15. Juli 2019 1 Likes

Was kostet die Unsterblichkeit?

In „Transfusion“ entführt Jens Lubbadeh seine Leser in die Abgründe der Pharmaindustrie

Lesezeit: 43 min.

Eigentlich erscheint „Transfusion“ (im Shop) erst im November diesen Jahres. Wir haben aber schon jetzt einen exklusiven Einblick in den neuen Science-Thriller des Wissenschaftsjournalisten Jens Lubbadeh, den wir Ihnen nicht vorenthalten wollen. In seinem nächsten Roman durchleuchtet der Autor die Abgründe der Pharmaindustrie, wo Start-up-Gründer wie Heilsbringer verehrt werden und Konzerne für das ultimative Heilmittel auch mal über Leichen gehen. Kein Geringerer als Andreas Eschbach hat den Roman bereits gelesen und sagt dazu:

„Eine krasse Idee – und höchst spannend. Die Heldin liefert ein Rennen gegen die Zeit, wie man es so noch nie gelesen hat.“ (Andreas Eschbach)

Jens Lubbadeh: TransfusionWorum geht es?

In der nahen Zukunft ist ein Menschheitstraum wahr geworden, denn mithilfe des Wundermittels Bimini, entwickelt von dem Hamburger Pharmakonzern Astrada, kann Alzheimer nun endgültig geheilt werden. Iliana Kornblum, Wissenschaftlerin bei Astrada, hat das Medikament mitentwickelt, und ihr Vater gehörte zu den ersten Geheilten. Deshalb ist sie alarmiert, als sie bei ihrem Chef auf geheime Versuchsdaten stößt. Daten, die nur einen Schluss zulassen: Für Heilung und ein längeres Leben nimmt Astrada auch Tote in Kauf. Welche grausame Wahrheit verbirgt sich hinter dem Heilmittel?

 

*

 

LESEPROBE

1

Die Sonne sandte ihre Strahlen über den Hamburger Hafen, und die Kräne schienen ihre Hälse ins Licht zu recken. Wie eine Parade empfingen sie den Giganten, der langsam an ihnen vorbeizog. Stolz und schwer steuerte die »Adinath«, ein Containerschiffkoloss der India Trade Company, auf ihr Ziel zu: Terminal 13. Dort würde das Schiff seine Fracht entladen. 15 000 Container würden von seinem Rücken gehoben werden, Klötzchen für Klötzchen, wie ein großes Lego-Spiel.

Gregor Baumann dachte, dass er den besten Job der Welt hatte, als er dieses Schauspiel von seinem großen Fenster aus beobachtete. Die Sicht vom Zolltower war unschlagbar und lenkte ihn davon ab, die Röntgenanlage vorzubereiten, die einen der Container der »Adinath« durchleuchten würde, als Stichprobe auf Schmuggelware. Unten sah er schon seine Kollegen von der Zollfahndung. Es war 7.59 Uhr. Sie waren spät dran.

Laut Frachtbrief hatte das Containerschiff einen Mix verschiedener Waren an Bord. Indische Lebensmittel wie Ghee, Chapati, Naan-Brot, aber auch Turnschuhe, Handtaschen und Textilien. Vielleicht würden sie bei der Stichprobe gefälschte Nike-Schuhe oder Kopien von Gucci-Taschen finden. Wenn sie Glück hatten, vielleicht auch Drogen. Wenn Fortuna es ganz besonders gut mit ihnen meinte, ein paar Waffen. Baumann war jede Abwechslung recht.

Exakt fünfzehn Minuten später war einer der 15 000 rostroten 40-Fuß-Container auf einen LKW geladen und stand an der Markierung der Röntgenanlage bereit, um in den großen Röntgentunnel hineingeschoben zu werden.

Tanja Molzow hielt sich ihre Kladde als Sonnenschutz über die Augen, während sie vor der Röntgenanlage auf das Go aus dem Kontrollzentrum warteten. Sie war müde. Ihre neun Monate alte Tochter hielt sie und ihren Mann nachts ordentlich auf Trab.

