23. April 2019 1 Likes

Mission „Rettet die Erde“

Eine zweite Leseprobe aus Cixin Lius neuem Trisolaris-Roman „Jenseits der Zeit“

Lesezeit: 17 min.

Seit knapp zwei Wochen ist Cixin Lius „Jenseits der Zeit“ (im Shop) auf Deutsch erhältlich. Der atemberaubende Abschlussband der Trisolaris-Trilogie, der prompt Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste eroberte, nimmt den Leser direkt mit in den jahrhunderteumspannenden Konflikt zwischen den Menschen und den Trisolariern, deren Flotte sich unaufhaltsam der Erde nähert. Doch wie verteidigt man sich gegen einen Feind dessen Ankunft noch Hunderte von Jahren in der Zukunft liegt? Die kluge Raumfahrtingenieurin Cheng Xin hat einen Plan …

 

Jahr 1–4 der Krise

 

Cheng Xin

 

Der Beginn der Trisolaris-Krise fiel mit Cheng Xins Studienabschluss zusammen. Sie wurde in die Projektgruppe für die Entwicklung neuartiger Antriebsformen für Langstreckenraketen aufgenommen. Alles in allem war es ein beneidenswerter Job: zukunftsträchtig und profiliert. Aber Cheng Xins Enthusiasmus für ihr Fach hielt sich inzwischen in Grenzen. Chemisch angetriebene Raketen waren für sie wie die rauchenden Schlote aus dem Kindesalter der Industrialisierung. Dichter hatten sie damals in ihren Werken gepriesen, als Symbole des Fortschritts. Die gleiche Bewunderung galt heute Raketen, den Symbolen des Weltraumzeitalters. Doch verließe sich die Menschheit auf den chemischen Raketenantrieb, würde sie wohl niemals das Weltraumzeitalter erleben.

Die Trisolaris-Krise verdeutlichte das schmerzlich. Das Sonnensystem mithilfe von chemisch angetriebenen Raketen verteidigen zu wollen war Wahnsinn. Cheng Xin hatte sich vorausschauend alle Türen offen gehalten, indem sie zusätzliche Kurse zum Thema Fusionsantrieb belegte. Mit der Krise wurde die Raumforschung in allen Bereichen hochgefahren, selbst die Pläne für Raumflugzeuge wurden wiederbelebt und weiterverfolgt. Ihre Forschungsgruppe war unter anderem damit betraut, den Prototyp für den Motor eines solchen Raumflugzeugs zu entwickeln. In professioneller Hinsicht hatte Cheng Xin die besten Zukunftsaussichten. Sie war eine anerkannte Expertin, und nicht wenige derjenigen, die es in ihrem Bereich zu etwas brachten, hatten mit der Entwicklung von Antrieben begonnen. Da sie nun aber alles andere als überzeugt von chemischen Raketenantrieben war, sah sie ihre Karrierechancen auf lange Sicht als weniger rosig an. Es gab nichts Schlimmeres, als bei Forschung und Entwicklung auf das falsche Pferd zu setzen. Dann konnte man es gleich bleiben lassen. Und dennoch verlangte die Stelle Cheng Xin vollen Einsatz und Enthusiasmus ab, was ihr immer mehr zu schaffen machte.

Dann ergab sich die Möglichkeit, diesen Forschungsbereich zu verlassen. Die Vereinten Nationen hatten innerhalb kurzer Zeit eine ganze Reihe neuer Organe im Bereich der Planetenverteidigung geschaffen. Anders als die anderen Organe der UNO berichteten sie direkt an den Planetenverteidigungsrat PDC und hatten die Vorgabe, Experten aus der ganzen Welt zu rekrutieren. Nicht wenige der Raumfahrtingenieure, die dort landeten, kamen aus China. Auch Cheng Xin erhielt ein Angebot von höchster Stelle: den Posten als Assistentin des Direktors des technischen Planungszentrums des Strategische Geheimdiensts PIA des PDC. Bislang hatte sich die Arbeit des Geheimdiensts bezüglich Trisolaris auf die Bekämpfung der Erde-Trisolaris-Organisation ETO konzentriert. Doch der neue Strategische Geheimdienst des PDC würde unter dem Namen Planetary Intelligence Agency (PIA) seine Einsätze ganz auf die Trisolaris-Flotte und den Planeten Trisolaris ausrichten. Sie brauchten dringend Personal mit hervorragenden Kenntnissen in der Raumfahrttechnik.

