29. Mai 2014 1 Likes

Singularitäten und Albträume

David Brin schreibt über die Bandbreite möglicher Zukünfte

Lesezeit: 45 min.

Um Ihnen heute Nacht angenehme Träume zu bescheren, möchte ich einige denkbare Szenarien für die kommende Zeit erörtern – Veränderungen, die sich innerhalb der nächsten zwanzig Jahre ereignen könnten, im Zeitraum einer Generation; Szenarien, die von einigen der klügsten Denker der Gegenwart ernsthaft in Betracht gezogen werden. Mögliche Transformationen des menschlichen Lebens auf der Erde. Vielleicht sogar dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Was wäre beispielsweise, wenn Biologen und Biochemikern mit ihren Laboren das Gleiche gelänge, was die Kybernetiker mit ihren Computern geschafft haben? Wenn sie ihre gewaltigen biochemischen Anlagen von hausgroßen Kolossen zu rundum kompakten Einheiten verkleinern, billiger und leistungsfähiger, als man sich das heute vorstellen kann? Ist nicht eben das mit den gigantischen Computern vergangener Zeiten geschehen, sodass Ihr Handy heute mehr Rechenleistung erbringt und hoch entwickelter ist als alle Computer der NASA zur Zeit der Mondmissionen zusammen? Diejenigen, die diese Veränderung vorhersahen, konnten auf der Welle der neuen Technologien surfen. Einige haben einen Haufen Geld dabei gemacht.

Biologen haben bereits große Fortschritte auf dem Weg zu dieser Veränderung erzielt. Nehmen wir beispielsweise die DNS-Sequenzierung, die – in den Anfangszeiten des Humangenomprojekts – für jede einzelne Probe Hunderte von Millionen Dollar kostete. Dieser Vorgang ist nun derart automatisiert – und hat sich dabei sehr viel schneller miniaturisiert, als es das Mooresche Gesetz vorhersagt –, dass bald zu jeder Vorsorgeuntersuchung eine vollständige Gen-Auswertung gehören wird.

Nun stelle man sich anhand einfacher Extrapolation die weitere Entwicklung vor, in deren Verlauf ein komplettes biochemisches Labor von Hausgröße zu einem preiswerten Gerät verkleinert wird, das auf jedem Schreibtisch Platz hat. Ein Molekül-Mac, wenn man so will. Die Möglichkeiten sind zugleich wundervoll und beängstigend. Wenn sich Medikamente und Therapien von einem fähigen medizinischen Assistenten schnell modifizieren lassen, sollte das uns allen zugute kommen.

Aber wird es dann nicht auch das biochemische Äquivalent zu einem »Hacker« geben? Stellen sie sich eine Zukunft vor, in der junge Leute überall auf der Welt jede beliebige organische Verbindung analysieren und synthetisieren können. Falls es dazu kommt, sollten wir lieber darauf hoffen, dass sich im gleichen Zug auch die künstliche Intelligenz und die Robotik weiterentwickeln … sodass wir uns unsere Hamburger bei Maschinen bestellen können. Ich werde dann zumindest in keinem Fast-Food-Restaurant mehr essen, das übellaunige menschliche Heranwachsende beschäftigt, die anstelle toller Rezepte einfach ihre heimischen Molekular-Synthesizer zum Einsatz bringen. Sie etwa?

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich würde darauf wetten, dass, sollten wir jemals Molekül-Macs auf unseren Schreibtischen stehen haben, 99% ihrer Produkte neutrale bis positive Auswirkungen haben werden, genau wie der Großteil der Software, die kreative junge Innovatoren heutzutage entwickeln. Aber wenn wir uns schon in der Welt der Bits und Bytes über die 1% bösartigen Hacker und Cyber-Saboteure Sorgen machen – was soll dann erst geschehen, wenn diese Art von »Kreativität« sich der Ursubstanz des Lebens zuwendet? Ganz zu schweigen von der Möglichkeit des Missbrauchs durch größere Organisationen – Terrorgruppen, außer Kontrolle geratene Großunternehmen oder diktatorische Regimes.

Die Lage erscheint noch besorgniserregender, wenn wir uns der nächsten Stufe jenseits der Biotechnologie zuwenden. Bereits jetzt sind allerlei Bedenken darüber im Umlauf, was passieren wird, wenn die Nanotechnologie – in Form ultra-kleiner Maschinen, die Produkte nach genauen Bauplänen Atom für Atom zusammensetzen – erst einmal richtig Fahrt aufnimmt. Molekulare Herstellungsverfahren könnten hypereffiziente Fabriken zur Folge haben, die mit einer schwindelerregenden Rate materiellen Reichtum produzieren. Nano-Reparatursysteme könnten in die Blutbahn eindringen, um Krankheiten zu heilen oder Körperfunktionen aufs Feinste abzustimmen. Visionäre sagen voraus, dass diese Technologie es uns ermöglichen könnte, den Planeten vor den früheren Fehlern der Menschheit zu retten, indem sie das Recycling hartnäckiger Giftstoffe beschleunigt. Die Geräte auf unseren Schreibtischen werden am Ende vielleicht Universalfabriken sein, die praktisch jedes Rohmaterial in jedes gewünschte Produkt verwandeln können.


Wer wollte nicht schon immer mal in seiner Garage ein Lebewesen erschaffen?

Andererseits (so fürchten einige) könnten außer Kontrolle geratene Nanomaschinen die ultimative Umweltverschmutzung darstellen. Eine sich selbst vervielfältigende Plage, die alles in Reichweite verschlingt und die Erdoberfläche möglicherweise in grauen Schleim[1] verwandelt. In seinem Roman »Blutmusik« stellt Greg Bear das Für und Wider nanotechnologischer Möglichkeiten ausgewogen dar, während das reißerische Buch »Beute« von Michael Crichton gemäß der üblichen Formel des Autors das Bild einer geheimnisvollen Organisation zeichnet, die in ihrer Arroganz und Hybris die technologische Entwicklung ungeachtet möglicher Nachteile oder Folgen vorantreibt. (Tatsächlich ist die Ursache der Bedrohungen bei allen typischen Crichton-Plots immer unkluge Geheimniskrämerei, ein Thema, auf das wir noch zurückkommen werden.)

In der Betrachtung all dieser Technologien muss unsere Hauptfrage immer diejenige sein, die in der Vergangenheit über die Kernkraft aufgeworfen wurde – ob wir als Menschen mit dem Tempo unserer technologischen Entwicklung mithalten können. Wenn man eine einzige Sorge auswählen sollte, die die Menschen über alle oberflächlichen ideologischen Differenzen und Glaubensunterschiede hinweg teilen, dann lautete sie wohl:

»Ist es nicht ein Jammer, das unsere Weisheit nicht mit unserer technologischen Entwicklung mithalten kann?«

Während dieses Klischee auf der Ebene des einzelnen Menschen und sogar in Bezug auf größere Entitäten wie Firmen, staatliche Behörden oder politische Parteien – ganze Nationen – offenkundig zutrifft, möchte ich behaupten, dass das auf der höheren Ebene der menschlichen Zivilisation als Ganzes nicht so eindeutig der Fall ist. »Weisheit« sollte anhand von Ergebnissen und Verfahren bemessen werden, nicht anhand der Wahrnehmung oder des Denkens irgendeiner Einzelperson, sei sie auch ein Guru oder ein Weissager.

Man denke an das Endergebnis des Kalten Krieges – eine Zeit entsetzlicher Spannungen und Ängste, in der man sich praktisch sicher war, dass das Experiment unseres Planeten mit intelligenten Lebensformen sich als schrecklicher Fehler erweisen würde. Und doch stellte sich dieses Zeitalter zur Überraschung aller übellaunigen Zyniker als erstes bekanntes Beispiel dafür heraus, dass die Menschheit ein Mittel zur massiven Gewaltanwendung in die Finger bekommen kann … um sich dann weitestenteils vom Abgrund des selbstverschuldeten Untergangs abzuwenden. Ja, wir haben durchaus noch immer die Mittel zur völligen Selbstvernichtung! Aber zwei Generationen beispielloser Zurückhaltung lassen erahnen, dass wir immerhin in einer Hinsicht etwas weiser geworden sind. Unsere diesbezüglichen Fortschritte kann man etwa so zusammenfassen: »He, wie wäre es, wenn wir uns heute mal nicht in die Luft jagen?«

Toll – wir sind also gelegentlich dazu in der Lage, das Offensichtliche einzusehen. Aber sind wir bereit für ein neues Zeitalter, dessen Dilemmata nicht mal ansatzweise so unkompliziert sind? In Zukunft geht die schlimmste Gefahr für die Zivilisation vielleicht nicht so sehr von eindeutig identifizierbaren und benennbaren Widersachern aus, die in einem ganz bestimmten, standardisierten Wettstreit gewinnen wollen, sondern eher von einer allgemeinen Demokratisierung der Mittel, mit denen Schaden angerichtet werden kann. Neue, über das Internet verbreitete und billig anzuwendende Technologien werden immer mehr Menschen Zugang zu Zerstörungswerkzeugen verschaffen – Werkzeuge, die diese Menschen aufgrund tatsächlicher oder eingebildeter Missstände, aus Gier, Empörung oder einfach, weil es sie gibt, auch einsetzen werden.

Das Retro-Rezept: die Abschwörung

Angesichts des Ansturms von Bio- und Nanotechnologie, künstlicher Intelligenz und derlei mehr hegen manche nur noch geringe Hoffnungen, dass eine entschieden offene menschliche Gesellschaft überleben kann. Für diese Pessimisten – beispielsweise Aktivisten konservativ-fundamentalistischer religiöser Bewegungen – scheint die Ablehnung wissenschaftlichen und technischen Fortschritts etwas ganz Natürliches zu sein. Aber die Abkehr von rasenden Veränderungsprozessen – die Idee des Abschwörens – hat auch an verschiedenen anderen Orten Fuß gefasst und gewinnt überall auf der politischen und philosophischen Landkarte an Zuspruch, insbesondere bei der extremen Rechten und Linken.

Man nehme die Romane und Aussagen von Margaret Atwood, Autorin von »Der Report der Magd« und »Oryx und Crake«. Ihre Geschichten vermitteln einen Generalverdacht gegen das Neue, der beinahe identisch mit der Grundhaltung des verstorbenen Michael Crichton ist. Obwohl sie in oberflächlichen politischen Fragen weit auseinander liegen, bringen beide mit schöner Regelmäßigkeit ihre Sorge über oder sogar ihren Hass auf die anmaßende Arroganz größenwahnsinniger technischer Innovatoren zum Ausdruck, die die Natur einfach nicht in Frieden lassen können.