»Na, schlecht geschlafen?«, sagte ihr Kollege Thomas, der einen schweren Bolzenschneider in den Händen hielt, während er grimassierend ein schreiendes Baby imitierte.

Sie nahm den Blick kurz vom Container und sah ihn demonstrativ gelassen an.

»Fünfmal aufgestanden? Oder sechsmal?«, fragte Thomas.

»Achtmal«, sagte Molzow und seufzte, während sie die Formulare vorbereitete.

»Gut, dass ich keine Kinder habe.«

Er betätigte probehalber den Bolzenschneider. Die Metallklingen erzeugten ein unangenehmes Geräusch beim Zuschnappen.

»Wenn du weiter damit rumspielst, wirst du vielleicht nie welche haben«, sagte sie, und Thomas lachte.

»Finden wir jetzt was oder nicht?«, fragte sie. »Was meinst du?«

Es war das alte Zollbeamten-Spielchen. Vor jeder Stichprobe wetteten sie darauf, auf welche gefälschten Waren sie stoßen würden. Uhren von »Rollex« oder »Bratling«, Turnschuhe von »Adibos« oder »Adilas«, Sonnenbrillen von »Ray Barn«. Die absurdesten Markennamen-Kopien sammelten sie, und wer am Ende des Monats die meisten Treffer gelandet hatte, wurde zum Essen eingeladen.

»Ich glaube, wir werden heute Handtaschen finden«, antwortete Thomas. »Sagt mir mein großer Zeh.«

»Ich glaube, wir werden gar nichts finden«, erwiderte Tanja. »Sagt mir mein kleiner Zeh.«

»Wir sollten den Einsatz erhöhen, Tanja. Wer dieses Mal verliert, verliert auch den jeweiligen Zeh«, sagte Thomas und vollführte erneut eine Schnippbewegung mit dem Bolzenschneider. »Einverstanden?«

Sie haute ihm spielerisch ihre Kladde auf seinen stoppelhaarigen Kopf, und er schrie theatralisch auf.

Sollte die Durchleuchtung auch nur den kleinsten Verdacht auf Schmuggelware ergeben, würden sie den Container aufbrechen. Es war ein bisschen wie Geschenke aufmachen.

»Wir sind so weit«, hörte sie Baumanns Stimme in ihrem Headset.

»Okay, schieben wir den Braten in die Röhre«, sagte Tanja und drehte sich zum Kontrollzentrum um. Durch die Scheibe suchte sie Baumanns Blick und hob den Daumen zur Bestätigung. Er zeigte ihr ebenfalls den Daumen und schnarrte ein »Alles klar« über das Headset in ihr Ohr. Molzow gab dem Fahrer des Lkw ein Zeichen, der nun langsam anfuhr. Als er im Tunnel verschwunden und der Fahrer ausgestiegen war, hörte sie abermals Baumanns Stimme in ihrem Ohr:

»Starte Scan.«

Ein hochfrequentes Surren ertönte, als die Anlage den Container zu durchleuchten begann.

Tanja vernahm leise Schmatzgeräusche über das Headset. Baumann, dachte sie. Schert sich mal wieder einen Dreck um das Mikrofon vor seinem Mund.

Dann ertönte ein Husten. Zu schnell essen ist ungesund, Baumann, dachte sie mit leichter Befriedigung und grinste, aber dann sprachen plötzlich mehrere aufgeregte Stimmen im Headset durcheinander. Sie drehte sich wieder zum Tower und sah durch die Scheibe Baumann mit Kollegen heftig gestikulieren.

Was war los? Hatten sie Waffen gefunden?

»Baumann? Alles klar?«, fragte sie in ihr Mikro. Keine Reaktion.