Cheng Xin sagte sofort zu.

 

Das Hauptquartier der PIA lag in einem alten sechsstöckigen Gebäude unweit des UN-Hauptquartiers. Das Haus stammte aus dem späten achtzehnten Jahrhundert, und seine robuste Architektur ließ es wie einen soliden Granitblock wirken. Als sie es nach ihrem langen Transpazifikflug zum ersten Mal betrat, spürte sie darin eine Kälte wie im Inneren einer Festung. Dieser Ort entsprach so gar nicht ihrer Vorstellung von einem weltumspannenden Geheimdienst, er kam ihr eher vor wie ein byzantinischer Palast, in dem aus einem Flüstern Verschwörungen geboren werden konnten.

Das Gebäude war weitgehend leer. Sie gehörten zu den Ersten, die sich zur Stelle meldeten. In einem noch nicht einmal vollständig möblierten Büro voller unausgepackter Kartons wurde sie ihrem künftigen Vorgesetzten vorgestellt, dem Direktor des technischen Planungszentrums der PIA. Michail Wadimowitsch war ein Mann in den Vierzigern, hochgewachsen und durchtrainiert. Er hatte einen so starken russischen Akzent, dass Cheng Xin erst nach ein paar Sätzen klar wurde, dass er Englisch mit ihr sprach. Er hockte auf einem der Pappkartons und beklagte, dass er schon über ein Jahrzehnt für die Raumfahrtindustrie arbeite und nun wirklich keine technische Assistentin brauche. Jedes Land wolle sichergehen, seine eigenen Leute in der PIA unterzubringen, aber Kröten wolle natürlich niemand rausrücken, schimpfte er. Dann fiel ihm ein, dass er gerade mit einer aufstrebenden jungen Wissenschaftlerin sprach, die er vielleicht besser nicht gleich verschrecken sollte. Versöhnlich fügte er hinzu: »Falls unser Geheimdienst Geschichte schreiben sollte – was er wahrscheinlich wird, wenn vielleicht auch keine gute –, werden wir beide die Ersten sein, die dabei gewesen sind!«

Cheng Xin verzieh ihm seine Unhöflichkeit und freute sich, dass auch ihr Chef aus der Raumfahrttechnik kam. Sie fragte ihn, woran er gearbeitet habe. Flüchtig erwähnte er eine Mitarbeit am Design der Buran-1.01-Raumfähre im vergangenen Jahrhundert, und dann sei er auch noch Chefkonstrukteur eines gewissen Raumfrachters gewesen. Was er über weitere Projekte erzählte, klang noch vager. Er habe anschließend zwei Jahre im diplomatischen Dienst verbracht und dann »irgendein Amt« innegehabt, in dem er »in etwa das Gleiche wie hier« gemacht habe.

»Ich halte es für keine gute Idee, Ihre zukünftigen Kollegen nach ihrem bisherigen Lebenslauf zu fragen«, riet er ihr. »Unser aller Boss ist übrigens auch da, im Stockwerk über uns. Sie sollten hinaufgehen und Hallo sagen, aber beanspruchen Sie seine Zeit nicht zu sehr.«

Im großzügigen Büro des Direktors der PIA empfing sie ein starker Geruch nach Zigarrenrauch. An der Wand hing ein großformatiges Gemälde, das einen wolkenverhangenen Himmel über einer kargen Schneelandschaft darstellte, am Horizont waren dunkle Umrisse zu erkennen, die sich bei näherem Hinsehen als heruntergekommene, zwei- bis dreistöckige Gebäude in europäischem Stil entpuppten. Der Form des Flusses im Vordergrund und anderen geografischen Hinweisen nach zu urteilen, musste es sich um New York City zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts handeln. Das Gemälde wirkte kalt und abweisend, aber Cheng Xin hatte sofort das Gefühl, dass es ziemlich gut zu dem Mann passte, über dem es hing.