Im Reich der Fiktion, wo ökonomische Triebkräfte Autoren und Filmregisseure dazu zwingen, es möglichst spannend zu machen, kann man das ja verstehen. Welche bessere Möglichkeit gibt es, die Helden in nervenzerfetzende Gefahr zu bringen, als die, einen schrecklichen gesellschaftlichen oder technologischen Fehler zu postulieren? An anderer Stelle setze ich mich kritisch mit der Frage auseinander, warum moderne Geschichtenerzähler den scheinbar unbezähmbaren Drang verspüren, Wissenschaft, Gesellschaft und unsere Nachbarn ins denkbar schlechteste Licht zu rücken.[2]

Aber dieses Thema durchzieht auch die nicht-fiktionalen Vorhersagen mürrischer Intellektueller von beiden Enden des politischen Spektrums. Seitens der Linken wird diese Haltung vor allem von dem legendären Linguisten Noam Chomsky und seinen postmodernen Kollegen verkörpert, die die anmaßende Hybris technischer Ambitionen geißeln. Am entgegengesetzten Ende der Skala steht Francis Fukuyama, der an der Stanford University internationale politische Ökonomie unterrichtet. Dr. Fukuyamas bekanntestes Buch, »Das Ende der Geschichte« (1992), erklärte den Zusammenbruch des Kommunismus triumphierend zum wahrscheinlich letzten aufrüttelnden Ereignis, das Historiker für dokumentierenswert halten würden. Von da an sollten wir laut Fukuyama die liberale Demokratie als einzigen verbliebenen Entwicklungsweg für menschliche Gesellschaften erblühen sehen, ohne nennenswerte Widerstände oder Zwischenfälle. Schluss mit den »interessanten Zeiten«.[3] Doch Fukuyama blieb nicht lange so zuversichtlich; schon bald sah er potenziell verhängnisvolle »Geschichte« in Form der störenden Auswirkungen neuer Technologien.

Als Hofintellektueller der Bush-Administration und Angehöriger des Bioethik-Rats des Präsidenten verurteilte er später eine ganze Bandbreite biologischer und kybernetischer Forschung als zerstörerisch und sogar amoralisch. Laut Fukuyama kann man nicht darauf vertrauen, dass die Menschen beim Einsatz von – beispielsweise – Gentherapien vernünftige Entscheidungen treffen. Die menschliche »Verbesserungsfähigkeit« sei ein so gefährliches Konzept, dass man es aufgeben solle, und zwar in praktisch jeder Hinsicht. In »Das Ende des Menschen« (2002) verschreibt Fukuyama der Menschheit paternalistische Gremien aus Regierung und Industrie, die ganze Forschungsrichtungen kontrollieren oder verbieten und nur die genehmen Fortschritte weitergeben sollen.

Selbst in der technologischen Elite gibt es anscheinend für jede Rose des Optimismus einen schwarzen Krokus. Vor langer Zeit, im 20. Jahrhundert, veröffentlichte der ehemalige Wissenschaftschef von Sun Computers im Wired-Magazin[4] ein trauriges Manifest, in dem er ausgerechnet den Unabomber zitierte, um einer Idee Vorschub zu leisten, die gleichzeitig alt und neu ist: dass unsere einzige Hoffnung auf Überleben vielleicht darin besteht, mehreren Bereichen des technologischen Fortschritts endgültig zu entsagen, sie aufzugeben oder zu unterdrücken.

Kein Problem, antwortete darauf Robert Gordon, ein Wirtschaftswissenschaftler der Northwestern University, der in seinen Abhandlungen behauptet, dass der technische Fortschritt sich ohnehin verlangsamen wird, ob wir nun eingreifen oder nicht. Gordon – und andere Vertreter der »Peak-Theorie« - gehen davon aus, dass die industrielle Revolution ein Ausnahmefall war und jetzt, nachdem die Zivilisation die leicht erreichbaren Früchte von den unteren Ästen gepflückt hat, alles sehr viel langsamer gehen wird.

Wie entrinnen wir dem Treibsand der Verzweiflung?

Vielleicht ahnen Sie bereits, dass ich meine Zweifel an der Abschwörungs-Bewegung habe. Zum einen besteht die Frage, wie wir ein Forschungsverbot weltweit durchsetzen sollten? Können solche Werkzeuge überhaupt für immer unterdrückt werden? Können wir sie sowohl den Eliten als auch den Massen vorenthalten? Und wenn ja, wie?

Obwohl einige der Fehlermodi, auf die Bill Joy, Francis Fukuyama und die schlaueren Abschwörern hinweisen, plausibel erscheinen und es sicher Wert sind, genauer in Augenschein genommen zu werden, ist schwer einzusehen, wie wir etwas erreichen sollen, indem wir zu Neo-Ludditen werden. Gesetze zur Beschränkung des technischen Fortschritts werden von Gruppen, die am extremistischen Rand der Gesellschaft, wo die schlimmsten Gefahren lauern, vor sich hin köcheln, mit Sicherheit missachtet werden. Selbst erbitterte Repression – möglicherweise ergänzt durch praktisch allwissende und allgegenwärtige Überwachung – wird nicht verhindern, dass die gesellschaftlichen Eliten an solchen Technologien forschen und sie sich zunutze machen. (Großkonzerne, die Regierung, Aristokraten, Verbrecher, Ausländer … suchen sie sich ihren liebsten Buhmann mit unverantwortlich viel Macht aus.) Seit Jahren fordere ich Abschwörer dazu auf, mir einen einzigen Fall in der gesamten menschlichen Geschichte zu nennen, in dem die Mächtigen etwas Derartiges zugelassen haben. Insbesondere, wenn davon auszugehen ist, dass die Neuerungen ihnen zugute kämen.

Da niemand mir so einen Fall nennen konnte haben einige Abschwörer erwidert, dass all die neuen Mega-Technologien – einschließlich Bio- und Nanotechnologie – vielleicht am besten zum Einsatz gebracht und weiterentwickelt werden können, wenn nur wissende Eliten Zugriff auf sie haben, vielleicht sogar im Geheimen. Wenn so viel auf dem Spiel steht, sollten dann nicht die Edelsten und Klügsten die Entscheidungen zum Besten Aller treffen? Fairerweise muss ich einräumen, dass das eine historische Beispiel, dass ich hier bereits erwähnt habe – das der Atomwaffen – diese Vorstellung in gewissem Maße stützt. Sicherlich hat es in diesem Fall zu unserer Rettung beigetragen, dass nur eine geringe Anzahl von Leuten die Entscheidungen traf, durch die ein verhängnisvoller Krieg hätte ausgelöst werden können.

Aber standen die politischen Vorgänge in dieser Zeit nicht ständig im Licht der Öffentlichkeit? Wurden diese Anführer nicht von der Öffentlichkeit überwacht, zumindest auf der mächtigeren und technologisch weiter fortgeschrittenen Seite? Dazu kam, dass die Entscheidung über den Einsatz von Atombomben kaum durch Fragen des Eigeninteresses beeinflusst wurde. (Howard Hughes hat nicht versucht, sich ein eigenes nukleares Arsenal zu verschaffen und es einzusetzen.) Die Eliten, die die gewaltigen Vorzüge und potenziellen Kosten von Bio- und Nanotechnologie abwägen, werden hingegen sehr wohl von ihren eigenen Interessen beeinflusst werden.

Und ist die Geheimniskrämerei von Eliten nicht eben der Fehlermodus, vor dem Crichton, Atwood und so viele andere bei ihren Predigten wider die technologische Hybris immer wieder anschaulich warnen? Die Geschichte ist voller Beispiele für die wahnhaften Umtriebe von Angehörigen einer selbstherrlichen Oberschicht, die einander Lügenmärchen erzählen, während sie gleichzeitig jeder Kritik aus dem Weg gehen, die die Fehler in ihrem großen Plan aufdecken könnte. Wenn die Abschwörer eine Rückkehr zum Paternalismus verordnen – eine Kontrolle durch unnahbare Eliten, die sich nicht verantworten müssen –, schlagen sie uns damit nicht genau das Szenario vor, das wir alle – zu Recht – am meisten fürchten?

Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass die Abschwörer zwar wortreich und detailliert über mögliche Fehlermodi berichten, aber meistens nicht so genau sagen können, welche Kontrollinstanzen die Drecksarbeit erledigen sollen, den technischen Fortschritt zu unterdrücken. Oder wie eine solche Abkehr flächendeckend durchgesetzt werden kann. Tatsächlich können die Unterstützer einer solchen Idee auf kein historisches Beispiel dafür verweisen, dass die Unterdrückung von Wissen jemals zu irgendetwas außer der Vermehrung von menschlichem Leid geführt hat. Und bislang ist noch nicht ein einziger dieser Vorschläge auch nur auf die Kernfrage eingegangen, wie man gewisse Eliten – vielleicht sogar alle Eliten – am Schummeln hindern soll.

Im Endeffekt würde man nur die große Menge der gewöhnlichen Menschen ausschließen und ihre zahllosen Augen, Ohren und Stirnlappen aus dem Fehlerdetektorennetzwerk der Zivilisation entfernen. Am Wichtigsten aber ist, dass die Abschwörung eine ziemlich verzweifelte und untypische Maßnahme für unsere optimistische, pragmatische, anpackende Kultur wäre.

Die selten erwähnte Alternative: wechselseitige Rechenschaft

David Brin: The Transparent SocietyIch stehe Joy, Atwood und Fukuyama trotz all meiner Kritik wohlwollender gegenüber, als man meinen sollte. In »The Transparent Society« berichte ich viel Gutes über Gesellschaftskritiker, die aufschreien, wenn sie eine potenzielle Gefahr auf unserem Weg sehen.

In einer Welt, die sich rasend schnell verändert, können wir die Vorteile des wissenschaftlichen Fortschritts nur maximieren – und den unvermeidlichen Schaden nur minimieren –, indem wir die großartigen Werkzeuge der Offenheit und der Rechenschaftspflicht einsetzen. Vor allem müssen wir anerkennen, dass lautstarke Kritik das einzige bekannte Antidot gegen den Irrtum ist. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist es diese kollektive Form von »Weisheit«, die uns bisher gerettet hat. Sie hat wenig bis gar keine Ähnlichkeit mit der Art von individueller Weisheit, die wir Priestern, Gurus und Großmüttern zuschreiben … aber sie ist auch nicht so abhängig von Perfektion. Sie führt nicht so schnell in die Katastrophe,  falls der gesalbt Mittelpunkt aller Weisheit einen unvermeidlichen Fehler begeht.

