21. Mai 2024

„Finden Sie meine Tochter!“

Eine Leseprobe aus Christian Endres’ brandaktuellen Cyberthriller „Wolfszone“

Lesezeit: 14 min.

Was macht künstliche Intelligenz so besonders, dass dieses Thema derzeit so polarisiert? In seinem Science-Fiction-Debüt und gerade erschienen Cyberthriller „Wolfszone“ (im Shop) erkundet Christian Endres das Thema KI als Projektionsfläche unserer Zukunftsängste und -wünsche – in Gestalt des Privatdetektivs Joe Denzinger, dessen neuer Auftrag ihn in eine von Cyborg-Wölfen bedrohte Gegend in Brandenburg führt. Hier ist eine exklusive Leseprobe.

*

JOE

Die Wölfe beherrschen Berlin.

Dafür bräuchte Joe keinen weiteren Beweis.

Gerade sind die mutierten Bestien sogar vor dem Brandenburger Tor zu sehen, wie sie schwer bewaffnete Menschen und spinnenbeinige Bots attackieren. Zwar nur in einem Video auf drei riesigen Bühnen-Bildschirmen, aber trotzdem.

Es ist heftig.

Massige Schemen aus Fell und Metall. Zurückgezogene Lefzen. Gelb leuchtende Augen. Lautes Knurren. Ratternde Gewehre und Geschütztürme. Sprühende Funken. Zorniges Heulen. Brutales Reißen. Spritzendes Blut. Dichter Rauch. Verzweifelte, abrupt endende Schreie.

Heftig, wie gesagt.

Christian Endres: WolfszoneTrotzdem ignoriert Joe das Video über den Angriff der Cyborg-Wölfe, das schon vor Monaten in der Sperrzone nahe der deutsch-polnischen Grenze aufgenommen wurde, in den Anfangstagen des Konflikts. Wahrscheinlich haben die Wolfsgegner das Bühnensystem der ProW@lf-Demo gehackt, um die Aufnahmen der Auswüchse dieser Symbiose von tierischem Instinkt und künstlicher Intelligenz abspielen zu können – und vermutlich gehen beide Parteien deswegen noch hasserfüllter aufeinander los.

Wie bei einem Derby. Maximale Rudelbildung.

Die Berliner Polizei hat längst alle Kontrolle über das Geschehen verloren, da helfen auch die fliegenden Kameradrohnen nichts, die emsig Gesichter scannen, Personaldaten auslesen.

Joe, der mit seiner Kombination aus weißem Hemd, grauem Anzug und schwarzer Krawatte sowieso aus der bunten Menge heraussticht, hat dabei nur Augen für seine Beute. Gerade schiebt er eine Aktivistin im geblümten Sommerkleid und mit einer Cartoon-Wolf-Pappmaske zur Seite, nur um im nächsten Moment einen Typen mit Muskelshirt und Bandana vor Mund und Nase abzuwehren, der Joe an den Kragen will. Das Gerangel genügt beinahe, damit Joes Zielperson im allgemeinen Chaos verschwinden kann. Zum Glück fällt auch die modisch auf, dank eines ärmellosen roten Hoodies.

Als würde man Rotkäppchen verfolgen.

Eigentlich wäre die Idee, Joe nach der Hatz durch den Tiergarten im Gewimmel der Demo abzuhängen, gar nicht mal schlecht gewesen. Aber so, mit der Kapuze vor Augen, bleibt Joe dran, und schließlich schlägt er zu, als der Verfolgte von einem Knäuel aus gewaltbereiten Demonstrierenden und gepanzerten Polizeieinsatzkräften aufgehalten wird.

Ein harter, in der Menge kaum wahrzunehmender Magenschwinger, und die Jagd ist vorbei. Joe packt den sich krümmenden Marius, einen überraschend laufstarken Tech-Hehler um die dreißig, und zerrt ihn am Hoodie mit sich zum Rand des Pulks.

»Braucht ihr Hilfe?«, fragt eine bereitstehende Sanitäterin.

»Ich kümmer’ mich um ihn«, wiegelt Joe ab. »Helft lieber dem da.«

Mit dem Kinn deutet er auf einen weinenden, blutüberströmten Demonstranten, der direkt neben ihnen aus dem Gedränge stolpert.

Joe zieht Marius von der wölfischen Zerstörungswut auf den Bildschirmen sowie den wutentbrannten Menschen auf dem Pflaster fort, in Richtung Potsdamer Platz.