Daneben gab es noch ein kleineres Bild. Es zeigte ein antikes Schwert mit einem goldenen Kreuz als Wappen und einer hellen, glänzenden Klinge, gehalten von einer Hand in einem bronzenen Fechthandschuh. Der Träger des Schwerts, von dem nur der Unterarm zu sehen war, lüpfte mithilfe der Klinge einen Kranz aus roten, weißen und gelben Blumen aus einem blauen Fluss. Anders als das große Gemälde war dieses hier hell und bunt, dabei aber nicht weniger unheimlich. Die weißen Blumen des auf dem Wasser treibenden Gebindes waren volle Blutstropfen.

Thomas Wade, der Direktor der PIA, war wesentlich jünger, als Cheng Xin erwartet hatte, jedenfalls schien er jünger zu sein als Wadimowitsch. Außerdem wirkte er mit seinem klassisch geschnittenen Gesicht viel attraktiver. Jedoch nur auf den ersten Blick. Diese klassischen Züge, befand Cheng Xin später, rührten von der Ausdruckslosigkeit seines Gesichts her, wie bei einer leblosen Statue, die dem kalten Gemälde hinter ihm entsprungen sein konnte. Wade wirkte nicht sonderlich beschäftigt. Sein Schreibtisch war vollkommen leer, weder ein Computer noch irgendwelche Unterlagen waren zu sehen. Als sie hereinkam, blickte er kurz auf, widmete seine Aufmerksamkeit aber gleich wieder ganz der Zigarre in seiner Hand.

Cheng Xin stellte sich vor und sagte, sie hoffe, viel von ihm lernen zu können, und wäre dankbar für seine Ratschläge und … sie redete einfach so lange, bis er den Kopf hob und sie in Augenschein nahm. Sein Blick wirkte zunächst eher träge, doch es lag auch eine durchdringende Schärfe darin, die ihr Unbehagen verursachte. Er lächelte. Ein Lächeln wie ein Riss im Eis eines zugefrorenen Flusses. Es war kein warmes Lächeln, und sie fühlte sich damit nicht wirklich wohler.

Sie lächelte vorsichtig zurück, doch die ersten Worte, die Wade an sie richtete, ließen sie sofort erstarren.

»Würden Sie Ihre Mutter an ein Bordell verkaufen?«

Cheng Xin schüttelte irritiert den Kopf, nicht etwa als Antwort auf seine Frage, sondern weil sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

Wade winkte sie mit der Hand, in der er die Zigarre hielt, hinaus. »Danke, das wär’s. Gehen Sie an Ihre Arbeit.«

Als sie Wadimowitsch davon erzählte, lachte er laut auf: »Das ist so ein alter Test aus unserem … Gewerbe, nur so ein Spruch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, mit dem die alten Hasen die Neulinge aufzogen. Ist doch klar: Zum Wesen unseres Jobs gehört es, zu lügen und zu betrügen, was das Zeug hält. Was die allgemeinen moralischen Normen betrifft, müssen wir eine, sagen wir … flexible Haltung mitbringen. In der PIA gibt es zwei Kategorien von Mitarbeitern, zum einen die technischen Experten, zu denen Sie gehören, zum anderen Veteranen der weltweiten Geheimdienste. Die beiden Gruppen denken und handeln nach unterschiedlichen Maßstäben. Zum Glück kenne ich mich in beiden Bereichen aus und fungiere sozusagen als Vermittler zwischen ihnen.«

»Aber unser Feind ist Trisolaris, das hat wenig mit klassischer Geheimdienstarbeit zu tun«, wandte Cheng Xin ein.