Deshalb finde ich verdrossene Schwarzmaler eigentlich höchst erquicklich! Ihre Existenz treibt den Fortschritt voran, indem sie übereifrige Technikbegeisterte infrage stellt und herausfordert. Diesen Vorgang nennt man wechselseitige Rechenschaft. Ohne kluge Nörgler, die immer wieder gerne auf mögliche Fehlermodi hinweisen, befänden wir uns vielleicht wirklich in der Gefahr, vor der diese Nörgler warnen. Ironischerweise ist es gerade eine offene Gesellschaft – in der die sauertöpfischen Kassandras Gehör finden –, die wahrscheinlich nicht dazu gezwungen sein wird, abzuschwören und auch keine drakonischen Formen des Paternalismus nötig hat.

Ich sehe schon ein, dass die Abschwörer mit ihren grundsätzlichen Bedenken nicht völlig Unrecht haben. Wenn die Gesellschaft so dumm bleibt, wie sie in den Augen einiger ist – oder selbst, wenn sie so schlau ist, wie ich denke, aber nicht noch schlauer wird –, dann wird nichts, was die Leute auf tausend gut gemeinten Futurologen-Konferenzen planen oder machen, viel bewirken. Es wird das Unvermeidliche lediglich hinauszögern.

In dem Fall erfahren wir endlich die Antwort auf eine Frage, die der Wissenschaft noch immer Rätsel aufgibt – warum es kein ernsthaftes Anzeichen von außerirdischen Zivilisationen gibt.[5] Sie wird ganz einfach sein: Wann immer eine technologische Kultur auf die Nagelprobe gestellt wird, zerstört sie sich selbst. Diese Möglichkeit lauert für immer am Rande unseres Blickfelds und erinnert uns daran, wie viel auf dem Spiel steht.

Andererseits finde ich mehr als genug Anlass zu der Vermutung, dass wir diese ernste Sorge widerlegen können. Als Angehörige einer offenen und kritischen Zivilisation – die mittels wechselseitiger Rechenschaft jeden erdenklichen Fehlermodus aufspürt und untersucht – sind wir möglicherweise auf einzigartige Weise dafür ausgestattet, die vor uns liegende Herausforderung zu bewältigen.

Zumindest macht es sehr viel mehr Spaß, das zu glauben.

Das positive Szenario – die Singularität

Von den verdrossenen Abschwörern haben wir gehört. Jetzt wollen wir eine andere Zukunft in Augenschein nehmen, das Szenario all jener, denen zufolge uns nach oben buchstäblich keine Grenzen gesetzt sind. Bei vielen unserer großen Denker geht eine Idee um – ein neues »Mem«, wenn man so will – nach der wir kurz vor dem Abheben sind. Es handelt sich um die Idee einer bevorstehenden technologischen Singularität.

Der Science-Fiction-Autor Vernor Vinge (im Shop) gilt als wichtigster Popularisierer dieser Idee, obwohl es sie bereits seit Generationen in vielerlei Form gibt. Etwas neuer ist Ray Kurzweils Buch „Menschheit 2.0: Die Singularität naht“, in dem er die Ansicht vertritt, dass unsere wissenschaftliche Kompetenz und technologisch verstärkte Kreativität schon bald sprunghaft ansteigen und die Menschheit in ein ganz neues Zeitalter katapultieren werden.

Man könnte das als moderne Hightech-Variante von Teilhard De Chardins Noosphären-Apotheose bezeichnen – eine nahende Zeit, in der die Menschheit einen dramatischen und entscheidenden Übergang in einen höheren Bewusstseins- oder Seinszustand erfahren könnte. Nur dass sie diese Transzendenz nicht durch Meditation, gute Taten oder edle Geistesgesinnung erlangt; diesmal lautet die Idee, dass wir von Generation zu Generation wachsende Bildung, Kreativität und computervermitteltes Wissen verwenden können, um sowohl unserer Umwelt als auch unserer eigenen primitiven Triebe in kluger Weise Herr zu werden.

Ray Kurzweil
Wird Ray Kurzweil wirklich ewig leben?

Mit anderen Worten können wir vielleicht erst die Kontrolle über Brahmas »Lebensrad« erringen, um anschließend zu lernen, wie wir es in jede gewünschte Richtung lenken.

Wie sonst würden Sie es nennen …

  • Wenn wir anfangen, unserer Körper mittels Nanotechnologie auf Zellebene zu reparieren?
  • Wenn wir auf den neuesten Stand der Forschung gelangen können, indem wir uns die entsprechenden Informationen einfach wünschen, worauf autonome Software-Agenten sie uns liefern, so schnell und einfach wie der eigene Arm sich bewegt, wenn man das möchte?
  • Wenn sofortige Produktion auf Nachfrage so alltäglich ist, dass Reichtum und Armut zu praktisch inhaltslosen Begriffen werden?
  • Wenn die Erfahrung virtueller Realität – beispielsweise der Besuch eines weit entfernten Planeten – sich nur noch schwer von der Wirklichkeit unterscheiden lässt?
  • Wenn wir alle so viele »Bedienstete« haben können, wie wir wollen, die uns allesamt so treu ergeben sind wie die eigene rechte Hand – seien es nun Roboter oder Software-Wesenheiten?
  • Wenn die technisch verbesserte menschliche Intelligenz sich zu neuen Höhenflügen aufschwingt und uns – im Gedankenaustausch mit Lichtgeschwindigkeit – dazu verhilft, ganz neue Ebenen des Denkens zu erschließen?

Natürlich kann man sich fragen, wie sich diese Vorstellung von einer »Singularität« im Vergleich zur langen Tradition des Nachdenkens über menschliche Transzendenz macht. Die Idee, auf eine andere Ebene der Existenz aufzusteigen, ist ja nun wirklich alles andere als neu! Sie durchzieht die gesamte Kulturgeschichte als handele es sich bei ihr um etwas, das aus unserer grundlegenden Natur erwächst.

Tatsächlich klammern sich viele Gegner von Wissenschaft und Technik an ihre eigenen Vorstellungen von einer messianischen Verwandlung; Vorstellungen, die – mal ganz ehrlich – viele emotionale Untertöne mit der technikbetonten Version gemein haben, auch wenn der Weg zu dieser Verwandlung bei ihnen ein anderer ist. Im Laufe ihrer Geschichte haben die Menschen weit mehr über den spirituellen Weg zu diesem Ziel sinniert und spekulierten darüber, ob man es mithilfe von Gebeten, moralischen Verhaltens, geistiger Disziplin oder durch das korrekte Aufsagen von Beschwörungsformeln erreichen könne. Vielleicht, weil ihnen keine anderen Mittel als Gebete und Beschwörungsformeln zur Verfügung standen.

Im vergangenen Jahrhundert hat eine intellektuelle Tradition, die sich als »Techno-Transzendentalismus« bezeichnen ließe, einen fünften Weg zur Transzendenz vorgeschlagen: Ihr zufolge kann eine neue Existenzebene oder ein verlockenderer Seinszustand mittels Wissen und Geschick erreicht werden.

Aber mittels welcher Art von Wissen und Geschick?

Je nachdem, zu welcher Zeit man zufällig lebt, wechselt der Techno-Transzendentalismus von einer Mode zur Nächsten und hängt seine Hoffnungen immer an die gerade angesagte wissenschaftliche Geschmacksrichtung. Vor hundert Jahren ersannen beispielsweise der Marxismus und der Freudianismus komplexe Modelle der menschlichen Gesellschaft – oder des menschlichen Geistes – und sagten vorher, dass eine rationale Anwendung dieser Modelle und Regeln für weit mehr Glück und Zufriedenheit in der Welt sorgen würde.[6] Wenig später gerieten manche Gruppen angesichts der weitverbreiteten Erfolgsmeldungen über Fortschritte in Landwirtschaft und Evolutionsbiologie in den Bann der Eugenik, die verhieß, das menschliche Tier aufzuwerten. Hier und dort hatte das unglückliche und sogar entsetzliche Folgen. Und doch ist dieser immer wiederkehrende Traum in jüngerer Vergangenheit mit den Versprechen der Gentechnik und Neurotechnologie in neuer Form wiederauferstanden.

Diejenigen, die sich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts für Atomkraft begeisterten, versprachen unermesslich billige Energie. In den Siebzigern und Achtzigern verbreitete sich eine ähnliche Leidenschaft für die Vorstellung, das All zu besiedeln, und heutzutage ist nach wie vor der Cyber-Transzendentalismus im Schwange, der allen absolute Freiheit und Privatsphäre verspricht, wenn wir nur endlich anfangen, jede Internetnachricht zu verschlüsseln, um die zerbrechlichen Geschöpfe an den wirklichen Tastaturen hinter einer perfekten Maske der Online-Anonymität zu verbergen. Einige haben die langfristige Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass man den menschlichen Geist irgendwann auf einen Computer hochladen können wird - oder in die grenzenlose neue Welt des Cyberspace Mitte des 21. Jahrhunderts, um so das Individuum endgültig aus seiner Knechtung durch seinen grobschlächtigen und fehlbaren organischen Körper zu befreien.

Diese langlebige Tradition – dass kluge Menschen ihre Überzeugung und Begeisterung in Träume von Transzendenz kanalisieren – verrät uns eine ganze Menge über einen Aspekt unserer Natur, eine Eigenschaft, die alle Kulturen und alle Jahrhunderte durchzieht. Sehr oft geht solcher Glaubenseifer mit Verachtung für unsere gegenwärtige Gesellschaft einher: dem Glauben, dass eine Erlösung nur außerhalb unseres normalen kulturellen Netzwerks erreicht werden kann; eines Netzwerks, das klugen Philosophen – oder Nerds – oft nicht besonders wohlwollend gegenübersteht. Nur selten wird darüber geredet, wie viel diese glühenden Vertreter – zumindest auf emotionaler Ebene – mit denjenigen gemeinsam haben, die an ältere, traditionellere Arten der Apotheose glauben, in denen der Schwerpunkt eher auf geistige oder spirituelle Methoden zur Vergöttlichung gelegt wird.

Diese lange Geschichte müssen wir im Kopf behalten, wenn wir uns ihrer jüngsten Phase zuwenden: dem Glauben an die segensreichen Auswirkungen eines exponentiellen Leistungszuwachses unserer Rechenmaschinen. Der Vorstellung, dass diese ständig zunehmende Rechenleistung unser Wissen, unsere Weisheit und unser Glück in ebenso großem Maße steigern wird.