Sie blickte zu Thomas. Auch er hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Sein Blick zeigte Genugtuung. »Wette gewonnen. Sorry, Tanja.«

»Scheint was Großes zu sein«, murmelte sie und zeigte auf den Tower. »Ich geh mal hoch.«

Dann hörte sie Baumann schreien: »Ein Krankenwagen! Schnell!«

Im Tower war die Hölle los. Niemand nahm von ihr Notiz. Baumann telefonierte, seine Kollegen standen um seinen riesigen Monitor versammelt und diskutierten erregt. Hatten sie eine Atombombe entdeckt?

Tanja trat näher an den Monitor. Er zeigte die Röntgenaufnahme des Containers. Es sah aus wie eine Strichzeichnung. Sie erkannte die Umrisse des Lasters, die Reifen waren im Licht der Röntgenstrahlen schlichte Kreise. Darüber befand sich der durchleuchtete Container. Er sah aus wie das Foto-Negativ eines platt gedrückten Stilllebens: viele Kisten, wild neben- und übereinandergestapelt, darin die Umrisse der unterschiedlichsten Gegenstände.

Am äußersten rechten Rand, dem hinteren Ende des Containers, erkannte Tanja jedoch Strukturen, Schatten, die überhaupt nicht zu den eckigen Formen des Containers passten. Sie waren gebogen, gerundet, organisch.

Es waren Knochen. Skelette. Sie hockten eng zusammengepfercht auf dem Boden.

Mit dem Bolzenschneider brach Thomas das Siegel des Containers auf. Als er eintrat, wurde er von dem Gestank förmlich erschlagen. Ein warnender Blick von ihm ließ Tanja ihren Ärmel über ihre Nase stülpen, bevor sie ihm folgte. Der Verwesungsgeruch war dennoch so überwältigend, dass sie ihn auf der Zunge schmeckte. Darunter lag auch noch der Gestank von Exkrementen und Urin. Ihr wurde übel.

In all den Jahren beim Zoll hatte Tanja Molzow schon viel gesehen. Blinde Passagiere, in Hohlräumen unter dem Boden zusammengekauert, in Luftschächten oder Abwasserrohren versteckt. Aber bis jetzt waren sie immer im Schiff selbst gewesen. Noch nie hatte sie Menschen in einem Container gefunden. Schon gar nicht tote.

Im Schein ihrer Taschenlampe sah sie in der hintersten Ecke des Containers die kleinen Körper zusammengedrängt an der Wand lehnen. Sie trugen schmutzige Kleidung. Im Lichtkegel erkannte sie lange schwarze Haare und ausgemergelte Gesichter. Die Leichen waren bereits in Verwesung begriffen, aber sie konnte erkennen, dass es Mädchen waren. Sie schätzte sie auf nicht älter als zehn Jahre.

Thomas blickte sie betroffen an. Diese Mädchen hatten keine Chance gehabt. Über 70 Tage dauerte die Fahrt von Mumbai nach Hamburg.

Neben den Mädchen lagen unzählige leere Flaschen und Essensverpackungen herum, und sie konnte längst erloschene Taschenlampen ausmachen. Einige der Mädchen hielten etwas fest umklammert. Tanja Molzow leuchtete gezielter und erkannte schließlich, was es war. Kuscheltiere. Kuscheltiere mit Flügeln.

Was nur hatte diese Kinder dazu bewogen, in einen Container zu flüchten? Wie verzweifelt mussten sie gewesen sein? Was für Ängste mussten sie ausgestanden haben, so lange alleine in diesem dunklen Loch? Sie konnte den Anblick der toten Gesichter nicht länger ertragen und wandte sich ab. Im Augenwinkel sah sie das Blitzlicht der Kamera von Thomas.

Der Notarztwagen kam mit heulenden Sirenen. Die Ärzte betteten die Kinderleichen vorsichtig auf Bahren. Tanja, Thomas, Gregor und die restlichen Zollbeamten standen daneben und beobachteten das unfassbare Schauspiel. Die Helfer bedeckten die Kinder eines nach dem anderen mit weißen Tüchern. Als die Sanitäter die Leichen an ihnen vorbeitrugen, sah Tanja einen der Arme an der Seite herausragen. Etwas ließ sie zusammenzucken: Der Unterarm des Mädchens wies seltsame Verdickungen auf, als würde ein Kabel unter der Haut verlaufen. Die Hand des Kindes hielt noch immer eines der Kuscheltiere fest. Jetzt erkannte sie, was es war. Ein kleiner Engel. Etwas war in ihn hineingestickt. Ein Dreieck mit einem kleineren Dreieck darin, das auf der Spitze stand. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen.