»Manche Dinge ändern sich nie.«

 

In den darauffolgenden Tagen meldeten sich weitere neue Mitarbeiter zur Stelle, sie stammten vorwiegend aus den ständigen Mitgliedsstaaten des PDC. Alle gingen sehr höflich miteinander um, doch jeder misstraute jedem. Die Techniker blieben jeweils für sich und verschlossen ihre Taschen, als seien sie ständig auf der Hut vor Dieben. Die Geheimdienstler waren dagegen freundlich und gesellig und versuchten ständig, etwas mitgehen zu lassen. Wadimowitsch hatte vollkommen recht: Sein Team hatte weniger Interesse daran, Geheimdienstinformationen über Trisolaris zu sammeln, als sich gegenseitig auszuspionieren.

Zwei Tage nach Cheng Xins Ankunft fand schon die erste Vollversammlung der PIA statt, obwohl noch nicht all Mitarbeiter eingetroffen waren. Neben Direktor Wade gab es noch drei stellvertretende Direktoren, je einer aus China, Frankreich und Großbritannien.

Als Erster ergriff der Stellvertretende Direktor Yu Weiming das Wort. Cheng Xin wusste nichts Genaues über ihn. Er gehörte zu den Menschen, die man unzählige Male gesehen haben musste, um sie wiederzuerkennen. Zum Glück verzichtete er darauf, eine lange, ermüdende Rede in der typischen Manier chinesischer Funktionäre zu halten. Stattdessen wiederholte er in seiner kurzen Ansprache nur einige Allgemeinplätze über die Aufgaben der PIA.

»Jeder von Ihnen ist ein Vertreter seines jeweiligen Lands, daher schlagen zwei Herzen in Ihrer Brust. Niemand in der PIA erwartet, dass Sie Ihre Loyalität gegenüber der PIA über die Ihres eigenen Landes stellen. Dennoch: Unsere Aufgabe ist der Schutz der gesamten Menschheit. Daher hoffe und wünsche ich, dass jeder der Anwesenden sein Bestes tun wird, um diese beiden Loyalitäten in der Waage zu halten. Da unsere Institution direkt gegen unseren gemeinsamen Feind Trisolaris arbeitet, müssen wir geschlossen auftreten.«

Während Yu Weimings Rede stemmte Direktor Wade einen Fuß gegen den Konferenztisch, um seinen Stuhl davon abzurücken, als wäre er genervt von der ganzen Zeremonie. Als man ihn gleich darauf bat, selbst ein paar Worte zu sagen, schüttelte er energisch den Kopf. Erst als alle anderen Funktionäre ihren Gruß losgeworden waren, ergriff er das Wort. Er zeigte mit dem Finger auf die unausgepackten Kisten im Konferenzzimmer: »Um diese Sachen hier kümmern Sie sich bitte selbstständig.« Seine Worte waren offenbar an die Sachbereiter und anderes administratives Personal gerichtet. »Bitte vergeuden Sie weder meine noch deren Zeit« – er zeigte auf Wadimowitsch und seine Mitarbeiter. »Die Mitarbeiter des Technischen Planungszentrums mit Erfahrung als Raumfahrtingenieure bleiben hier. Alle anderen können gehen.«

Im Konferenzraum blieb nur ein Dutzend Leute zurück. Nachdem sich die schwere alte Eichentür geschlossen hatte, ließ Wade eine Granate los: »Die PIA muss eine Raumsonde zum Ausspionieren von Trisolaris losschicken.«

Verblüfft wechselten die Ingenieure Blicke. Cheng Xin hatte zwar gehofft, möglichst schnell technische Projekte in Angriff nehmen zu können, doch wer hätte gedacht, dass es so schnell gehen würde? Angesichts der Tatsache, dass die PIA eben erst gegründet worden war und bisher keine nationalen oder regionalen Außenstellen hatte, schien sie noch nicht bereit zu sein für derart ambitionierte Projekte. Abgesehen davon: Die technischen Hürden waren schier unüberwindlich.

