Wenn das Bild plötzlich flackert
In „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“ macht Wolfgang Jeschke die Gegenwart sichtbar
Von Josef Stalin, dem größten Zyniker des an großen Zynikern nicht armen zwanzigsten Jahrhunderts, stammt der bekannte Satz: „Ein einzelner Toter ist eine Tragödie, eine Million Tote sind nur Statistik.“ Losgelöst von Stalin jedoch hat der Satz gar nichts so Zynisches; er hat etwas unendlich Trauriges.
Denn dies ist die Statistik, die aktuelle Statistik: Alle fünf Sekunden stirbt auf dem Planeten Erde ein Kind – an Hunger, an Krieg, an Ausbeutung, an vermeidbarer Krankheit. Zum Mitzählen: 1, 2, 3, 4, 5. Das ist die Geschwindigkeit des Todes. Selbstverständlich ist jeder dieser Tode eine Tragödie, und doch ist er nur Statistik, weil wir ihn nicht bemerken, weil diese Kinder einfach verschwinden, als hätte es sie nie gegeben. Die Tragödie ereignet sich anderswo, nicht dort, wo wir sind.
Was aber wäre, wenn … „Das Bild flackert, fällt in sich zusammen, wechselt immer wieder zwischen Realität und Projektion. Der Leichenhaufen zwischen den blinkenden Bojen türmt sich nun vier oder fünf Meter hoch. Rundherum hat sich eine riesige dunkle Lache gebildet, die zu den Gullys am Fuß der Laterne vor dem Obelisken abfließt.“ Wir sind in Rom, auf dem Petersplatz. Nacht für Nacht werden dort tausende von Kinderleichen angekarrt, aus allen Ländern der Welt, und Nacht für Nacht muss sich die vatikanische Bürokratie darum kümmern, dass diese Leichen – buchstäblich in Form einer Himmelsfahrt – entsorgt werden. Eine aufwendige Virtual-Reality-Technik ist dafür zuständig, dass die Touristen von dieser monströsen Aktivität nichts mitbekommen. Zuweilen jedoch versagt die Technik – und plötzlich sehen wir Kinderleichen, wo es eigentlich keine geben darf.
Es ist etliche Jahre her, dass ich Wolfgang Jeschkes preisgekrönte Story „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“ (im Shop) erstmals bei einer Lesung gehört habe, aber ich erinnere mich noch genau daran, dass es am Ende der Lesung hinreichend still war, um die berühmte Nadel fallen zu hören. Auf so etwas war das Publikum nicht vorbereitet: dass sich ein Science-Fiction-Autor nicht die Zukunft vornimmt, sondern die Gegenwart; dass er diese Gegenwart auf einen Punkt, einen Ort, einen Vorgang konzentriert; dass er diese Gegenwart ins Extreme zerrt und damit eine Wahrheit zum Vorschein bringt. Was Jeschke hier macht, ist weit entfernt vom handelsüblichen „cautionary tale“, es ist eher eine Phantastik, wie sie Borges oder Kafka oder Tiptree jr. schrieben, und doch ist es Science-Fiction: Alles in „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“ funktioniert nach den Regeln und Gebräuchen unserer Welt. Nichts ist real; und nichts ist irreal. Wolfgang Jeschke war ein Meister dieser Art von Science-Fiction – eine Science-Fiction, die uns sagt, wie groß und gewaltig unsere Welt tatsächlich ist. Die uns sagt, wohin wir in unserer Welt überall blicken und was wir dort sehen können.
Wir sehen Millionen Tote. Millionen Tragödien.
Und wir sehen sie nicht.
Wolfgang Jeschke: Schlechte Nachrichten aus dem Roman ∙ Kurzgeschichte ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 (1990) ∙ E-Only, ca. 17 Seiten ∙ € 0,49 im Shop
Wolfgang Jeschke (1936–2015) war der Großmeister der deutschen Science-Fiction. Lange Jahre als Herausgeber und Lektor für den Heyne Verlag tätig, hat er vor allem auch mit seinen eigenen Romanen und Erzählungen das Bild des Genres geprägt. Jeschke wurde mehrmals mit dem renommierten Kurd Lasswitz Preis ausgezeichnet. Er starb im Juni 2015.
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