Dieser Vorstellung habe ich schon oft Folgendes entgegengehalten: »Nenne mir einen Fall in der gesamten menschlichen Geschichte, in dem ein solcher Glaube tatsächlich Früchte getragen hat. Solltest du, angesichts all der anderen Generationen, die sich ihrer eigenen Transformationsidee so sicher waren, deine nagelneue Variante nicht etwas kritischer betrachten … und sie vielleicht sogar in Zweifel ziehen?«


Eines der ältesten Science-Fiction-Motive: das Gehirn im technischen Nirwana

Vielleicht ist es bloß ein Traum

Kann es sein, dass sowohl die Jünger der Singularität als auch die Abschwörer es ein bisschen übertreiben? Unterfüttern wir den Ansatz des Zweifels doch mal etwas. Vielleicht hat es mit all dem Gerede von einer dramatischen Veränderung, die sich noch zu unseren Lebzeiten ereignen könnte, genau so wenig auf sich wie bei früheren Gelegenheiten: Vielleicht ist es eher auf Wunsch- (oder Angst-)Denken zurückzuführen als auf irgendwelche beweisbaren oder pragmatischen Überlegungen.

Man nehme Jonathan Huebner, einen Physiker, der im Naval Air Warfare Center des Pentagons in China Lake, Kalifornien, arbeitet. Er stellte die ganze Idee des zunehmenden technischen Fortschritts infrage, indem er die Rate »bedeutsamer wichtiger Innovationen pro Person« untersuchte. Anhand des Buches »The History of Science and Technology« kam Huebner zu dem Schluss, dass die Innovationsrate 1873 ihren Höhepunkt erreichte und seitdem stetig abnimmt. Tatsächlich ist unsere gegenwärtige Innovationsrate – die Huebner bei sieben wichtigen technischen Entwicklungen pro einer Milliarde Menschen jährlich ansiedelt – etwa so hoch wie um 1600. Im Jahre 2024 wird sie auf etwa dasselbe Maß gefallen sein, das sie im finsteren Mittelalter des 8. Jahrhunderts hatte. »Die Zahl der bedeutsamen Fortschritte stieg nicht exponentiell an, es waren nicht so viele zu finden, wie ich erwartet hatte.« Huebner wartet mit zwei möglichen Erklärungen auf: eine hat mit Wirtschaft zu tun und die andere mit der Größe des menschlichen Gehirns. Entweder lohnt es sich einfach nicht, an gewissen Erfindungen zu arbeiten, weil sie sich nicht auszahlen werden – ein Grund dafür, dass die Erforschung des Weltalls zum Stillstand gekommen ist –, oder wir wissen bereits mehr oder weniger alles, was wir wissen können, weshalb es immer schwieriger wird, etwas Neues zu entdecken.

Robert J. Gordon und Ben Jones, die beide an der Northwestern University unterrichten, haben Huebner in seinen generellen Befunden beigepflichtet und das Problem mit dem der Roten Königin in »Alice hinter den Spiegeln« verglichen: Wir müssen immer schneller laufen, um zu bleiben, wo wir sind. Jones hat allerdings eine andere Erklärung dafür, warum es dazu gekommen ist. Seine erste Theorie besteht darin, dass die frühen Erfinder die leicht zu erreichenden Ideen, das »Obst von den unteren Ästen«, bereits abgepflückt haben. Die späteren Generationen müssen sich dann mit den schwierigeren Problemen abmühen. Oder vielleicht hat die gewaltige Ansammlung von Wissen auch zur Folge, dass Innovatoren länger studieren müssen, um genug zu lernen, damit sie etwas Neues erfinden können, wodurch sie einen geringeren Teil ihres aktiven Lebens auf solche Neuerungen verwenden. »Mir fällt auf, dass die Nobelpreisgewinner älter werden«, sagte er.[7]

Gordons Erklärung ist einfacher. Sie lautet, dass der plötzliche Zugriff auf fossile Brennstoffe im Industriezeitalter es der Menschheit ermöglicht habe, auf eine sehr viel höhere Ebene zu springen als die, auf der sich menschliches und tierisches Vermögen bis dahin bewegten, aber dass es nie wieder einen auch nur ansatzweise vergleichbaren Sprung geben wird.

Und in gewisser Hinsicht trifft das offenkundig zu! Wie oft kann man Familien oder ganze Nationen aus bitterer Armut erheben und ihnen ein Zuhause mit Strom, sanitäre Einrichtungen, genug zu Essen und eine Schule für die Kinder geben … etwas, das (wenn auch auf sehr geringem Niveau) bei beinahe vier Fünfteln der Kinder auf der Erde der Fall ist? Verglichen mit diesem Sprung sieht jede zukünftige Weiterentwicklung alt aus. Tatsächlich stellt dieser Umstand das Kernargument der Kritik des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Wirtschaftswissenschaftlers Paul Krugman an Gordon & Co. dar. Wenn es einem gelingt, ein großes Ziel zu erreichen, sollte man denselben Standard dann – wie beispielsweise einer Steigerung des Bruttosozialprodukts oder des Energieverbrauchs – zum Maßstab jedes weiteren Fortschritts erheben? Oder wendet man sich neuen Zielen zu, die ganz eigene Maßstäbe haben?[8]

Die Spezialisierungsfalle

Auf einer gewissen Ebene spricht durchaus etwas für die Position dieser Singularitäts-Zweifler. Tatsächlich haben bereits in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts bekannte SF-Geschichten eine Verlangsamung des Fortschritts prophezeit, denn wenn mehr bekannt ist, müssen Spezialisten auf einem bestimmten Feld immer mehr über immer weniger lernen – auf immer kleineren Gebieten –, um den Wissensstand auch nur ein winziges bisschen voranzubringen. Als ich in den 60er Jahren an der Caltech studierte hat es uns jungen Semestern beispielsweise schreckliche Sorgen bereitet, dass allein schon die Monatsschrift Chemical Abstracts immer dicker wurde, wodurch es uns immer schwerer fiel, sie auf für unser Gebiet relevante Artikel hin querzulesen.

Und doch entstand aus dieser Entwicklung in den darauffolgenden Jahrzehnten niemals die befürchtete ernste Gefahr. Tatsächlich sind Chemical Abstracts und seine Artgenossen aus den Bibliotheken verschwunden und im Internet in weit beweglicherer Form wiederaufgetaucht. Die Suche nach relevanten Informationen – selbst, wenn sie einem nur entfernt verwandten Feld angehören – geht inzwischen mittels Software-Agenten und -Hilfen so schnell, dass die Vorstellung, unser gewaltiger und ständig wachsender Wissensberg könne in irgendeiner Weise zum Problem werden, abwegig erscheint.

Tatsächlich sind die Argumente Gordons, Huebners und Jones‘ ziemlich leicht zu zerlegen.[9] Beispielsweise ist es nur natürlich, dass die Erfindungen und Durchbrüche unserer Zeit uns mit bloßem Auge betrachtet weniger eindrucksvoll erscheinen. So viele unserer Forschungsbemühungen richten sich inzwischen auf die Quantenebene oder fassen die Grenzen unseres Kosmos ins Auge, Gegenstände, die nicht Teil unseres Alltagsbewusstseins sind. Was die Biologie betrifft, erregen nur wenige Schritte – wie zum Beispiel der Abschluss des Humangenomprojekts – als eindeutige »Durchbrüche« öffentliche Aufmerksamkeit. Aber solche Meilensteine lassen sich schwer nachverfolgen in einem Feld, das von Grund auf derart komplex und verschwommen ist. Das bedeutet aber nicht, dass in der Biologie keine schnellen oder grundlegenden, vielleicht sogar umwälzenden Fortschritte gemacht würden. Schließlich mag es tatsächlich der Fall sein, dass viele Forscher heutzutage erst in höherem Alter zu Ehren kommen, aber spiegelt sich darin nicht zum Teil auch wieder, dass die Menschen länger leben und längst nicht so viele sterben, bevor sie überhaupt für eine Auszeichnung in Betracht gezogen werden?

Tatsächlich gibt es noch eine weitere Tendenz, die ebenfalls einem Produktivitätskollaps in der Wissenschaft entgegenwirkt. Zugegebenermaßen handelt es sich um einen völlig subjektiven Faktor. Und doch ist er meiner Erfahrung nach sogar noch wichtiger als Online-Suchtechnologien. Schlicht gesagt denke ich, dass die Menschheit schlauer wird. Man nehme den »Flynn-Effekt«, der über mehrere Generationen hinweg anscheinend einen langsamen, aber deutlichen Anstieg der IQ-Werte in der gesamten industrialisierten Welt zeigt. In der Masse betrachtet handelt es sich um ein sehr kleines Phänomen. Aber angesichts der Ausmaße unserer Schwierigkeiten sollten wir lieber hoffen, dass es tatsächlich real ist!

Am oberen Ende der Skala ist dieser Effekt vielleicht am deutlichsten zu bemerken. Im Laufe der Jahrzehnte hatte ich zu Hunderten von Forschern und anderen Personen Kontakt, und mir ist aufgefallen, dass die besten und klügsten Wissenschaftler geistig immer beweglicher werden und ein weniger begrenztes Vorstellungsvermögen zeigen, während sie es mit immer komplexeren Problemen zu tun bekommen. Ich kann diese Behauptung nicht durch Statistiken und Analysen unterfüttern. Ich habe nur meine Beobachtung, dass mir viele der Professoren und Forscher aus meinem Bekanntenkreis heute sehr viel lebhafter, aufgeschlossener und interessierter an anderen Wissensgebieten vorkommen als Jahrzehnte zuvor, als ich diese Menschen kennengelernt habe – obwohl sie inzwischen ein gutes Stück älter sind. Physiker interessieren sich mehr für Biologie, Biologen für Astronomie, Ingenieure für Kybernetik und so weiter – was in krassem Gegensatz zu dem steht, was zu erwarten wäre, wenn die Spezialgebiete sich immer mehr verengen würden. Und wenn Kultur unsere Fähigkeit zur Kreativität beeinflusst, dann setzt diese Lockerung der Zunftgrenzen möglicherweise geistige Ressourcen frei, die andernfalls erstickt würden.

Diese Tendenz wird vielerorts bewusst gefördert, beispielsweise am Sixth College der University of California in San Diego, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Brücken zwischen Kunst und Wissenschaft zu schlagen und damit C.P. Snows Klage darüber, dass die »beiden akademischen Kulturen« einander nie begegnen könnten, zu widerlegen suchen. Auf demselben Campus haben alle Fachbereiche, vom Tanz bis zur Neurologie, die Einrichtung des Arthur C. Clarke Center of Human Imagination mit ihrer Unterschrift unterstützt. Und an vielen anderen Orten werden die alten Barrieren starrer Klassifikationen beiseite geräumt, um Platz zu machen für gemeinsame Projekte technisch versierter Künstler und Techniker, die die ästhetische und kreative Seite des Lebens schätzen.