»Gibt es konkrete Anforderungen?«, fragte Wadimowitsch. Er wirkte als Einziger vollkommen gelassen.

»Ich habe die Vertreter der ständigen Mitgliedsstaaten des PDC auf inoffiziellem Weg konsultiert, eine offizielle Präsentation des Projekts steht noch aus. Soweit ich weiß, ist für die PDC-Mitgliedsstaaten vor allem eine Spezifikation unabdingbar: Die Sonde muss ein Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreichen können. Ansonsten hat jeder Mitgliedsstaat seine eigenen Vorstellungen von den Anforderungen. Darin werden sie sich aber sicher einig, sobald wir in die formalen Verhandlungen einsteigen.«

»Selbst wenn wir uns nur um die Beschleunigung kümmern und die Drosselung außer Acht lassen«, meldete sich ein NASA-Berater zu Wort, »hieße das, die Sonde wäre bestenfalls in zwei- bis dreihundert Jahren an der Oort’schen Wolke. Dann erst würde sie die sich verlangsamende Trisolaris-Flotte abfangen und abhören können. Mit Verlaub: Das ist ein Projekt für die Zukunft.«

»Ob die Zukunft technischen Fortschritt bringt, ist alles andere als sicher«, erwiderte Wade. »Wenn die Sophonen die Forschung in der Grundlagenphysik blockieren und die Menschheit dazu verdammen, im Schneckentempo in den Weltraum zu kriechen, dann kriechen wir besser gleich los.«

Cheng Xin schätzte, Wades Vorschlag war vor allem politisch motiviert. Das erste Projekt der Menschheit zum aktiven Kontakt mit einer außerirdischen Zivilisation zu initiieren würde dem Status der PIA nicht schaden.

»Beim gegenwärtigen Stand der Raumfahrttechnik würde eine Reise bis zur Oort’schen Wolke zwanzig-, vielleicht sogar dreißigtausend Jahre dauern. Selbst wenn wir die Raumsonde sofort losschicken könnten, wäre sie bis zum Eintreffen der Trisolaris-Flotte noch kaum zur Tür hinaus.«

»Aus eben diesem Grund muss die Sonde mit mindestens einem Prozent der Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein.«

»Ihre Bedingung hieße, die augenblicklich mögliche Maximalgeschwindigkeit um das Hundertfache zu erhöhen. Dazu brauchen wir einen völlig neuartigen Antrieb. Unser Stand der Technik gibt eine solche Beschleunigung niemals her, und ein gravierender Durchbruch ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die Vorgabe ist schlichtweg unrealistisch.«

Wade hieb mit der Faust auf den Tisch. »Aber wir haben jetzt das Geld dazu, verdammt noch mal! Früher war die Raumfahrt purer Luxus, jetzt ist sie eine Notwendigkeit. Wir können unvorstellbar hohe Summe anzapfen und werden einfach so lange Geld in dieses Projekt hineinbuttern, bis die Gesetze der Physik zusammenbrechen. Mir ist egal, mit welchen Mitteln Sie arbeiten, wenden Sie notfalls Gewalt an. Hauptsache, das Ding schießt mit einem Prozent Lichtgeschwindigkeit durch das All.«

Wadimowitsch sah sich argwöhnisch um.

Wade warf ihm einen Blick zu. »Keine Sorge, die Luft ist rein, keine Presse, keine ungebetenen Gäste in der Nähe.«

Wadimowitsch musste lachen: »Schon gut. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber den Satz, dass wir so lange Geld in dieses Projekt buttern sollten, bis die Gesetze der Physik zusammenbrechen, wiederholen Sie besser nicht vor dem PDC. Wir machen uns zum Gespött der Menschheit.«

»Dass Sie über mich lachen, ist mir bewusst.«

Schweigen im Saal. Alle wünschten sich, diese Sitzung wäre endlich vorbei. Wade sah ihnen reihum ins Gesicht. Sein Blick blieb an Cheng Xin hängen. »Hier haben wir jemanden, der nicht über mich lacht.« Er zeigte auf sie. »So, Cheng, lassen Sie uns hören, was Sie denken.«

Cheng Xin fühlte sich, als deutete er mit einer Speerspitze statt mit dem Finger auf sie. Verlegen sah sie sich um. Wie sollte ausgerechnet ein Niemand wie sie das Wort ergreifen?

