendenhaft anmutende Roman aus, der aber genau deswegen in Anspruch nehmen darf, realistischer und überzeugender zu sein als vergleichbare Post-Doomsday-Szenarien.

Und: „Maschinensommer“ ist auch ein Buch über das Erzählen. Da die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens verlorengegangen sind, wird Wissen wieder mündlich vermittelt. Dazu gehören auch die Schilderungen von Schilf, der diese zwecks Aufzeichnung einem Engel berichtet; ein Vorgang, der dem Roman die äußere Struktur gibt. Das Resultat ist ein teils poetisches, teils irritierendes Buch voller traumverlorener Bilder, das nach Abschluss sofort zur Neulektüre einlädt. Mehr kann man von Literatur nicht erwarten.
 

John Crowley: Maschinensommer • Roman • Aus dem Amerikanischen von Irene Holicki • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 € 4,99 (im Shop)
 

John Crowley (*1. Dezember 1942 in Maine) wuchs unter anderem in Indiana auf. Nach seinem College-Abschluss siedelte er nach New York über, wo er anfing, Dokumentarfilme zu machen; dieser Arbeit geht Crowley bis heute nach. Mit seinem Unternehmen Straight Ahead Pictures produziert er unter anderem Filme für HBO, die sich vor allem mit amerikanischer Geschichte befassen. 1975 veröffentlichte er seinen ersten SF-Roman In der Tiefe, in den folgenden Jahren schrieb und publizierte er insgesamt neun Romane, darunter auch die Ægypt-Tetralogie, und zwei Kurzgeschichten-Anthologien. Er unterrichtet Literatur, kreatives Schreiben und Drehbuchschreiben an der Yale University.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.