Was Gordon, Huebner und Jones vor allem zu übersehen scheinen ist, dass komplexe Hindernisse von komplexen Wesen in der Regel überwunden werden können. Selbst wenn Einstein und einige andere die unteren, für das individuelle Genie erreichbaren Äste leergepflückt haben, hindert das Gruppen – Institutionen, Teams und Jungunternehmer – nicht daran, menschliche Pyramiden zu bilden, um gemeinsam an die Früchte an den oberen Ästen heranzukommen. Das gilt umso mehr, wenn zu diesen Teams ganz neue Arten von Mitgliedern gehören – Software-Agenten und Suchmethodologien, weltweite Assoziationsnetzwerke und selbst interessierte Amateure, die über ein Open-Source-Modell mitarbeiten. Oder wenn Myriaden ehrgeizige Unterfangen den Ort ihrer Kreativität auf eine Vielzahl preisgünstiger Desktops verteilen.

Warum der Fortschritt nicht zum Stillstand kommen muss

Für jeden Pessimisten gibt es als Gegengewicht einen Optimisten. In ihrem 2012 erschienen Buch »Überfluss: Die Zukunft ist besser, als Sie denken« untersuchen Peter Diamandis und Stephen Kotler die menschlichen Bedürfnisse nach Kategorien – Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Freiheit – und stellen anhand von Dutzenden von Innovationen dar, welche großen Fortschritte die Menschheit in jedem dieser Bereiche macht. Und »Singularitäts-Afficionados« wie Ray Kurzweil gehen sogar noch sehr viel weiter und spekulieren, dass künstliche Intelligenz es uns ermöglichen würde, unsere Probleme mit Leichtigkeit zu überwinden.

Auch theoretischer Ebene unterstützt auch der holländisch-amerikanische Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr in seinen Büchern »The Lever of Riches« und »The Gifts of Athena« die Ansicht, dass unsere freiheitliche und demokratische Zivilisation über die einzigartige Fähigkeit verfügt, ständigen Fortschritt zu produzieren. Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ist ein neuer Faktor in der menschlichen Gleichung aufgetaucht: ein freier Wissensmarkt. Mit Mokyr gesprochen müssen wir niemanden mehr dafür köpfen, dass er das Falsche sagt – selbst Menschen, die nur in 5% aller Fälle recht haben, finden Gehör. Dieses »gesellschaftliche Wissen« ist progressiv und schlägt sich auch in Institutionen nieder, die sich im Gegensatz zu Individuen über unsere tierische Natur erheben können.

Allerdings macht es Mokyr Sorgen, dass die Gesellschaft vielleicht Fortschritte macht, die menschliche Natur aber nicht. »Unser aggressiver Stammescharakter ist fest in uns verdrahtet, er wurde nicht reformiert und lässt sich auch nicht reformieren. Jeder für sich genommen sind wir Tiere, und als solche zum Fortschritt unfähig.« Es komme darauf an, diese tierische Natur mittels wirksamer Institutionen zu bändigen: Erziehung, Gesetz, Regierung. Allerdings geht auch mit diesen Konstrukten nicht unbedingt alles gut. »Was mir Angst macht«, erklärt er, »ist die Vorstellung, dass diese Institutionen Fehler begehen können.«

Damit erfasst er den entscheidenden Punkt an unserem jüngsten Aufklärungs-Experiment: John Lockes Ablehnung übermäßiger romantischer Vereinfachung zugunsten pragmatischer, flexibler Institutionen, die die Wirkung unserer Verbesserungsbemühungen – die den Engelsteil unserer Natur darstellen – möglichst weit steigern. Nur so können sich unsere kreativen Kräfte gegenseitig verstärken. Gleichzeitig sollen dieselben Institutionen und Vorkehrungen unseren »Teufeln« einen Strich durch die Rechnung machen – jenen allgegenwärtigen menschlichen Neigungen zur Selbsttäuschung und zum Schummeln.

Natürlich sträubt sich die menschliche Natur gegen diese Fesseln. Selbsttäuscher und Schummler denken sich ständig Rechtfertigungen dafür aus, die Vereinbarungen der Aufklärung zu umgehen und sich Vorteile zu verschaffen, indem sie deren Institutionen schwächen – entweder von innen heraus oder indem sie die Konkurrenz unterdrücken. Nichts dürfte mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern einer Singularität führen als das zu gestatten.

Selbstverbesserung

Wenden wir den Blick wieder in eine andere Richtung: Was, wenn wir bald nicht nur dazu in der Lage sein werden, die kreativen Institutionen der Aufklärung zu bewahren und zu verbessern, sondern auch zu dem, was Mokyr für unmöglich hält? Was, wenn wir die menschliche Natur tatsächlich verbessern können? Ich erwähnte bereits den Flynn-Effekt, der vermuten lässt, dass eben das bereits in bescheidenem Maßstab geschieht. Jetzt stellen Sie sich vor, welche Auswirkungen es hätte, wenn man die allgemeine menschliche Intelligenz auf einer makroskopischen Ebene steigern würde, sei es mittels besserer Bildung, »schlauer Medikamente«, technisch unterstützter Sinneswahrnehmung oder neuer Selbstkonditionierungsmethoden. Dabei müsste es sich gar nicht notwendigerweise um gruseliges SF-Zeug handeln. Es braucht vielleicht gar nicht viel, damit unsere Institutionen – Märkte, Wissenschaft, Demokratie usw. – sehr viel besser funktionieren, als sie es ohnehin schon tun.

Kleine Tendenzen können größere Entwicklungen auslösen, insbesondere, wenn künstliche Intelligenz ins Spiel kommt. Aber Intelligenz bringt ihre eigene Komplexität mit. Was wäre beispielsweise, wenn KIs miteinander konkurrieren würden? Was, wenn sie zusammenarbeiten würden?

Was bleibt ist ein Bild, das die einfache und saubere Vorstellung von einer »Singularitätskurve« Lügen straft … einer Kurve, die immer weiter ansteigt, als einfache mathematische Funktion, bei der Wissen und Fähigkeiten sich ständig selbst anschieben, als handele es sich dabei um ein Naturgesetz. Selbst bei dem meistpropagierten Beispiel für diese Art von Kurve, Moores Gesetz – das die rasend schnelle Zunahme verfügbarer Rechenleistung im Verhältnis zu den fallenden Kosten erfolgreich beschreibt – ging nie alles glatt. Wichtige Entscheidungen genau zur rechten Zeit – von denen einige pure Glücksfälle waren – retteten Moores Gesetzte viele Male vor der Kollision entweder mit technischen Barrieren oder den gnadenlosen Gesetzen des Marktes.


Ist die Matrix das Nirwana – oder ein Gefängnis?

Ja, bislang hatten wir offenbar Glück. Kybernetik, Erziehung und zahllose weitere Faktoren haben uns dabei geholfen, der »Spezialisierungsfalle« zu entgehen. Aber wie wir in diesem Abschnitt erfahren haben sind vergangene Erfolge keine Garantie dafür, wie sich die Zukunft verhält. Die Vorhersage von sich in alle Ewigkeiten fortschreibenden Aufwärtstrends, die fast schon wieder ein Glaubenssatz ist, erweist sich als nicht fundierter als die Behauptungen anderer Transzendentalisten, die seinerzeit im Brustton der Überzeugung andere Entrückungen und Erfüllungen vorhergesagt haben.

Vier mögliche Zukünfte

Die vorliegenden Möglichkeiten verteilen sich offenbar auf vier grobe Kategorien:

1. Selbstzerstörung: Wir gehen in Flammen auf, fallen dem Verderben anheim oder sterben wie die Fliegen. Oder wir begehen ökologischen Selbstmord. Oder die Gesellschaft bricht zusammen. Suchen Sie sich ihre Lieblingskatastrophe aus, gefolgt von einer Zeit, in der unsere wenigen Nachkommen (wenn es überhaupt welche geben sollte) voll Neid auf uns zurückblicken wie auf Halbgötter, die in einem goldenen Zeitalter lebten … bevor sie es versemmelt haben. Für einen wunderbar deprimierenden und informativen Einblick in diese Möglichkeit empfehle ich Jared Diamonds »Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen«. (Man beachte, dass Diamond sich auf ökologische Katastrophen beschränkt und damit die große Bandbreite denkbarer Katastrophen nur ankratzt.) Auf eine Besonderheit sei hingewiesen: Für gewöhnlich stellen wir uns vor, dass die Selbstzerstörung Folge von Fehlern der herrschenden Elite sein wird. In diesem Artikel haben wir allerdings auch die Möglichkeit erörtert, dass sie sich aufgrund der allgemeinen Demokratisierung der Vernichtungswerkzeuge ereignen wird – oder, wie Thomas Friedman es einmal ausdrückte, aufgrund »der absoluten Ermächtigung des wütenden jungen Manns.«

2. Das entgegengesetzte Extrem: Wir erreichen irgendeine Art von »positiver Singularität« – oder zumindest einen Phasenwechsel zu einer höherstehenden und wissenderen Gesellschaft, die zwar ihre eigenen, für uns noch nicht vorstellbaren Probleme haben mag, in der aber alle Probleme, die wir uns heute vorstellen können, gelöst sind. Eine positive Singularität mit »weicher Landung« könnte den Weltbürgern beispielsweise jede erdenkliche egalitäre, freiwillige Möglichkeit bieten, an spektakulären Fortschritten oder Selbstverbesserungen teilzuhaben, aber gleichzeitig fest in den im Kern bleibenden Werten von Toleranz, Anstand und Positiv-Summen-Spielen verankert bleiben. In diesem Szenario könnten alle neuen Intelligenzen – seien sie künstlich, »erhoben« oder abgespaltene neue Menschenarten – bequeme Nischen finden in einer Kultur, die jeden willkommen heißt und selbst die Loyalität von Übergeistern verdient.

3. Dann gibt es die »negative Singularität« – eine Version der Selbstzerstörung, bei der der technische Fortschritt tatsächlich nach oben schnellt, jedoch in einer Art und Weise, die Angehörigen unserer Generation ganz und gar nicht schmecken würde. Darunter fiele zum Beispiel die Unterdrückung der Menschheit durch superintelligente Nachfolger (wie in Terminator oder Matrix) oder schlicht und einfach die Möglichkeiten, dass wir von Superwesen »zurückgelassen« werden, die uns den Kopf tätscheln, um sich anschließend bedeutenderen, der Menschheit 1.0 auf ewig verschlossenen Angelegenheiten zuzuwenden. Selbst diese sanfteste und gutartigste Version einer »negativen Singularität« ist einigen wachsamen Abschwörern ein Graus, darunter Bill Joy, der die Aussicht, dass die Menschheit einmal nicht mehr die Krone der Schöpfung auf Erden sein könnte, verabscheut.