»Irrsinn«, murmelt Joe und meint damit keineswegs bloß die eskalierende Demo.

Sondern die ganze Situation.

Dass da in einem Wald am Arsch von Brandenburg Wölfe durch Nanobots und Elektroschrott mutiert sind. Dass die Bundeswehr eine Sperrzone um den gesamten Wald herum errichtet hat, samt eigenem Stützpunkt. Dass im Parlament schon bald über das weitere Vorgehen des Militärs abgestimmt wird. Dass die ganze Welt seit Monaten auf Deutschland schaut.

Während Joe im Grunde nur seinen Job erledigen will. Einen weiteren Ermittlungserfolg für die Ein-Mann-Detektei Joe Denzinger verbuchen möchte.

Dafür muss er Marius erst einmal abliefern, damit Joes Klienten den Mann zum Verbleib ihres gestohlenen 3-DDrucker-Prototypen für Organtransplantationen befragen können. Er verfrachtet Rotkäppchen in den Kofferraum seines silbernen Audis und macht sich auf den Weg. Eine Dreiviertelstunde später erreichen sie ein Parkhaus, das sie vor neugierigen Blicken ebenso schützt wie vor der knallenden Sonne, die Anfang Mai schon einen auf Hochsommer macht.

»Die werden mir wehtun, Mann!«, kreischt Marius, als Joe die Heckklappe öffnet, damit sein Auftraggeber Friedrich sowie drei andere Männer den Hehler aus Joes Wagen herauszerren können. Sie schleifen ihn fort. Eine schwere Stahltür fällt ins Schloss und schluckt Marius’ panische Schreie und sein Flehen.

Joe und Friedrich erledigen die Bezahlung von Smartphone zu Smartphone.

»Sie bringen ihn aber nicht um, oder?«, fragt Joe.

»Je früher er redet, desto weniger Schmerzen wird er haben«, antwortet Friedrich. Er ist einer der Erfinder des Druckers und wirkt eher wie ein Uniprofessor als ein Foltermeister.

Manchmal sind die Übergänge fließend.

»Danke«, sagt er nach der Transaktion. Früher, vor den Pandemien, hätten sie einander die Hand gegeben. »Damit haben Sie Leben gerettet. Und die Zukunft.«

»Stets zu Diensten.« Joe tippt sich mit zwei Fingern an die Schläfe und steigt wieder in seine Karre. Erst jetzt fällt ihm das Graffiti an der Betonwand auf: ein stilisierter Cyborg-Wolfskopf.

»Nett«, kommentiert Joe, schnallt sich an und startet den Elektromotor. Gerade als er losfahren will, um sich seinen traditionellen Veggie-Siegesdöner zu holen, vibriert sein Smartphone. Unbekannte Nummer.

Er geht ran und meldet sich knapp.

»Guten Tag, Herr Denzinger.« Die Stimme einer Frau, kühl und mächtig, allein dadurch ziemlich sexy, wie Joe gestehen muss. »Hier spricht Sylvia Kraupen.«

»Klar«, sagt er sarkastisch und fragt sich, wer ihn da verarschen will und wieso.

Als ob Deutschlands reichste Waffenund Drohnenfabrikantin, deren Name im hitzigen Diskurs um die Sperrzone und die Abstimmung zurzeit ständig fällt, ausgerechnet ihn anrufen würde.

Um dann auch noch so etwas zu sagen: »Ich habe einen Auftrag für Sie.«

»Klar«, erwidert Joe erneut.

Sein Sarkasmus kommt nicht an, oder wird einfach ignoriert.

»Ich erwarte Sie um vier Uhr heute Nachmittag bei mir zu Hause in Potsdam.«

»So, so. Und bekomme ich Ihre Adresse, Frau Kraupen

»Wenn Sie so gut sind, wie man sagt, finden Sie die auch selbst heraus.«

Womit das Gespräch beendet ist.

Verärgert wischt Joe über sein Smartphone – er hat ein paar Apps, mit denen er unterdrückte Nummern zurückverfolgen kann.

Diesmal klappt das jedoch nicht. Der Anruf ist nirgends protokolliert. Als hätte es ihn nie gegeben.

Das ist der Moment, in dem Joe begreift, dass das womöglich doch kein schlechter Scherz gewesen ist. Bleibt natürlich noch immer die Frage, was die Fürstin der Drohnen von ihm wollen könnte.

Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Zurück in seiner Wohnung in Neukölln, duscht er hastig im Wassersparintervall, zieht frische Sachen an. Die Datenbankabfrage bringt ihn nicht weiter, also kontaktiert er eine Maklerin, die ihm einen Gefallen schuldet, und zwanzig Minuten später hat er eine Adresse in Potsdam.

Auf seinem Weg durch Berlin fährt Joe an ein paar leuchtenden Werbetafeln mit dem Konterfei von Sylvia Kraupen vorbei, das diese Woche die Titelseite des Spiegel ziert.

Sehr passend.

Denn wenn der Krieg gegen die Wölfe ein Gesicht hat, dann das von Sylvia Kraupen. Immerhin produziert ihr Rüstungsunternehmen die meisten der Gerätschaften, die von der Bundeswehr gerade in Brandenburg eingesetzt werden.

Keine Frage: Kraupen ist eine der reichsten und mächtigsten Frauen des Landes, der Welt. Joe hätte bis zu ihrem mysteriösen Anruf deshalb nie und nimmer erwartet, dass sie ausgerechnet ihn zu sich bestellen würde. Und das nicht über einen Assistenten oder eine Assistentin, wohlgemerkt, und auch nicht in die Firmenzentrale, sondern in ihre Villa.

Als Joe das feudale Anwesen durch die Autoscheibe erblickt, ist er gebührend beeindruckt.

Hinter einer hohen Mauer sowie einer massiven Sicherheitsschleuse mit allen möglichen Scannern erstreckt sich ein riesiger Park, der die Royals neidisch machen könnte. Es ist zu heiß für einen Nachmittag im Wonnemonat, wie schon seit Jahren, überall vertrocknet und verbrennt der Rasen, aber in der Gartenanlage der Kraupen-Residenz protzt das gewässerte Gras saftig und grün, gleiten sogar mehrere diensteifrige Mähroboter umher. Joe steuert seinen Audi über den Kiesweg, der sich zwischen den Grünflächen, dem Lavendel, den Buchsbaumhecken und den Rosen windet. Gelegentlich schweben runde Wachdrohnen an ihm vorbei und starren ihn kalt aus ihrem Zyklopenauge an.

Nach einer gefühlt endlosen Fahrt durch das Gartenlabyrinth kommt Joe vor der Front der Villa Kraupen an. Er parkt und steigt aus. Steinstufen führen zu einer wuchtigen Metalltür hinauf, die jedem Tresor einen Minderwertigkeitskomplex bescheren würde.

Joe fummelt an seinem Anzug herum, streicht die Krawatte glatt.

Bevor sein Fuß die oberste Stufe der Treppe berührt, geht die schwere Haustür wie von Zauberhand langsam nach innen auf. Kalte Luft schlägt ihm entgegen.

Joe betritt eine weitläufige, klimatisierte Eingangshalle. Die Proportionen, der Marmor und die gegenläufig geschwungene Doppeltreppe im hinteren Teil kommen nicht unerwartet, erzielen aber ihre Wirkung. Umso mehr, da keine Menschenseele Joe in Empfang nimmt. Das lässt die Halle nur noch größer und leerer erscheinen.

Joe ist enttäuscht. Er hat mit einem altmodischen Butler gerechnet, der weiße Handschuhe und einen Frack aus Herablassung trägt. Stattdessen schwirrt eine kleine, an einen schwarzen Kolibri erinnernde Drohne heran und bleibt vor ihm in der Luft stehen.

Joe blickt das Ding skeptisch an. »Hallo?«

»Herr Denzinger«, erklingt Sylvia Kraupens kultivierte Stimme aus offenbar überall im Foyer verteilten Speakern. »Meine Video-Konferenz dauert länger als gedacht. Ich muss Sie um ein paar Minuten Geduld bitten. Im Salon steht etwas zu trinken bereit. Danke für Ihr Verständnis.«

»M-hm«, macht Joe und folgt dem mechanischen Kolibri die Treppe hinauf, durch eine Reihe langer Korridore und großer Räume. Helles Echtholzparkett, weiche Teppiche, moderne Möbel und jede Menge Kunst an den Wänden oder auf Sockeln.

Schließlich erreichen sie ein lichtdurchflutetes Zimmer, wo die Drohne über einem von zwei cremefarbenen Sofas kreist – Joe interpretiert es dahingehend, dass er sich dort setzen soll. Zwischen den Sofas steht ein Glastisch, dessen Umriss an einen Kontinent erinnert, darauf eine Flasche Wasser. Gletscherwasser, klar.