 

2

Dutzende Hände schlugen auf ihr Auto, als sie sich der Einfahrt ihrer Firma näherte. Iliana blickte in viele wütende und empörte Gesichter. Hunderte Protestierende hatten sich vor dem »Dönerturm« versammelt, wie das modisch gestaltete Firmengebäude von Astrada in der Hamburger Hafencity genannt wurde. Selbst durch die geschlossenen Scheiben ihres Wagens hörte Iliana die Rufe der Demonstranten.

»Kinderschänder!«

»Schweinekonzern!«

Viele hielten Plakate hoch, eine Frau sprach in ein Megafon.

»… haben wir wieder ein typisches Beispiel dafür, dass die Pharmaindustrie nur an Profiten interessiert ist. Dafür ist sie bereit, über Leichen zu gehen!«

Auf einigen Plakaten erblickte sie das Logo von Pharmatransparency, des pharmakritischen Lobbyvereins – eine zerbrochene Spritze.

Als die Meldung von den toten Mädchen und den Astrada-Kuscheltieren vor zwei Tagen in den Nachrichten kam, hatte Iliana mit wenig Erfreulichem gerechnet. Aber sie hätte nicht erwartet, dass Pharmatransparency so schnell so viele Leute vor der Firmenzentrale mobilisieren würde. Immerhin hatte Astrada in den letzten Jahren für viele positive Schlagzeilen gesorgt und galt als einer der beliebtesten Konzerne weltweit.

Die Menge machte ihr kaum Platz, Iliana musste im Schritttempo fahren. Als sie sich endlich der Schranke der Einfahrt näherte, kam der Pförtner angelaufen.

Die Worte der Frau mit dem Megafon hallten über den Platz: »Astrada hat versucht, sich mit Bimini ein Saubermann-Image zuzulegen. Wie wir nun wissen, ist Astrada nicht besser als all die anderen Pharmakonzerne, auch wenn sie uns das glauben machen wollen. Astrada nutzt Kinder in Entwicklungs- und Schwellenländern für seine Zwecke aus, und wir fordern …«

Iliana kannte die Stimme, aber sie war zu abgelenkt, um sich darauf zu konzentrieren. Der Pförtner fluchte, als er immer wieder von Protestierenden aufgehalten wurde. Dann war er an ihrem Auto, und Iliana ließ die Scheibe runter. Schlagartig schwappte der Lärm von draußen herein, und sie musste fast schreien, um sich verständlich zu machen.

»Was ist hier los, Herr Eitner?«

Eitner, ein älterer Herr, schrie zurück: »Die sind heute Morgen Punkt acht Uhr angerückt, Frau Kornblum. Wir wussten von nichts. Ich hab schon die Polizei verständigt. Fahren Sie schnell durch, wenn ich die Schranke öffne, damit keiner reinkommt.«

Der »Dönerturm« ähnelte tatsächlich einem Dönerspieß mit seinen unregelmäßig an Breite zunehmenden Etagen. Ganz oben auf dem Dach des Turms glänzte das Astrada-Logo stolz vor dem Himmel, ein silbernes Dreieck mit einem kleineren umgedrehten Dreieck in seinem Bauch. Das neue Firmengebäude war erst vor wenigen Monaten fertiggestellt geworden. Der Konzern hatte Platz gebraucht. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Bimini waren gigantisch.

Sie musste in die Forschungsabteilung, die sich in einem runden silbernen Gebäude nebenan befand, das »Ufo« genannt wurde. Dort waren die Labore und ihr Büro. Iliana war stellvertretende Forschungsleiterin des Pharmakonzerns, der die Krankheit Alzheimer besiegt hatte.