4. Schließlich gibt es das Abschwörungs-Szenario: Wir wenden uns von all diesen schweren Entscheidungen ab, indem wir zu einer traditionelleren menschlichen Gesellschaftsform mit klaren Beschränkungen zurückkehren, zum Beispiel zu der Herrschaftspyramide, die mindestens sechs Jahrtausende lang für statische Gleichförmigkeit gesorgt hat. Streng konservative Oligarchien würden jede Technologie unterdrücken, die zu Ergebnis 1, 2 oder 3 führen könnte. Mit sechstausend Jahren Erfahrung im Rücken würden unseren Feudalherren zusätzlich hoch entwickelte Machtwerkzeuge zu Gebote stehen, von allgegenwärtigen Überwachungskameras bis hin zu einer Geheimpolizei, die mit Lügendetektoren und sogar mit Geräten, die teilweise Gedanken lesen könnten, ausgerüstet wäre. Wenn wir den Oligarchen die nötige Macht geben, werden sie so ein Szenario zweifellos verwirklichen – denn die Geschichte zeigt, dass es sich hierbei um das vorherrschende und natürlichste Ergebnis handelt, wenn kleine Gruppen an die Macht kommen.

Joel Garreaus gutes Buch »Radical Evolution« wartet mit einem ähnlichen Bestiarium von Zukünften auf. Garreau stellt zwei extreme Szenarios dar – »Himmel« und »Hölle« – um dann ein drittes zu postulieren – »Überwindung« –, das ihm am wahrscheinlichsten vorkommt. Wenn die verschiedenen Wege, die wir einschlagen können, einem so vor Augen geführt werden, erscheint die unmittelbar vor uns liegende Zeit beängstigend![10] Gut möglich, dass wir – wie ich es in vielen meiner Romane darstelle – eben jetzt in die Phase eintreten, in der das Schicksal der gesamten Menschheit entschieden wird.

Gibt es etwas, das garantiert nicht eintreten wird? Natürlich: jene Art von Zukunft, wie sie am meisten in Science-Fiction-Filmen dargestellt wird! Wir werden keine Zukunft erleben, die an Blade Runner erinnert, oder an irgendeine andere Cyberpunk-Dystopie. Solche Welten, in denen gewaltige Technologien nicht durch größere Klugheit oder Verantwortlichkeit aufgewogen werden, könnten sich niemals am Leben erhalten.

Welche Ergebnisse scheinen plausibel?

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass, je schneller die Zukunft auf uns zu rast und bei Hunderten von Millionen Alvin Tofflers »Zukunftsschock« auslöst, immer mehr schrille Aufrufe zum Abschwören ertönen werden, und dass die Bandbreite der Rufer von religiösen Konservativen (aller Glaubensrichtungen) bis hin zu staatsfixierten Paternalisten reichen wird. Tatsächlich könnte Ergebnis Nummer 4 für eine ganze Weile erfolgreich sein. Es passt zur menschlichen Vergangenheit – zu unseren Mythologien und den zahllosen Jahrhunderten, in denen unsere Vorfahren starren Feudalhierarchien ohne Fragen zu stellen die Treue gehalten haben, ein Reflex, der noch heute in vielen beliebten Fantasy-Geschichten und -Filmen bedient wird. Selbst hier im Westen, wo wir mit Motiven wie dem Misstrauen gegen Autoritäten (MgA) groß geworden sind, neigen wir dazu, unsere eigene Lieblingselite zu rechtfertigen – Linke ignorieren die Gefahr einer übermächtigen Regierung, während Rechte Ausreden für die besonders großen Oligarchen finden. Immer heißt es: »Unsere Leute würden klug herrschen!«

Mit Sicherheit hat Ergebnis 4 auch seine Vorzüge. Man nehme die quasi-konfuzianische Gesellschaftsordnung, die von den scheinkommunistischen Herren Chinas angestrebt wird – es handelt sich um einen entschlossenen Versuch, autoritäre Herrschaft auf den neuesten Stand zu bringen, bereichert um die Effizienz des Kapitalismus und eine Prise Meritokratie als Triebmittel.[11] Gelingt es einer aktualisierten und modernisierten Variante der Herrschaftsgesellschaft vielleicht, beunruhigende technologische Tendenzen einzudämmen, während sie gleichzeitig ein wenig Fortschritt erlaubt, der natürlich strengen Kontrollen unterliegt? Gewiss lässt sich auch eine pyramidenförmige Gesellschaftsordnung einrichten, die weit besser ist als ihre (elenden) Vorläufer.

Allerdings handelt es sich bei einer solchen Gesellschaftsordnung offenkundig um eine Absage an die Aufklärung und alles, wofür sie steht, einschließlich John Lockes Hoffnung, dass reguliertes, aber weitgehend freies zwischenmenschliches Handeln besser dazu geeignet ist, Probleme zu lösen als die Entscheidungsgewalt einer herrschenden Elite.

Trotzdem möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass die Abschwörung wahrscheinlich auf lange Sicht eine Totgeburt sein dürfte. Die menschliche Natur macht die Herrschaft gelassener, leidenschaftsloser und weiser »Philosophenkönige«, wie Platon sie uns verschreiben wollte, unmöglich. Über sechzig Jahrhunderte hinweg ist sie nach jedem Maßstab gescheitert – von der Wirtschaft bis zur Staatskunst, vom Umgang mit Ökologie bis hin zum menschlichen Glück. Selbst die entschieden öko-protektionistischen Despotien, die Jared Diamond laut eigener Aussage bewundert, zerstörten ihre Umwelt nach und nach. Möglichkeit 4 ist ein langsameres Sterben, auf das letztlich doch unausweichlich der Tod folgt.

Was die anderen drei Entwicklungswege angeht, kann keiner ihrer Vertreter – von den »extropischen« utopisch-transzendentalistischen Eiferern bis hin zu den miesepetrigen Pessimisten – beweisen, dass einer wahrscheinlicher ist als der andere. (Wie können in einem früheren, gröberen System erstellte Modelle das Verhalten eines späteren und weit komplexeren Systems angemessen simulieren und vorhersagen?) Wir können nur versuchen zu begreifen, welche Vorgänge unsere Chancen steigern, zu besseren, stabileren Ergebnissen zu gelangen.

Sollen wir unser Vertrauen noch für eine Weile in John Locke setzen? Unsere Zivilisation kennt einzigartige Methoden dafür, mit radikalen Veränderungen zurechtzukommen. Beispielsweise werben die meisten Werke der Populärkultur nicht nur für Misstrauen gegen Autoritäten (MgA)[12], sondern auch für Exzentrizität, Wertschätzung von Unterschieden, soziale Mobilität und wissenschaftlichen Fortschritt – alles Konzepte, die in einer großen Mehrheit menschlicher Gesellschaften aktiv und energisch unterdrückt wurden, weil sie das stabile feudale Gleichgewicht gefährdeten. Aufgrund dieser Konzepte leben wir in einer unruhigen und zerstrittenen Gesellschaft, die aber andererseits voller kluger Menschen ist, die uns ständig mit der Nase auf mögliche Fehlentwicklungen stoßen. Wie Teile eines Immunsystems decken diese »gesellschaftlichen T-Zellen« oft Fehlermodi auf, die in weniger offenen Kulturen unbemerkt geblieben oder vertuscht worden wären. Aus diesem Vorgang leitet sich der Aphorismus CITOKATE ab: Criticism is the only known antidote to error.

Bislang können wir uns noch nicht anmaßen zu behaupten, dass dieser neue (erst ein paar Jahrhunderte alte) Ansatz besonders vernünftig oder naheliegend sei. Anderswo auf der Welt halten viele den Westen für völlig verrückt, und nicht ganz zu Unrecht! Jedenfalls kann es nicht zu einer positiven Singularität (Ergebnis 2) kommen, wenn nur Zentrifugalkräfte im Spiel sind und es keine ausgleichenden Zentripetaltugenden gibt, die uns als Gesellschaft einander respektierender souveräner Bürger zusammenhalten. Wenn wir das MgA-Ethos ins Extrem steigern und anfangen, selbst unseren besten Institutionen zu misstrauen, dann könnte die westliche Gesellschaft auseinanderfliegen, bevor sie jemals ihre viel gerühmten Ziele erreicht, und Ergebnis 1, 3 oder 4 hinterlassen.

Am wichtigsten aber ist (wie ich in »The Transparent Society« erläutere), dass unsere größten Innovationen, die Arenen der Rechenschaft[13], in denen wichtige Fragen entschieden werden – Wissenschaft, Gerechtigkeit, Demokratie und fairer Handel – nicht willkürlich sind. Sie beruhen auch nicht auf einer Laune oder Ideologie. Alle vier sind davon abhängig, dass Widersacher auf einem eigens darauf ausgerichteten Spielfeld miteinander konkurrieren, wobei sie auf schmerzliche Weise lernen müssen, dass gewisse Vereinbarungen nötig sind, um die Sorte Schummeln zu unterbinden, durch die Menschen im Wettstreit untereinander normalerweise den Sieg davontragen. Am wichtigsten ist, dass Wissenschaft, Gerechtigkeit, Demokratie und freie Märkte von der gegenseitigen Rechenschaftspflicht abhängig sind, die aus freiem Informationsfluss entsteht.

Geheimniskrämerei ist der Feind, der sie alle vernichten kann, und sie kann sich wie eine Krankheit ausbreiten und unsere zerbrechliche Renaissance verderben.

Die besten Methoden zur Fehlervermeidung

Während wir Hals über Kopf in die Zukunft stürmen, besteht unser dringlichstes Ziel darin, eine ganze Reihe von Treibsandlöchern – Fehlermodi – zu entdecken (und zu umgehen). Auf die Gefahr hin, eine übertriebene Vereinfachung zu wiederholen, möchte ich nochmals feststellen, dass wir dafür zwei Methoden haben. Die eine ist Antizipation. Die andere ist Anpassungsfähigkeit.

Bei der ersten Methode verwenden wir unsere berühmten Stirnlappen – unsere jüngsten und unheimlichsten Nervenorgane – um in die Zukunft zu spähen, Gedankenexperimente durchzuführen, Probleme vorauszusehen, Modelle zu entwickeln und im Vorhinein Gegenmaßnahmen zu planen. Antizipation kann uns entweder das Leben retten … oder einer der schillerndsten Wege zur Selbsttäuschung sein.[14]

Der andere Ansatz – Anpassungsfähigkeit – hat damit zu tun, stabile Systeme zu errichten, Reaktionsprotokolle zu schaffen, seine Kräfte aufzuteilen und Werkzeuge zu ersinnen, die mit praktisch allen auftretenden Problemen fertig werden können – selbst mit solchen, die sich unsere berühmten Stirnlappen nie ausgemalt haben.