Es ist ganz ruhig im Salon. Die Fensterfront hinter Joe, wahrscheinlich Panzerbis Bunkerqualität, filtert alle unerwünschten Geräusche, Strahlen und Signale. Der Blick geht auf den Park. Am anderen Ende des Zimmers erspäht Joe eine üppige Bücherwand, die er gern genauer betrachten würde, doch will er sich ungern von Sylvia Kraupen beim Rumschnüffeln überraschen lassen. Außerdem schwebt die Drohne nach wie vor über ihm, als würde sie ihn bewachen. Sie hat sicher einige fiese Überraschungen in petto, sollte Joe es drauf anlegen.

Also sitzt er da und denkt über das Zustandekommen dieses Besuchs nach.

Dass die Dienerschaft vermutlich früher fortgeschickt wurde oder frei bekommen hat, multipliziert sowohl die Fragezeichen wie auch die Ausrufezeichen in seinem Kopf. Mehr noch als der verschlüsselte, verschwundene Anruf.

Wenn Kraupen sich so viel Mühe gibt, den Besuch eines Privatdetektivs sogar vor ihrem engsten Kreis geheim zu halten, dann hat das etwas zu bedeuten.

Joe fragt sich zum hundertsten Mal, wie er auf ihrem elitären Radar gelandet sein mag. Ob ihn vielleicht Dr. Venalkis empfohlen hat? Wenn Joe sich das alterslose Gesicht der vierundfünfzigjährigen Industrie-Powerfrau in Erinnerung ruft, könnte Sylvia Kraupen ohne Weiteres zu seinen Kundinnen gehören.

Letztes Jahr hat Joe dem Beauty-Guru der unendlich Reichen und ewig Schönen den Arsch gerettet. Joe war es gelungen, ein unschönes Video trotz Erpresser-Message und Cloud-Kollektivbewusstsein rechtzeitig aus der Welt zu schaffen. Es ging wie üblich um Ruten, die waren, wo sie nicht hingehörten – um Dr. Venalkis, der mit ein paar Freunden einen der letzten Blauflossenthunfische aus dem Mittelmeer holte und dabei wie ein Gewinner grinste. Die Drohnenaufnahmen der Motorjacht und der Angler gelangten dank Joe in keinen Stream, keinen Feed, keinen Blog, kein Forum und kein gar nichts. Perfekte Werbung für Joes Dienste.

Denn es ist so: Wer nicht zur Polizei geht, sondern zu einem Privatermittler, will in erster Linie Aufsehen vermeiden. Joes erwiesene Diskretion, von einem Mitglied der High Society verifiziert, kann ihn daher sehr wohl hierher geführt haben.

Vielleicht braucht die Herrin der modernen Kriegsführung aber auch nur ein williges, billiges Bauernopfer für einen ihrer Schachzüge.

Plötzlich zischt der Kolibri davon, und Sylvia Kraupen betritt den Salon mit der Haltung einer Schneekönigin. Nichts lässt vermuten, dass sie einen Konferenzmarathon hinter sich hat, wo gerade eben das Schicksal einer Rebellion in Südasien oder sonst wo besiegelt wurde, währenddessen mitten in Deutschland ein anderer Krieg tobt, den sie als eine Strippenzieherin lenkt.

Joe erhebt sich ohne Bedauern. Das Sofa ist zu hart, soll Besuchende nicht zum langen Verweilen einladen.

»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten«, sagt Sylvia Kraupen noch einmal.

»Kein Problem.« Joe versucht, hinter ihre Aura aus Reichtum, Macht und Selbstbewusstsein zu blicken – oder sich wenigstens nicht davon einschüchtern zu lassen. »Den Trick mit dem Geister-Anruf müssen Sie mir bei Gelegenheit zeigen.«

Kraupen zeigt ein schmales Lächeln, an dem man sich schneiden könnte.

Sie setzen sich.

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten und dass wir uns hier treffen können. Ich möchte in Ruhe eine Angelegenheit mit Ihnen besprechen, die mit äußerster Diskretion behandelt werden muss.«

»Soll ich mein Telefon ausschalten?«, fragt Joe pflichtschuldig. »Oder in ein anderes Zimmer legen?«

Wieder das rasiermesserscharfe Halblächeln. »Denken Sie wirklich, dieses Haus verlässt auch nur ein Bit, ohne dass ich es weiß – oder will?«

Joe muss der Versuchung widerstehen, sein Smartphone aus dem Anzug zu kramen und nachzusehen, ob es offline ist, das Display womöglich schwarz bleibt, wenn er es berührt.