»Was wir hier brauchen ist MD«, sagte Wade.

MD? Jetzt war sie vollends verwirrt. McDonald’s? Doktor der Medizin?

»Sie sind doch Chinesin! Wie kann es sein, dass Ihnen MD nichts sagt?«

Hilfe suchend sah sie sich nach den anderen fünf Chinesen im Raum um. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, wovon die Rede war.

»Während des Koreakriegs fanden die USA heraus, dass selbst die einfachsten chinesischen Soldaten in Kriegsgefangenschaft ziemlich gut in die Schlachtpläne eingeweiht waren. Offenbar wurden die Strategien von den Feldherren auf Graswurzelebene diskutiert – von dieser basisdemokratischen Vorgehensweise erhoffte man sich neue Erkenntnisse zur Verbesserung der strategischen Kriegsführung. Sollten Sie allerdings jemals Kriegsgefangene der Trisolarier werden, wünschen wir nicht, dass Sie zu viel wissen«, sagte Wade.

Einige der Anwesenden lachten. Cheng Xin begriff jetzt, dass MD für Militärdemokratie stand. Die Idee fand großen Anklang im Saal. Nicht dass die Spitzenfachkräfte – es waren überwiegend Männer – glaubten, eine technische Assistentin könnte in diesem Fall bahnbrechende Vorschläge machen, aber sollte das Mädchen doch reden – solange könnten sie unverhohlen ihr hübsches Figürchen bewundern. Cheng Xin kannte das schon. Ganz gleich, wie konservativ sie sich kleidete – ihre männlichen Kollegen ließen sich stets leichter von ihrer Attraktivität als von ihrer Kompetenz überzeugen.

»Ich hätte tatsächlich eine Idee …«, hob sie an.

»Eine Idee, wie man mit Geld die Gesetze der Physik aushebeln könnte?« Der spöttische Einwand kam von einer älteren Französin namens Carole Legrand, einer hoch angesehenen Beraterin der Europäischen Raumfahrtagentur. Sie empfand es offensichtlich als Zumutung, sich mit jemandem wie Cheng Xin auch nur den Raum teilen zu müssen.

»Nun, es geht eher darum, die Gesetze der Physik zu umgehen «, sagte Cheng Xin mit einem höflichen Lächeln. »Die zukunftsträchtigste Ressource, die wir haben, ist der weltweite Vorrat an Atomwaffen. Auch ohne bahnbrechende Neuerungen ist er die größtmögliche Energiequelle, die wir für die Raumfahrt nutzen könnten. Stellen Sie sich ein Raumschiff oder eine Raumsonde mit einem Strahlungssegel vor, ähnlich wie ein Sonnensegel, einem dünnen Film, der von Strahlung angetrieben werden könnte. Wir könnten an einer Stelle nicht weit hinter dem Strahlungssegel in regelmäßigen Intervallen fortgesetzte Kernexplosionen generieren …«

Wieder gab es Gelächter, am lautesten lachte Carole Legrand.

»Ein Bild wie aus einem Comic! Ein Raumschiff voller Atombomben mit einem großen Segel davor, und auf dem Schiff ein Supermann vom Typ Arnold Schwarzenegger, der die Bomben hinter das Raumschiff schleudert, um es durch die Explosion anzutreiben. Coole Idee!« Angefeuert von der allgemeinen Heiterkeit, legte sie nach: »Setzen Sie sich besser noch mal an Ihre Hausaufgaben aus dem ersten Studienjahr, und dann verraten Sie mir erstens, wie viele Atombomben Ihr Schiff an Bord haben müsste, und zweitens, welche Beschleunigung Sie bei dieser Art von Schub-Gewicht-Verhältnis hinbekommen.«

»Das mit der Aushebelung der Gesetze der Physik hat sie nicht hingekriegt, dafür aber das mit der Gewaltanwendung«, höhnte einer der anderen Berater. »Das passt gar nicht zu so einer hübschen Person.«

Das Gelächter schwoll erneut an.

