19. Juli 2021

Die Zukunft ist glanzlos

Mein Leben als Lottokönig, oder: Loblied auf das Ananastörtchen

Lesezeit: 4 min.

„Da war nichts!“, strahlte mich die Lottofee in unserem Lottogeschäft an und hielt triumphierend den Lottoschein in die Luft. „Kann der weg, oder nochmal spielen?“

„Was würde das kosten, für vier Wochen?“

„Gegenfrage: mit oder ohne Spiel 77 und Super 6?“

Manche Niederlagen kann man überhaupt nur ohne psychischen Schaden überwinden, wenn man sich danach ein Ananastörtchen gönnt.

Die Ära der Ananastörtchen neigt sich, niemand weiß warum eigentlich, dem Ende zu. Kaum ein Konditor hat sie mehr im Angebot, stattdessen Mangoschaumschnickschnack und vegane Erbsenlakritzkringel mit handgeschältem Rohrzucker aus Usbekistan.

Immerhin sind die Ananastörtchen alter Tage noch in der verschwiegenen Konditorei Café Urbach im schönen Wanne-Eickel zu haben – nach telefonischer Vorbestellung und Terminvereinbarung.

Das Café Urbach stellte in seinen besten Zeiten Fein- und Süßgebäck in einer ewig langen Theke zur Schau, die Kunden drängten sich in drei, vier Reihen und spähten: Würden von ihrer Leib- und Magenspeise noch genug Tortenstücke zur Verfügung stehen? Das waren bange Momente auch für mich. Ich wurde gerne Kuchen holen geschickt; ich behielt die Ananastörtchen im Auge. Das weiße Packpapier knisterte, der Sahnespender zischte. Hinter dem Thekenraum für die Laufkundschaft öffnete sich ein Saal mit Tischen und schweren Sesseln, dort wurde von schwarz gekleideten Fräuleins mit weißen Schürzen serviert. Mitte der Siebzigerjahre spielte im Café Urbach längst keine Live-Musik mehr, aber man schob Kassetten ein, und wenn Udo Jürgens die Mär von Mathilde, Ottilie, Marie und Liliane trällerte, fiel der ganze Saal inklusive Saaltöchter ein: „Aber bitte mit Sahne!“

Der Saal steht heute leer. Die Kunden betreten einsam und zu gegebener Zeit den Verkaufsraum. Neulich las ich, dass besagte Konditorei sogar einen Eintrag auf einer Leckerschmeckerkonditorenkritikseite hat; ich zitiere: „Unfreundliches Personal mit arrogantem Gehabe, überteuertem Durchschnittsgebäck. Höhepunkt meines ersten und letzten Besuchs dort war das Gelächter des Personals, welches mich verhöhnte, weil das bestellte Motiv für die Torte fünfzig Euro anstatt wie vorher vereinbart fünfzehn Euro kosten sollte. Selbstredend war es dann auch noch das falsche Motiv.“

Wusste der Kunde nicht, dass man sich die Zuneigung seines Zuckerbäckers erst verdienen muss? Wenn der Kritiker dieses eine Mal, nicht mehr und nicht weniger oft, den Laden betreten hat wie behauptet – wann und wie bitteschön hat er denn das Tortenmotiv bestellt? Stille Post? Rohrpost? Brieftauben? Welches Motiv eigentlich? Picassos neun Monate lang ausgebrütete „Les Demoiselles d’Avignon“? Etwas aus den „Carceri“ unseres Freundes und Kupferstecher Piranesi? Ein Detail aus Edgar Endes unvollendetem Gemälde „Garmisch in der totalen Tortennacht mit Messerschmitt Bf 109“?

Edgar Ende (der Vater von Michael „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ Ende) war im Jahr 1928 bekanntlich von Altona nach Garmisch übergesiedelt, auf der Suche nach jenem Mädchen, in das er sich verliebt und das vom Vater, einem überzeugten Kunstbanausen, in eben dieses Garmisch verbracht und versteckt gehalten worden war. Dort machte Ende in der Pension Nirwana die Bekanntschaft des Schriftstellers Heinrich Mann; gemeinsam wollten sie an einem Bilderbogenbuch arbeiten: „Die schönste Konditorin von Patenkirchen“. Es war eine wilde Zeit, und es kam, wie es kommen musste: Eines Tages geriet Ende in einen nicht enden wollenden Regen, die Sintflut ein flüchtiger Kuss dagegen; er flüchtete, da jede Konditorei außer Reichweite, in jenes Bunte Haus in der Bahnhofsstraße, in dem Luise Bartholomä ihr Geschäft für Spitzen und Edelsteine betrieb. Der Regen floss in Strömen, wie aus Kübeln, junge Hunde, keine Lichtung auch nicht über den Ladenschluss hinaus in Sicht. Frau Bartholomä hatte schon alle ihre Auslagen, teils Edelsteine, teils Spitzen, hergezeigt, lud den Regenflüchtling zum Tee, und so erblickte am 12. November 1929 ihr gemeinsamer Sohn Michael das Licht der Welt, der mit der Lokomotive.

Als Kind und in einem wundersamen Augenblick war mir die Lösung des Lottorätsels erschienen; plötzlich wusste ich, welche Zahlen unbedingt und unfehlbar am nächsten Samstag von der seinerzeit amtierenden Lottofee würden gemeldet werden. Wie hieß noch einmal die Lottofee der mittleren Sechzigerjahre? Karin Tietze-Ludwig? Karin Dinslage? Karin Fuchsberger-Frankenfeld? Irgendwas mit Karin jedenfalls.

Leider hatte ich damals gerade mein Taschengeld für PERRY RHODAN, Superman und Batman verprasst. Kein Spiel, kein Glück. So blieb der damalige Lottoschatz ungehoben, Karin sah tröstend in die Kamera und sprach: „Wie immer ohne Gewähr.“

Wie oft habe ich seitdem mit Geld, aber ohne System am Spiel teilgenommen; wie oft habe ich mir ausgemalt, was ich mit dem Gewinn Gutes tun würde, zum Beispiel … Aber ich will die Leserschaft nicht langweilen. Kaufen wir uns nicht alle mit dem Lottoschein ein Stück Glanz für die Zukunft; öffnen wir uns nicht alle mit Zahl und Zusatzzahl Tore in eine Utopie, einen alternativen Zeitverlauf, in dem wir, allen Geldsorgen enthoben, im vergoldeten offenen Messerschmitt Kabinenroller durch die Stadt brausen und Smarties, Schokoschaumküsse, Spitzentücher und Edelsteine in die Menge werfen? „Da kommt er“, rufen die Kleinen und Kleinsten. „Unser Lottokönig!“

Aber ach, die richtigen Zahlen, ein einziges Mal und mit Kinderaugen erblickt, sie wollen nicht fallen. Ist es zu spät? Zu früh? Die Zukunft bleibt glanzlos. Dem einen schallt das höhnische Gelächter der Konditoren in den Ohren; dem anderen schlägt die Lottofee einen Zahn aus, weil sie lieber Zahn- als Lottofee wäre; die dritte wird von ihrem Vater vor den Augen eines Künstlers verborgen, den der Regen deswegen einer anderen in die Arme spült.

Gerecht ist das nicht.

Erträglich aber wird es hin und wieder durch ein Ananastörtchen – das kostet weniger als ein Lottoschein.

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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