Kraupen gibt ihm drei Sekunden, um diese Blöße zu zeigen, dann war’s das mit dem Vorgeplänkel. »Meine Tochter ist verschwunden«, erklärt die Milliardärin, die sonst mit demokratisch gewählten Präsidenten und tyrannischen Diktatoren diniert. Jetzt zögert sie kurz, schiebt sich mit der rechten Hand eine imaginäre Strähne ihrer blonden Kurzhaarfrisur aus der Stirn. »Lisa.«

Joe bewegt unverbindlich den Kopf. Das hat er perfektioniert. In der Regel reden die Leute von allein weiter, wenn man ihnen das Gefühl gibt, konzentriert dabei zu sein, ihren Gedanken oder Geschichten überallhin zu folgen.

»Als Lisa und ich das letzte Mal Kontakt hatten, war sie in der Nähe von Dölmow«, fährt sie fort.

»Okay.« Joe hebt eine Augenbraue. Das berüchtigte Dölmow, zu unerwarteter Berühmtheit gelangt als das letzte Dorf vor dem Grenzstreifen und der Sperrzone – dem Revier der Cyborg-Wölfe. »Liefert sie ein paar Waffen fürs Familienunternehmen aus, oder …« Kraupens Blick durchbohrt ihn. »Sie hat sich dort den ProW@lf-Aktivisten angeschlossen. In diesem HippieCamp am Rand der Zone.«

»Autsch.«

»Eloquenter hätte ich es nicht ausdrücken können, Herr Denzinger.«

»Sie können ruhig Joe sagen.«

»Lieber nicht.«

»Auch gut.«

Kraupen sieht ihn an, und er blickt geduldig zurück.

»Ich hätte sie nie gehen lassen dürfen«, gesteht sie dann.

»Aber so ist das mit Kindern. Je mehr man dagegen ist, desto mehr wollen sie. Lisa wäre so oder so gegangen. Ich habe sie unterstützt, um wenigstens ein bisschen Einfluss zu behalten, ein paar Regeln festlegen zu können. Jeden Tag morgens und abends texten. Sonntags ein Videoanruf. Nicht ihren echten Namen verwenden. Keine Interviews. Keine Postings online. Nichts, das sie mit mir und der Firma in Verbindung bringen könnte.« Kraupen tastet wieder nach der eingebildeten Strähne. »Sie hat sich sogar die Haare gefärbt und trägt eine spezielle Brille aus unserer Entwicklungsabteilung, die ihr Gesicht bei biometrischer Erfassung verzerrt und zu einem Fake-Profil führt.«

Joe nickt.

Lisa Kraupen als Umweltschützerin quasi direkt in der Zone und somit im Brennpunkt des Konflikts, der die Republik und die Welt beschäftigt, die Schlagzeilen beherrscht? An der Front, die Deutschland noch mehr gespalten hat? Ausgerechnet die Tochter und Erbin jener Frau, die Kampfdrohnen, Panzer, Granaten, Laser und Schnellfeuergewehre für den Krieg gegen die mutierten Wölfe produziert?

Sollte das rauskommen, wäre es ein PR-Albtraum. Für Kraupens Imperium.

Für ihre Aktionäre. Für die Regierung.

Kurzum: für zu viele Menschen mit zu viel Macht. Kein Wunder, dass Lisas Mutter niemandem in ihrem

Umfeld trauen kann, niemanden in Versuchung führen will, zum Leak und zum Whistleblower zu werden.

»Ich habe Lisa immer ermutigt, für das einzutreten, woran sie glaubt«, redet Sylvia Kraupen weiter. »Auch öffentlich. In diesem Fall jedoch …« Sie blickt Joe herausfordernd an. »Und denken Sie nicht, dass es mir dabei bloß um den Aktienkurs oder die anstehende Abstimmung im Bundestag geht. Ich denke vor allem an Lisa. Sie wäre im Auge des Shitstorms, wenn uns die Sache um die Ohren fliegt.«

Zweifellos. »Wann haben Sie das letzte Mal von ihr gehört?«

»Vor einer Woche. Sie hat vom Waldrand hinter dem Camp angerufen. Und bevor Sie fragen: Nein, ihre Geräte lassen sich nicht orten, und sie hat keinen Chip und keine Nano-Tracker im Körper. Ein Teil unserer Abmachung, leider.«