»Die Bomben werden nicht an Bord transportiert«, entgegnete Cheng Xin ruhig.

Das Lachen verstummte so schnell, als habe sie die Hand auf ein bimmelndes Glöckchen gelegt.

»Das Raumschiff wird nur aus dem Segel und der Sonde bestehen, leicht wie eine Feder, und mit der Strahlung von Außerbord- Kernexplosionen sehr einfach zu beschleunigen sein.«

Nun herrschte betretenes Schweigen, obwohl das allgemeine Grübeln, wo sie die Bomben platzieren würde, beinahe hörbar war. Als sich die Berater über Cheng Xin lustig gemacht hatten, hatte Wade keine Miene verzogen. Doch jetzt war es wieder da, dieses Lächeln wie ein Riss in einer Eisdecke, und es breitete sich langsam über sein Gesicht aus.

Cheng Xin zog einen Stapel Pappbecher aus dem Wasserspender hinter ihr und ordnete sie in einer Reihe auf dem Konferenztisch an. »Wir können die Atombomben vorab mithilfe konventioneller chemischer Raketen in den Weltraum schießen und sie entlang des ersten Abschnitts der Route der Sonde verteilen.« Sie nahm einen Bleistift und fuhr mit seiner Spitze die Reihe der Pappbecher entlang. »Sobald die Sonde eine Bombe passiert, lassen wir sie hinter dem Segel detonieren und beschleunigen sie damit immer stärker.«

Endlich richteten die Männer ihre Aufmerksamkeit statt auf Cheng Xins Figur auf ihre Idee und die Anordnung auf dem Tisch. Nur Legrand starrte sie weiterhin an wie eine Außerirdische.

»Lassen Sie uns diese Methode En-route-Antrieb nennen. Die anfängliche Strecke wäre das Beschleunigungssegment, im Grunde nur ein winziger Teil der Gesamtroute. Grob geschätzt brauchen wir etwa tausend Atombomben, die wir entlang einer Strecke von etwa fünf Astronomischen Einheiten zwischen der Erde und dem Orbit des Jupiter verteilen. Eventuell ließe sich das noch stärker komprimieren, und wir verteilen sie nur bis zum Orbit des Mars. Beim gegenwärtigen Stand der Technik ist das auf jeden Fall machbar.«

Erste geflüsterte Kommentare wichen einem aufgeregten Durcheinander, wie Nieselregen, der zu einem Gewitter wird.

»Das ist Ihnen aber nicht eben erst eingefallen, oder?«, fragte Wade. Er hatte sehr genau zugehört.

Cheng Xin lächelte ihn an: »Nein. Es beruht auf einem altbekannten Konzept der Raumfahrt, dem nuklearen Pulsantrieb. Vater dieser Idee ist der Mathematiker Stanislaw Ulam.«

»Allerdings, Dr. Cheng.« Legrand hatte ihr Überheblichkeit abgelegt. »Den nuklearen Pulsantrieb kennen wir alle. Die Idee, den nuklearen Treibstoff entlang der Route zu platzieren, stammt jedoch offensichtlich von Ihnen. Ich habe jedenfalls noch nie davon gehört.«

Es folgte eine leidenschaftliche Diskussion. Dankbar stürzte sich die Expertenrunde auf den Vorschlag wie ein hungriges Rudel Wölfe auf ein Stück Frischfleisch.