Sie hörte die Megafonstimme weiter plärren: »… fordern wir Astrada-Chef Erik Freimuth hiermit auf, seine Hinhaltestrategie aufzugeben und offenzulegen, was für unethische Kinderstudien Astrada in Indien veranstaltet!«

Jetzt identifizierte sie auch die Stimme. Sie gehörte Andrea Parka, der Leiterin von Pharmatransparency. Mark und Iliana hatten sich oft über sie und ihre einseitige Pharma-Verteufelung aufgeregt. In diesen Tagen war sie – wenig verwunderlich – omnipräsent.

Als Iliana durch die Gänge der Forschungsabteilung lief und ihre Mitarbeiter grüßte, schaute sie in lauter fragende Gesichter. Mark war seit Dienstag nicht mehr in der Firma gewesen. Wahrscheinlich besuchte er Konferenzen und hielt Vorträge wie immer. Ausgerechnet jetzt brach die Hölle über Astrada herein. Seit zwei Tagen berichteten die Medien über kaum etwas anderes als die toten indischen Mädchen in dem Container. Es war die perfekte Story. Tote Kinder aus der Dritten Welt und ein übermächtiger Pharmakonzern. Gut und Böse. Schwarz und Weiß.

»Waren sie Astradas Versuchskaninchen?« So lautete eine der Headlines, über einem riesigen Foto der fünf abgemagerten Mädchen. Natürlich gab es auch einen Zoomausschnitt auf einen der Kuschelengel, so stark vergrößert, dass das Firmenlogo gut zu erkennen war. Es ärgerte Iliana. Die Kuscheltiere waren kein Beweis, Pharmamerchandise kursierte überall. Warum warf die Presse nur derart mit Dreck? Wollten sie Astrada nun zerstören, weil es in den letzten Jahren ausschließlich Gutes über ihre Firma zu berichten gegeben hatte? »Heilmittel gegen Alzheimer gefunden«, »Alzheimer ist besiegt!« – das waren die Headlines der letzten Jahre gewesen, die Krönung von Marks und ihrer Arbeit. Sie beide hatten diese teuflische Krankheit, an der auch Ilianas eigener Vater litt, ein für alle Mal besiegt.

Natürlich hatte Erik Freimuth alle Vorwürfe zurückgewiesen. Der Konzern führte eine Menge Werbeartikel mit Firmenlogo im Sortiment: Schreibblöcke, Kugelschreiber, Uhren, selbstverständlich auch Kuscheltiere. Gängige Praxis, jeder Pharmakonzern tat das, Kuscheltiere waren bei Ärzten als Geschenke für kleine Patienten beliebt. Und ja, Astrada unterhielt auch eine Niederlassung in Indien. Möglich, dass Kuscheltiere mit Logo dort in Umlauf gekommen waren.

Es war nichts dran an der Sache, da war sich Iliana sicher. Nach Marks Rückkehr würde sie ihm vorschlagen, das Team zu versammeln, um eine kollektive Aussprache über die Ereignisse abzuhalten. Gerade jetzt war Offenheit wichtig, sonst würden sich ganz schnell Verunsicherung und Gerüchte breitmachen.

Nun hoffte sie, sich endlich ihrer Arbeit widmen zu können. Sie hatte viel auf dem Zettel. Es ging um Projekt P, die Anwendung von Bimini bei Parkinson. Die Ergebnisse der Mausstudien waren äußerst vielversprechend.

Von ihrem Büro aus konnte sie seitlich den Firmenparkplatz überblicken. Die drei dunklen BMW fielen Iliana sofort auf. Es war früher Nachmittag. Die meisten Mitarbeiter erschienen morgens zur Arbeit.