Natürlich sind beide Methoden miteinander kompatibel, sie ergänzen sich sogar. Wir haben eine insgesamt bessere Computerindustrie, weil ein Teil davon ihren Hauptsitz in Boston hat und ein Teil in Kalifornien, wo eine andere Unternehmenskultur herrscht. Firmen, die eine »nordöstliche Mentalität« erlernt haben, versuchen, einwandfreie Produkte herzustellen. Angestellte arbeiten manchmal jahrzehntelang bei der gleichen Firma. Sie fühlen sich verantwortlich. Sie beseitigen alle Macken, bevor sie ein Produkt auf den Markt bringen. Zu solchen Leuten geht man, wenn man ein Programm für Bankautomaten oder einen militärischen Radar will, weil selbst die Beta-Version nicht allzu viele Fehler haben darf, ganz zu schweigen von allen Geldautomaten im Land!

Die Leute im Silicon Valley denken hingegen manchmal wie Vertreter einer ganz anderen Gattung. Sie schreien: »Raus damit! Wir führen es erst einmal ein und finden die Pannen später! Unsere Kunden sagen uns schon, wo wir nachbessern müssen. Sie wollen das Neueste vom Neusten, pfeif auf Perfektion.« Unser heutiges Internet ist aus solcher kreativer Hefe entstanden, die sich schnell an die hervortretenden Eigenschaften eines Systems angepasst hat, welches sich als weit komplexer und fruchtbarer erwies als seine ursprünglichen Entwickler es erwartet hatten. Manchmal ist ein Plan gerade dann am besten, wenn er Raum für das Unbekannte lässt.


Es sieht aus wie ein menschliches Gehirn – aber will den Menschen ablösen

Es kann schwer sein, diese beiden Ansätze auszubalancieren, insbesondere, wenn man sich auf mögliche Fehlermodi vorbereiten muss, die einem ganzen Land Schaden zufügen oder es gar zerstören können. Regierung und Militär pflegen seit jeher eine Kultur der Antizipation; sie versuchen, potenzielle Bedrohungen in der näheren Zukunft zu analysieren und lassen sich detaillierte Pläne einfallen, um sie abzuwenden. Das hat dazu geführt, dass sie kleinschrittig über die Zukunft nachdenken. Ein Klischee besagt, dass Generäle immer damit rechnen, eine abgewandelte Version des jeweils vorangegangenen Kriegs auszufechten. Die Geschichte zeigt, dass die Underdogs – diejenigen, die die letzte Schlacht verloren haben oder einen üblen Groll hegen – sich oft innovativen oder anpassungsfähigen neuen Strategien zuwenden, während die, die in letzter Zeit erfolgreich waren, Gefahr laufen, sich in längst überkommenen Lösungsansätzen verstricken, oft mit katastrophalen Folgen.[15]

Und dann gibt es noch das SF-Genre, dessen Versuche, die Zukunft vorherzusagen – im besten Fall – zum Tanz der Anpassungsfähigkeit beitragen. Wann immer man sich auf eine denkbare Zukunft einigt, wie es Ende der Achtziger mit dem »Cyberpunk« der Fall war, beginnt der entsprechende Topos, die schlauen SF-Autoren zu langweilen und veranlasst sie, anderen Möglichkeiten nachzuspüren. Tatsächlich könnte man Langeweile als eine der Triebkräfte genialer Neuerungen betrachten, nicht nur in der SF, sondern in unserer ungestümen Zivilisation als Ganzes.

Als Autor spekulativer Romane kann ich Ihnen verraten, dass die Annahme, SF-Autoren würden versuchen, die Zukunft vorherzusagen, nicht zutrifft. Da wir den Schwerpunkt eher auf Anpassungsfähigkeit als auf Antizipation legen interessieren wir uns mehr dafür, mögliche Fehlermodi und Treibsandlöcher auf dem vor uns liegenden Weg zu entdecken als dafür, ausführliche und hellseherische Reiseführer durch die Zukunft zu verfassen.

Tatsächlich ließe sich behaupten, dass die mächtigste Form von SF-Geschichte die selbstverhindernde Prophezeiung ist – also jede Geschichte, jeder Roman oder Film, der eine düstere Zukunft so lebhaft, Furcht einflößend und plausibel darstellt, dass er Millionen aufrüttelt und veranlasst zu handeln, damit dieses Szenario niemals eintritt. Beispiele für dieses ehrbare (wenn auch erschreckende) Genre – das auch visionäre Werke umfasst, die nicht der SF angehören – sind »Feuer wird vom Himmel fallen«, Dr. Seltsam, »Schöne neue Welt«, Jahr 2022 – Die überleben wollen, »Der stumme Frühling«, Das China-Syndrom, »Das Kapital«, »The Hot Zone« und natürlich allen voran George Orwells »1984«. Orwell zeigte uns den Abgrund, der eine Zivilisation erwartet, die Panikmache mit Technologie und der finsteren, zynischen Tradition der Tyrannei verbindet. Damit hat er uns gegen dieses schreckliche Schicksal gerüstet. Indem wir mit Herz und Verstand die düsteren Bereiche der Zukunft erforschen, können wir manchmal Fehlermodi aufdecken und sowohl die Zeit als auch die Willensstärke finden, sie zu verhindern.

Es gibt keine Garantie dafür, dass all diese Methoden – die uns durch Antizipation und Anpassungsfähigkeit auf das Unbekannte vorbereiten – auf dem gefährlichen Gebiet, das vor uns liegt, weiterhin funktionieren werden. Eine offene Zivilisation voller hochgebildeter, ermächtigter Bürger mit fundierten Kenntnissen kann das reinigende Licht wechselseitiger Rechenschaft vielleicht so umfassend zur Anwendung bringen, dass die auf uns einstürmenden Technologien weder von geheimniskrämerischen Eliten noch von wütenden jungen Männern aufs Schrecklichste missbraucht werden können. Eine offene Gesellschaft, die Fehlermodi in der Regel weit im voraus erkennt und bewertet dürfte an und für sich unsere beste Hoffnung sein.

Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass dieser Ansatz im sich immer weiter beschleunigenden 21. Jahrhundert ausreichen wird. Vielleicht funktioniert überhaupt nichts. Und vielleicht erklärt das die große Stille draußen zwischen den Sternen.

Doch eines weiß ich. Kein anderes Rezept hat auch nur die geringste Chance auf Erfolg. Freies Wissen und wechselseitige Rechenschaft sind die Tricks, mit denen wir bis an diesen Punkt gekommen sind, im Gegensatz zu den über 6000 Jahren, in denen uns hierarchische Kommandosysteme immer wieder beinahe in den Untergang geführt haben.

Wer behauptet, dass wir umkehren und einen diskreditierten, von zahlreichen Fehlschlägen heimgesuchten Weg der Geheimniskrämerei und Herrschaft einschlagen sollten, muss schon sehr gute Argumente dafür mitbringen.

Varianten der Singularitätserfahrung

Na schön, was ist, wenn wir den Kurs halten und etwas in der Art einer positiven Singularität erreichen?

Die Diskussion darüber, was für eine Art von Singularität vorteilhaft oder sogar wünschenswert ist, kann in viele Richtungen gehen. Könnten wir beispielsweise unsere Körper – und Gehirne – gegen immer bessere Modelle auswechseln und gleichzeitig einen menschlichen Kern bewahren … unsere Seele?

Wenn das Schicksal organischer Menschen anscheinend darin besteht, von künstlichen Wesen abgelöst zu werden, die über weit größere Fähigkeiten verfügen als der Mensch 1.0 – dieser aufgemotzte Affe –, können wir diese Nachfolger dann wenigstens so erschaffen, dass sie sich selbst als Menschen betrachten? Falls sich das als möglich erweist, wären Sie dann so voreingenommen, dass Sie ihrer eigenen Urenkelin ihren Silikonkörper zum Vorwurf machen, mit dem sie sich dem harten Vakuum aussetzen und zu den Sternen reisen kann? Warum sollte es Sie kümmern, solange sie Sie regelmäßig besuchen kommt, gute Witze erzählt, freundlich ist und ihre eigenen Kinder gut behandelt?

Oder werden diese von uns hervorgebrachten Überwesen einfach weiterziehen – nachdem sie uns für ein Weilchen Gesellschaft geleistet und dabei geholfen haben, uns mit unserer Überholtheit abzufinden?

Es gibt noch immer glühende Anhänger von Teilhard de Chardins hundert Jahre alter Idee einer menschlich-technischen Apotheose – der Vorstellung, dass wir uns eines Tages alle zu einer einzigen Makro-Wesenheit vereinen könnten, die ihrem Wissen und ihrer Wahrnehmung nach buchstäblich gottgleich ist, zu einem noch ungewissen, Omega-Punkt genannten Zeitpunkt in der Zukunft. Der Physiker Frank Tipler schreibt in seinem Buch »Die Physik der Unsterblichkeit« von einem solchen Schicksal der Menschheit, und auch zwei legendäre SF-Autoren schlugen der Menschheit ein ähnliches langfristiges Ziel vor: Isaac Asimov (im Shop) in »Die Suche nach der Erde« und Arthur C. Clarke (im Shop) in »Die letzte Generation«.

Mir selbst kam diese Idee noch nie besonders reizvoll vor – zumindest nicht so, wie sie in der Regel dargestellt wird, dass nämlich irgendein Makro-Wesen alle geringeren Individuen in sich aufgehen lässt und sich anschließend tiefsinnige Gedanken macht. In »Erde« befasse ich mich eingehend mit einer Variante von Teilhards Thema, die vielleicht besser verdaulich und weit weniger eingeschränkt ist und bei der wir alle Individuen bleiben, während wir gleichzeitig unseren Teil zu einem neuen Planetenbewusstsein beitragen. Anders ausgedrückt können wir vielleicht das eine haben ohne das andere aufgeben zu müssen.

David Brin: Der Sieg der FoundationEine andere Perspektive nimmt mein Roman »Der Sieg der Foundation« ein, eine Fortschreibung von Asimovs berühmtem Universum, in dem ich eine Idee ausführe, auf die Isaac schon lange angespielt hatte – die Möglichkeit, dass konservative Roboter entsetzliche Angst vor einer menschlichen Transzendenz haben und deshalb aktiv versuchen, eine menschliche Singularität zu verhindern. Vielleicht, weil sie befürchten, dass wir dabei zu Schaden kommen könnten … oder weil wir dadurch zur Konkurrenz für sie werden könnten … oder weil uns das die Macht gäbe, sie hinter uns zurückzulassen.