Wieder schlug Wade mit der Faust auf den Tisch. »Genug. Für den Augenblick brauchen wir uns nicht mit Details aufzuhalten. Bisher geht es nicht einmal um die Machbarkeit, sondern darum, ob es sich lohnt, die Machbarkeit dieser Idee überhaupt zu prüfen und auch, welche Barrieren uns insgesamt im Weg stehen.«

Wadimowitsch brach das Schweigen. »Der Vorteil an diesem Plan ist, dass wir ohne Umschweife loslegen können.«

Die Anwesenden begriffen sofort, was er damit meinte – der erste Schritt würde sein, eine große Anzahl Atombomben in den Orbit der Erde zu befördern. Die Abschussvorrichtungen waren längst vorhanden – die für die Interkontinentalraketen sollten genügen. Die amerikanischen Peacekeeper vom Typ LGM-118A, die russischen Topol vom Typ PT 2PM2 und die chinesischen Dongfeng 41 könnten ihre Ladung direkt in den Orbit schießen. Mit Startraketen aufgerüstet könnten das selbst Mittelstreckenraketen. Damit wäre sogar das Problem der zu Beginn der Krise beschlossenen nuklearen Abrüstung gelöst. Nach den ursprünglichen Plänen hätte die nukleare Ladung kostspielig vernichtet werden müssen.

»Ausgezeichnet. So viel zu Cheng Xins Vorschlag des En-Route-Antriebs. Weitere Vorschläge?« Wade blickte sich um.

Einige sahen aus, als wollten sie etwas sagen, überlegte es sich aber wieder anders, da ihre Ideen der Cheng Xins nicht das Wasser reichen konnten. Schließlich ruhten aller Blicke wieder auf ihr, aber jetzt hatten sie eine andere Qualität.

»Wir treffen uns noch zweimal, um Ideen zu sammeln. Doch nichts spricht dagegen, mit der Machbarkeitsstudie zum Enroute-Antrieb zu beginnen. Wir brauchen einen Codenamen.«

»Wenn die Raumsonde jedes Mal, wenn eine der Bomben explodiert, eine Stufe weiter steigt, hat das etwas von Treppensteigen «, sagte Wadimowitsch. »Warum nennen wir es nicht Treppenplan? Davon abgesehen: Wir müssen neben der maximalen Beschleunigung von einem Prozent der Lichtgeschwindigkeit auch die Masse der Raumsonde als wichtigen Parameter im Hinterkopf behalten.«

»Ein Strahlungssegel kann man ganz dünn und leicht konstruieren. Beim heutigen Stand der Materialwissenschaft können wir ein Segel von etwa fünfzig Quadratkilometern mit einem Gewicht von nur fünfzig Kilogramm herstellen. Das sollte reichen«, sagte ein russischer Experte. Er hatte einmal ein gescheitertes Sonnensegelprojekt geleitet.

»Der kritische Faktor wird also das Eigengewicht der Sonde sein.«

Alle drehten sich zu dem Sprecher um. Es handelte sich um den leitenden Konstrukteur der Cassini-Huygens-Sonde.

»Wenn wir die Grundausstattung der Sonde nehmen und dazu die notwendige Antenne zur Übertragung von Informationen von der Oort’schen Wolke und das Gewicht der Isotopenstromversorgung, sollten wir mit zwei bis drei Tonnen Gewicht hinkommen.«

»Das ist zu viel.« Wadimowitsch schüttelte den Kopf. »Sie muss so sein, wie Cheng gesagt hat: leicht wie eine Feder.«

»Wenn wir die Funktionen der Sonde auf ein Minimum beschränken, könnte eine Tonne reichen. Aber ob das genügt, kann man noch nicht sagen.«

»Eine Tonne Gewicht inklusive Segel«, konstatierte Wade. »So viel darf sie ruhig wiegen. Schließlich können wir die gebündelten Kapazitäten der Menschheit darauf verwenden, diese eine Tonne Gewicht anzutreiben.«

 

Cixin Liu: „Jenseits der Zeit“ ∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Karin Betz ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 992 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

 

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