Die Wagen rollten langsam über den vollen Parkplatz und kamen nebeneinander auf den für Lieferanten reservierten Stellplätzen zum Stehen. Fünf Männer mit Sonnenbrillen stiegen aus. Iliana kannte die meisten Mitarbeiter, diese Männer hatte sie noch nie gesehen. Sie waren in Jeans und Lederjacken gekleidet, ein Outfit, das in einem Pharmakonzern niemand trug. Aber es war vor allem ihr Verhalten, das Ilianas Aufmerksamkeit auf sich zog. Nach dem Aussteigen blickten sie sich um, scannten die Umgebung. Es wirkte wie zweckdienliche Routine, nicht wie neugieriges Umherschauen. Einer der Männer sah dabei zu ihrem Fenster hoch und bemerkte Iliana. Einen Moment lang ruhten seine Sonnenbrillenaugen auf ihr, während sie realisierte, dass es zu spät war, um sich zu verstecken. Schließlich ließ er von ihr ab, und die Männer bewegten sich in Richtung Eingang.

Ihr Blick wanderte zu ihrem Monitor. Es ging um die Maus-Testreihe für Projekt P, ein interner Codename für das Vorhaben, Bimini für die Behandlung von Parkinson zu lizenzieren. Mark und sie hatten schon lange vermutet, dass das Medikament auch bei dieser Krankheit wirken könnte. Die Experimente mit den Mäusen weckten jedenfalls entsprechende Hoffnungen. Alles sah danach aus, dass Astrada womöglich bald den nächsten Hit landen würde.

Die rote LED an ihrem Firmentelefon blinkte. Sie hatte es auf lautlos gestellt, weil sie nicht gestört werden wollte. Im Display sah sie den Namen des Anrufers: Evelyn, Freimuths Assistentin. Ihre Töchter gingen in dieselbe Kita.

»Iliana, die Polizei ist hier!« Evelyn sprach mit abgedämpfter, hektischer Stimme.

»Was?«

»Sie sind bei Freimuth. O Gott, ich bin so aufgeregt.«

Jetzt wurde ihr klar, wer die fünf Männer auf dem Parkplatz gewesen waren.

»Ich muss auflegen«, wisperte Evelyn hektisch. »Sie kommen raus.«

Iliana legte auf. Es war sicher nur eine Routinebefragung. Die Polizei musste jedem Hinweis nachgehen. Es war nichts dran.

Oder?

Sie versuchte sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie hatten Parkinson-Mäuse mit Bimini behandelt. Man konnte in Mäusen Parkinson erzeugen, indem man durch Gift den Teil des Gehirns zerstörte, der auch bei Parkinson-kranken Menschen kaputtging: die Substantia nigra, eine Region von Nervenzellen tief im Mittelhirn. Wenn diese Zellen aus unbekannten Gründen zugrunde gingen, entwickelten Parkinson-Kranke die typischen motorischen Störungen. Sie zitterten und konnten ihre Gliedmaßen kaum noch beherrschen, bis die Krankheit am Ende in vollständige Bewegungsunfähigkeit mündete. Die Mäuse waren Modelltiere für Parkinson und zu Forschungszwecken gezüchtet worden. Auch sie zeigten erhebliche Bewegungsstörungen.

Das Studiendesign war immer das gleiche: Eine Gruppe der Parkinson-Mäuse hatte mehrere Wochen lang Bimini injiziert bekommen, eine Kontrollgruppe hingegen ein Placebo – um auszuschließen, dass die Versuchsbedingungen irgendeinen Einfluss auf das Ergebnis nahmen. Dann mussten die Mäuse täglich Bewegungsübungen absolvieren, und nach Ende der mehrwöchigen Versuchsreihen wurden alle Tiere getötet und ihre Gehirne in feine Scheiben geschnitten – um zu untersuchen, ob Bimini irgendetwas in ihren Gehirnen verändert hatte, wie es das in den Gehirnen von Alzheimer-Kranken tat.

Sie hatten insgesamt eintausend Mäuse untersucht, in einem äußerst akribischen Prozess. Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Mäuse, die Bimini bekommen hatten, wiesen starke Verbesserungen in ihrer Motorik auf. Die Gruppe mit dem Scheinmedikament hingegen blieb auf einem gewissen Niveau stehen. Richtig aufregend waren aber die Gehirnschnitte. Bimini hatte in den Gehirnen der Mäuse neue Nervenzellen sprießen lassen. Die Substantia nigra hatte sich teilweise regeneriert. Das war nichts weniger als sensationell. Sie freute sich schon darauf, Mark davon zu berichten, wenn er endlich wieder da war.

