11. Mai 2013

Sprengmeister der Vorstellungen

Dietmar Daths „Pulsarnacht“

Lesezeit: 5 min.

»Der Diebstahl eines Gesichtes, das drei zivilisierte Galaxien schon so gut wie vergessen hatten, (…) weil sich niemand gern an die Linienkriege erinnert – die Entwendung eines solchen Relikts aus einem sehr schnellen Objekt, das sich in voller, aber erratischer Fahrt befindet, ist keine einfache Sache.«

Wohl gesprochen, Häuptling Zukunftszunge. In voller, wenn auch erratischer Fahrt befindet sich auch der Roman »Pulsarnacht« (im Shop ansehen), und seines Gesichtes (sagen wir mal: des Antlitzes der Zukunft) habhaft zu werden ist ebenfalls kein leichter Griff. Denn die »Pulsarnacht« klingt, und zwar nicht nur in ihren besten Stellen, so, als wäre es kein Roman über die Zukunft, sondern ein Text, der aus der Zukunft stammt und wenig bekümmert ist um altertümliche Leser wie uns.

Stellen wir uns für einen Moment vor, wir könnten uns die Zukunft vorstellen, nicht etwa die lineare Verlängerung der Gegenwart, die sich in den Star Treks oder den Jurassic Parks der Unterhaltungsindustrie präsentieren, sondern eine tatsächliche und von uns und unseren Gewohnheiten abgewandte Zukunft. Stellen wir uns vor, ein Mensch um das Jahr 1, also knappe zwei Jahrtausende vor unserer Zeit, hätte diese Gabe besessen und seinen Brüdern und Schwestern von unserer Welt erzählt: Dass in jenen fernen Tagen nicht mehr die Sorge um Wasser und Brot in den Vordergrund unserer Gedanken drängen würde, nicht mehr die Frage, wer des Nachts unser Vieh vor den Wölfen hütet, sondern die Frage, ob und wie man Geld, will sagen: Zahlenkolonnen, die abstrakte Werthaltigkeiten symbolisieren, Symbolsätze also von einem unsichtbaren Schriftstück auf ein anderes unsichtbares Schriftstück übertragen soll; dass Tausende, ja Zehntausende – also: die Bevölkerung ganzer Landstriche – die Frage umtreibt, wie sie an die Berechtigung kommen können, zwei Gruppen Menschen beim Ballspiel beobachten zu dürfen; dass zukünftige Menschen in Gesellschaft anderer Menschen nicht mit den Menschen reden, in deren Gesellschaft sie sind, sondern mit solchen, die abwesend und fern sind und über winzige Instrumente Mitteilung darüber machen, wo sie sind.

Hätten die Zeitgenossen des Visionärs die Visionen verstanden?

Möglicherweise ja.

Möglicherweise aber auch nicht.

Dietmar Daths Roman ist keine Erzählung nach Maßgabe des Möglicherweise. Ein Roman, der uns ein Gefühl dafür vermittelt, dass Zukunft – also: die echte Zukunft – uns in ihren Kerngeschäften wie in den meisten ihrer Randgebiete unverständlich sein könnte.

Das ist durchaus nicht immer angenehm. Die volkstümliche Science Fiction vermittelt ihren Lesern ja sonst bevorzugt das Gefühl, wir, die Heutigen, seien unbegrenzt zukunftsfähig (will sagen: könnten bleiben, wie wir sind), könnten also noch mühelos mitmachen, selbst wenn die Klingonen kommen. Und die Klingonen müssten es denn auch schon sein oder andere Kreaturen mit futuristischen Äxten und geriffelten Nasenrücken, um das Land Übermorgen unter Spannung zu setzen.

Dietmar Daths Buch ist spannend, gewiss, kommt aber ohne Klingonen und andere Axtschwinger aus. Er ist actiongeladen, ja geradezu furios (wie einige seiner Hauptfiguren gleich zu Beginn und zu ihrem Leidwesen merken, als sie bereits nach einigen Seiten Abenteuer das Zeitliche segnen müssen), doch die Geschichte macht es einem nicht eben leicht zu verstehen, worum es eigentlich geht – gerade so, wie unser anachronistischer Freund im Jahre 1 Schwierigkeiten haben dürfte mit der Lektüre des Handelsblatts oder einer PC-Games-Fachpublikation unserer Tage.

Ganz grob sieht es so aus: In der entlegenen Zukunft des Romans haben die Menschen sich nicht nur im Sternenraum ausgebreitet und sind dabei auf allerlei eigenartige Aliens gestoßen, sondern sie haben sich auch physisch weiterentwickelt, sie haben ihre Gehirne und die daraus blühenden Bewusstseine gepimpt mit Quantencomputern (»Tlaloks«), die sie zur »twiSicht« befähigen, oder mit »sTlalkos«, die gleich neue Gehirne simulieren.