»Denken Sie, Ihre Tochter wurde entführt?«

»Ich weiß es nicht. Möglicherweise. Obwohl sich dann schon jemand mit einer Forderung bei mir gemeldet haben müsste, oder? Bitcoins im Wert einer tropischen Insel. Meine Drohnen einschmelzen. Den Wölfen den Schlüssel zu diesem Haus oder zur Hauptstadt aushändigen. Was auch immer. Und wir dürfen nicht vergessen: Lisa ist achtzehn. Vielleicht hat sie auch nur jemanden kennengelernt, und sie haben die Welt ausgesperrt. Wenn dem so ist, freue ich mich für sie. Aber ich muss es trotzdem sicher wissen. Ich mache mir Sorgen.« Die glatte Fassade bröckelt, wenngleich nur kurz. »Ein Freund sagte mir vor einiger Zeit, dass Sie diskret sind und alles finden können. Sachen. Daten. Personen.« Kraupen beugt sich zur Seite und hebt einen kleinen schwarzen Kulturbeutel vom Boden auf, der neben dem Sofa auf seinen Einsatz gewartet hat. »Für Sie. Ein sauberes Smartphone mit unserer aktuellsten Verschlüsselung, über das Sie vor Ort recherchieren, kommunizieren und mich auf dem Laufenden halten können. Dazu Ausweise und Dokumente, laut denen Sie ein Berater von Kraupen sind und weitreichende Befugnisse haben.« Sie spricht den Namen ihrer Familie-Schrägstrich-Firma wie den einer Entität aus, der Joe fortan dient. »Jemand, der mein vollstes Vertrauen genießt und sich als Beobachter einen Überblick der Lage vor und in der Zone verschaffen soll. So können Sie sich frei bewegen. Und seien Sie sicher, die Leute werden Ihre Fragen beantworten. Sonst müssen deren Vorgesetzte mir Rede und Antwort stehen.«

Joe nimmt den Kulturbeutel entgegen und späht kurz hinein.

»Ich habe Ihr Standardhonorar für eine Woche verfünffacht und bereits durch Strohfirmen überwiesen«, informiert ihn seine Gastgeberin. »Sie erstatten mir täglich Bericht über die Fortschritte Ihrer Ermittlungen. Wenn Sie Lisa aufspüren, gibt es einen Abschlussbonus. Und meine Dankbarkeit.« Was, daran lässt sie keinen Zweifel, der ultimative Chip im Spiel des Lebens ist. »Ein Spesenkonto wurde in der Bezahl-App auf dem Telefon für Sie eingerichtet. In Dölmow ist ein Zimmer für Sie reserviert.«

Damit erhebt sich Sylvia Kraupen. Die Audienz ist vorbei.

Sie geleitet Joe durch ihr prächtiges, aber einsames Schloss, das mit mehr Krieg denn Frieden erbaut wurde. Und nun ist die Prinzessin an der Frontlinie eines Krieges verschwunden, den ihre Mutter mit Waffen beliefert.

Bewusst befeuert, wie manche sagen.

»Sie haben mich gar nicht gefragt, ob ich den Auftrag überhaupt annehme«, sagt Joe, als sie die Eingangshalle über die Treppe erreichen.

»Sie haben das Telefon genommen.«

»Ein Reflex.«

»Natürlich.« Sylvia Kraupen, das Lächeln dünner und schärfer denn je, blickt Joe in die Augen und lässt die massive Sicherheitstür mit einer komplizierten beidhändigen Geste aufgehen. »Manchmal hat man keine Wahl«, sagt sie, und Joe kann nicht bestimmen, ob sie damit sich, ihn, sie beide oder die ganze Menschheit meint. »Finden Sie meine Tochter. Bitte.«

Kraupens Blick und Tonfall sind auf einmal weicher, machen aus der Rüstungsunternehmerin eine Mutter.

Ob das echt ist, kann Joe nicht sagen. »Ich werde mein Bestes geben«, verspricht er.

»Das reicht nicht«, versetzt sie, nun wieder ganz Stahl und Eis. »In der Sperrzone gibt es zu viele Monster und Verrückte. Tun sie alles, um meine Tochter zu finden. Alles.«

Monster und Verrückte.

Joe wird noch an Sylvia Kraupens Worte denken.

*

Christian Endres: WolfszoneRoman • Heyne, München 2024 • 512 Seiten • Erhältlich als Hardcover und eBook • Preis des Hardcovers: 20,00 € (im Shop

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