Wie dem auch sei, die Singularität ist eine faszinierende Variante der vielfältigen Vorstellungen von Transzendenz, die anscheinend schon seit vorgeschichtlichen Zeiten ganz natürlich und spontan aus uns Menschen hervorsprudeln. Gleichzeitig ist diese Variante manchmal sogar noch unbefriedigender als die anderen. Natürlich wollen gute Eltern das Beste für ihre Kinder – ihre Kinder sollen es einmal besser haben, sie sollen besser sein als sie selbst. Und doch kann es schmerzlich sein, sich auszumalen, dass sie (oder vielleicht erst die Enkel unserer Kinder) es für selbstverständlich nehmen werden, praktisch wie Götter zu leben, beinahe allwissend und alles sehend und so gut wie unsterblich.

Man ist versucht, angesichts dieser Version unserer Zukunft zu murren: »Warum nicht ich? Warum kann ich nicht auch ein Gott sein?«[16] Aber ist die menschliche Existenz nicht seit jeher schmerzlich?

Wie dem auch sei, was ist eindrucksvoller? Wie ein Gott zu sein?

Oder ein Geschöpf der Natur zu sein, Ergebnis einer schlichten Evolution, das kaum seine Höhle verlassen hat … und dem es dennoch gelingt, sich die Regeln der Natur anzueignen, sie zu ehren und sie dann einzusetzen, um Gutes zu erschaffen, gute Nachkommen, eine gute Zukunft? Göttliches zu erschaffen.

Ist es besser, zu säen oder zu ernten? All unsere Spekulationen und Überlegungen (einschließlich dieser) mögen unseren erstaunlichen Nachfahren eines Tages belustigend und naiv erscheinen. Aber ich hoffe, dass sie dann und wann auch Respekt verspüren werden, wenn sie auf uns zurückblicken. Vielleicht halten sie sogar einen Moment lang nachdenklich inne und kommen zu dem Schluss, dass wir eine ziemlich gute Figur gemacht haben … für aufgemotzte Höhlenmenschen. Kann man sich denn ein beeindruckenderes Wunder vorstellen, als dass solch fehlerhafte Geschöpfe wie wir Götter erdenken und zeugen können?

Vielleicht gibt es kein höheres Ziel. Oder keines, das besser die arrogante Hybris verkörpert, die an unserer Verbannung aus dem Garten Eden schuld ist oder uns zu Füßen des Turms von Babel in alle Winde verstreut hat.

Vielleicht – vielleicht – handelt es sich aber auch um die Erfüllung unseres Zwecks und um den Grund dafür, dass wir so viel durchmachen müssen.

Damit wir das Mitgefühl und die Weisheit erlernen, die wir als kluge Lehrlinge mehr als alles andere brauchen werden, wenn wir die Werkstatt des Meisters übernehmen wollen. Damit wir endlich auf verdiente Anerkennung hoffen dürfen, wenn wir die Schöpfung von Neuem beginnen lassen.
 


Anmerkungen

[1] In seinem Artikel »Molecular Manufacturing: Too Dangerous to Allow?« beschreibt Robert A. Freitas dieses Szenario. Ein weitverbreitetes Argument gegen das Vorantreiben der Arbeit an einem Molekular-Assembler oder Nanofabriken besteht darin, dass das Endergebnis zu gefährlich wäre. Laut diesem Argument sollte jede weitere Forschung zu molekularen Herstellungsverfahren unterbunden werden, weil die mittels solcher Technologie entwickelten Systeme außerordentlichen Schaden anrichten könnten. Die Bedenken, die mit der Herstellung von Nano-Waffen einhergehen wurden sowohl in Sachbüchern als auch in der Literatur bereits erörtert. Die vielleicht am frühesten erkannte und geläufigste Gefahr, die der Nanotechnologie innewohnt, ist das Risiko, dass sich selbst vervielfältigende Nanoroboter, die in einer natürlichen Umgebung autonom agieren, schnell ihre gesamte Umwelt (zum Beispiel die Biomasse) in Kopien ihrer selbst (also »Nanomasse«) umwandeln könnten, und zwar auf globaler Ebene. Dieses Szenario wird oft als das »Grauer-Schleim-Problem« bezeichnet; eine passendere Bezeichnung wäre wohl »globale Ökophagie«. Freitas, der dieses Szenario beschreibt, befürwortet es ganz und gar nicht.

[2] Siehe: http://davidbrin.com/idiotplot

[3] Obwohl ich Fukuyamas Position in »Das Ende der Geschichte« hier etwas vereinfache, wäre zu wünschen, dass Vorhersagen in den Sozialwissenschaften ebenso genau darauf geprüft würden, ob sie langfristig gesehen zutreffen, wie in der Physik. 1986, in den Hochzeiten der Reagan-Ära mit ihren politischen Reibungen, sagte ich den baldigen Fall der Berliner Mauer vorher, gefolgt von mehreren Jahrzehnten angespannter Konflikte mit »der einen oder anderen Art von Macho-Kultur, wahrscheinlich islamistischer Art.«

[4] »Why the future doesn’t need us.« Wired Magazine, Ausgabe 8.04, April 2000.

[5] Mehr über dieses Dilemma und seine Implikationen finden Sie auf http://www.davidbrin.com/sciencearticles.html.

[6] Und weitere quasireligiöse sozialpolitische Bewegungen folgten, von den Beschwörungen Ayn Rands bis hin zu Mao Zedong. Sie alle entwickelten »logische« Verkettungen von Ursache und Wirkung, die eine grundlegende Verwandlung des Menschen mit politischen (anstelle von spirituellen oder technischen) Mitteln vorhersagten.

[7] Siehe: http://campaignstops.blogs.nytimes.com/2012/10/15/no-more-industrial-revolutions/?_php=true&_type=blogs&_r=0.

[8] http://www.nytimes.com/2012/12/28/opinion/krugman-is-growth-over.html.

[9] Für eine ausführliche Antwort auf Huebners Anti-Innovations-Argumentation siehe: »Review of ›A Possible Declining Trend for Worldwide Innovation‹ by Jonathan Huebner«, erschienen bei John Smart in der Septemberausgabe 2005 von Technological Forecasting and Social Change, http://accelerating.org/huebnerinnovations.html.

[10] Natürlich gibt es noch andere Möglichkeiten, und zwar sehr viele, sonst wäre ich mein Geld als SF-Autor oder Futurist wohl kaum wert. Eine besonders großspurige und unterhaltsame Idee ist die, dass wir alle in einer Simulation leben, in irgendeinem »Post-Singularitäts-Kontext«, beispielsweise einem gewaltigen Computer. Es gibt eine unbegrenzte Bandbreite solcher Möglichkeiten. Aber die genannten vier Gruppen scheinen mir die Herausforderung am Klarsten zu umreißen: Es geht darum, entweder klug zu werden oder dazu zuzusehen, wie im Laufe eines einzigen Menschenlebens alles den Bach runtergeht.

[11] Dieses Unterfangen basiert auf vorangegangenen asiatischen Erfolgsgeschichten in Japan und Singapur und lernt aus ihren Fehlern. Am auffälligsten ist die offenkundige Bereitschaft, Lektionen des Pragmatismus zu lernen, ein begrenztes Maß an Kritik und Demokratie zuzulassen und ihren Wert als Korrektiv anzuerkennen – während zugleich ihre Wirksamkeit als Bedrohung der Herrschaftsordnung begrenzt wird. Man könnte meinen, dass dieser Drahtseilakt scheitern muss, sobald die allgemeine Erziehung ein gewisses Niveau erreicht hat. Aber das ist nur eine Hypothese. Jedenfalls können sich die Neo-Konfuzianer auf den Lauf der Geschichte berufen.

[12] Man nehme den Hauptunterschied zwischen moderaten Mitgliedern der beiden großen politischen Parteien in den USA. Letztlich geht es bei ihm nur darum, welchen Eliten man vorwirft, nach zu viel Macht zu streben. Ein anständiger Republikaner fürchtet arrogante Akademiker, Ideologen und gesichtslose Bürokraten, die sich zu paternalistischen Großen Brüdern aufschwingen wollen. Ein anständiger Demokrat zerbricht sich den Kopf um Ränke schmiedende Aristokraten, die nach der Macht greifen, gesichtslose Großkonzerne und religiöse Fanatiker. (Ein anständiger Libertärer sucht sich zwei Gruppen aus Spalte A und zwei aus Spalte B aus.) Ich habe meine eigene Meinung dazu, welche dieser Eliten derzeit am gefährlichsten ist. (Ein Hinweis: Es ist die, die seit viertausend Jahren in den meisten städtischen Kulturen die Vorherrschaft innehat.) Aber die nie erwähnte, erstaunliche Ironie daran ist, wie viel diese Ängste in Wirklichkeit gemeinsam haben – und dass all diese Sorgen durchaus berechtigt sind. Genaugenommen ergibt eigentlich nur ein allgemeines MgA Sinn. Sollten wir uns nicht – anstatt ideologische Scheuklappen anzulegen und sich auf nur einen Abschnitt des Horizonts zu konzentrieren – darauf einigen, alle Richtungen im Auge zu behalten, aus denen Tyrannei oder rationalisierte Dummheit drohen könnten? Einmal mehr scheint wechselseitige Rechenschaft die einzig mögliche Lösung zu sein.

[13] Für eine ziemlich eindringliche Betrachtung der Frage, wie in Wissenschaft, Demokratie, vor Gericht und auf den Märkten über »Wahrheit« entschieden wird, siehe den Leitartikel im American Bar Association’s Journal on Dispute Resolution (Ohio State University), Ausgabe 15, N.3, S. 597-618, August 2000: »Disputation Arenas: Harnessing Conflict and Competition for Society’s Benefit«, oder: http://www.davidbrin.com/disputationarticle1.html.

[14] Ich sage das als jemand, der in erster Linie die Kunst der Antizipation praktiziert, sowohl in der Literatur als auch außerhalb davon. Das Geschäft jedes Futurologen und Romanautors ist es, eine überzeugende Illusion von hellseherischen Fähigkeiten zu erschaffen … auch, wenn es sich gelegentlich um eine nützliche Illusion handelt.

[15] Man sollte darauf hinweisen, dass das gegenwärtige US-Militär größte Anstrengungen unternimmt um nicht in diese Falle zu tappen, und dass es neue Bewertungsverfahren einzuführen versucht, mittels derer eine siegreiche und überlegene Streitmacht lernt, wie der Verlierer zu denken. Mit anderen Worten hält sie ständig die Augen nach Innovationen offen. Und trotz dieses klugen Geists der Offenheit steckt das militärische Denken nach wie vor voller unbegründeter Vorannahmen; sie sind dort fast so verbreitet wie bei Berufspolitikern.

[16] Natürlich gibt es auch die Singularitäts-Gläubigen, die davon ausgehen, dass wir uns dem ersehnten Ereignis so rasend schnell nähern, dass selbst Leute in meinem Alter (Mitte fünfzig) noch auf den Unsterblichkeitszug werden aufspringen können. Klar doch. Und mich nennt man einen Träumer …

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