Zu den fremden Völkern, denen der optimierte Mensch auf seinen Sternenwegen begegnet, gehören die Nachkommen von Magnetovoren, die in den Peripherien von Sternen entstanden sind, gewitzte Virenkollektive, hochintelligente Hundeartige und entwicklungsgeschichtlich uralte Reptilien, die Menschen als »mehlwurmartige Kreaturen betrachten«.

Man bewegt sich via Ahtotüren durch den Kosmos, künstliche Abkürzungen durch die Raumzeit, die zu bauen es einer gewissen programmierbaren Materie bedarf.

Die interstellare Gesellschaft des Romans ist kunterbunt, spiegelt aber doch überraschenderweise alt-terranische Erfahrungswirklichkeit wieder: »Das Zerbrechen von Beziehungen der Vertrautheit und der Versuch, sie auf einer neuen Erfahrungshöhe wieder anzuknüpfen, Erschütterungen zivilisierter Gemeinwesen, Exil, Migration, Flucht und Vertreibung, Kommunikation und Missverständnis, das Aussenden und Empfangen von Botschaften: Das sind die Themen des Romans« – ein Themen-Potpourri, das sowohl den Herz-Schmerz-Schmöker wie die alltägliche Tagesschau von ARD und ZDF und noch das Oberseminar für Kommunikationsdesign umfasst.

Es menschelt nämlich, und es wird noch Staat gemacht auch kurz vor der alles umwälzenden Pulsarnacht. Der Zukunftsstaat heißt »die Vereinigten Linien« – eine lose Förderation, die lediglich durch einen Katalog demografischer Gesetze zusammengehalten wird. Diese Gesetze bestimmen die »Lebensdauer von mit Tlaloks ausgestatteten Personen relativ zur Anzahl ihrer Nachkommen«. Zweck der Gesetze: Die Partnerzivilisationen der Vereinigten Linien sollen vor einer durch Wachsen und Mehren der Menschheit drohenden Expansion geschützt werden, oder anders gesagt: Die Menschheit schützt die Galaxis vor sich selbst – und setzt ihre zu diesem Zweck erlassenen Gesetze zur Not mit Waffengewalt durch, und zwar mit dem präsidialen Militär, das der Präsidentin der Linien zu Gebote steht, einer gewissen Shavali Castanon.

Aber natürlich hat Castanon, Friedensfürstin und/oder Monarchin des Superstaates der Vereinigten Linien, ihre Feinde, und zudem droht eine Erschütterung nicht nur der Vereinigten Linien, sondern des gesamten Universums. Ein Ereignis steht bevor, das nach Maßgabe der Naturwissenschaft eigentlich unmöglich sein sollte: die Pulsarnacht nämlich, die dem Roman auch den Titel gibt.

Von dieser Pulsarnacht sagen und singen die sogenannten »Dims«, »Denk- und sprachbegabte, zweigeschlechtliche, bis auf bestimmte Körperregionen fellfreie (…) Haus und Arbeitstiere« – man könnte sagen: in die Zukunft verschlagene Menschen der Jetztzeit. Diese Dims erwarten mit der Pulsarnacht ein mythisches, epochemachendes Ereignis: »Zu einem bestimmten Zeitpunkt (…) wird die pulsierende Radio- und sonstige Signaltätigkeit aller Pulsare aussetzen, und an jedem beliebigen Punkt des Universums wird diese Signalverdunkelung gleichzeitig wahrnehmbar sein (…). Dieses Ereignis ist nicht nur, aber vor allem wegen des Bruchs der Gesetze der Relativitätstheorie unmöglich.« Aber, wie das so ist mit Einbrüchen der Transzendenz ins Diesseits, mit welt- und menschheitserlösenden Auferstehungen, Himmelfahrten und Inkarnationen Shivas: »Es tritt dennoch ein.«

Und es erweist sich als ein metaphysisch-heilsgeschichtliches Ereignis, das den theologischen Modellen vom Werden und Vergehen der Welt vergangener Zeit gar nicht so fern liegt: »Die Pulsarnacht. Sie ist ein Zeichen für die Umstellung von synchronen auf asynchrone Vorgänge in dem Rechnerkomplex, der unser Universum ist. (…) Die Rechnung tritt in eine neue Phase ein. Das Universum kommt seinem Ergebnis näher.«

Nein, ich werde den Verlauf des Romans nicht nacherzählen – zumal der Text sich gegen ein Nacherzähltwerden sträubt: Einen großen Teil seines Charmes verdankt er der fantasievoll-fantastischen Beleuchtung zukünftiger Alltäglichkeit, dem Umgang der um ihre Tlaloks ergänzten Männer und Frauen. Aber ich möchte den Roman loben als ein ungemein farbenprächtiges, abgründig-detailverliebtes, in vielen Passagen die Herzschlagfrequenz durch pure Faszination erhöhendes Werk, das sich vorwagt in eine Zukunft, die unsere Vorstellungskraft erweitert, indem es sie sprengt.

Dafür Dank an Sprengmeister Dath.

Dietmar Dath: Pulsarnacht · Roman · Wilhelm Heyne Verlag, München 2013 · 495 Seiten · € 10,99 (E-Book – im Shop ansehen)

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