Er reiste viel, besuchte assoziierte Labore, sah sich Produktionsstätten überall in Europa an, war auf Konferenzen ein beliebter Keynote-Speaker. Jetzt, da er ein Star war. Manche hielten ihn für einen Nobelpreis-Anwärter.

Sie wusste allerdings nicht, wo er die letzten Tage gewesen war. In all der Zeit, die sie inzwischen zusammenarbeiteten, kannte sie Mark Jacobs als pflichtbewussten Menschen. Mark, der eigentlich Markus hieß, aber schon vor vielen Jahren seinen Namen amerikanisiert hatte.

Die LED ihres Telefons blinkte erneut. Wieder Evelyn. Meine Güte, die war ja wirklich ein Nervenbündel. Sie nahm ab und erwartete, dass sie ihr ausgiebig von der Polizeivisite erzählen würde.

»Freimuth will dich sprechen«, sagte Evelyn.

Iliana stutzte.

»Warum das?«

Normalerweise hatte sie mit dem CEO nicht direkt zu tun. Mark war der Forschungsleiter, sie nur seine Stellvertreterin.

»Er hat gesagt, es sei dringend.«

Freimuths Büro befand sich in der obersten Etage im Tower. Evelyn grüßte sie verkniffen, als Iliana in das Vorzimmer trat. Sie schien immer noch angespannt.

Iliana kannte Freimuth kaum. Sie beneidete Mark keinen Moment darum, dass er sich mit ihm herumplagen musste.

Evelyn gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, unverzüglich zu ihm reinzugehen.

Das Erste, was sie wahrnahm, war sein Geruch. Iliana war ihm nur wenige Male persönlich begegnet und erinnerte sich nun wieder daran, dass sie seinen Geruch als invasiv empfunden hatte. Er ließ Assoziationen von Schwere aufkommen, aber da war noch etwas Spitzes, etwas Herausforderndes, etwas, das keine Grenzen kannte. Für einen Moment unterdrückte sie den Impuls, den Raum wieder zu verlassen. Gegen Geruch gab es keine Augenlider, keine Ohrstöpsel, er drang in einen ein, man war ihm ausgeliefert.

Erik Freimuth sah jünger aus, als er war, und das wusste er auch. Er hatte volles, kurz geschnittenes braunes Haar, wenig Falten, und die Grübchen in seinen Wangen verliehen ihm etwas Jungenhaftes. Er trug niemals Krawatten, sondern nur weiße T-Shirts unter seidigen, eng geschnittenen Jacketts, die teuer aussahen und es sicherlich auch waren.

Er wirkte auf eine glatte Art und Weise attraktiv. Sie mochte diesen Typ eigentlich nicht, aber da war auch etwas in ihr, das auf ihn reagierte. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie ihn auf gewisse Weise anziehend fand.

Freimuths Büro war minimalistisch eingerichtet, die Wände waren kahl, einige unbequeme Stühle standen um einen kleinen Konferenztisch herum. Alles wirkte groß und leer. Am Kopfende des Büros stand ein dunkler Schreibtisch, darauf nur ein ultradünner Laptop neben einem ultradünnen Smartphone. Kein Stift, kein Papier, nichts.

Freimuth tippte und schien keine Notiz von ihr zu nehmen, als sie eintrat. Zwei Stühle standen vor seinem Schreibtisch. Sie trat langsam darauf zu und kam sich bei jedem Schritt zu laut vor, denn er tippte fast geräuschlos. Sie setzte sich und versuchte, entspannt zu wirken.

»Sie wollten mich sprechen«, ergriff sie schließlich das Wort, als immer noch nichts passierte.

Freimuth tippte noch einen Moment weiter, dann klappte er seinen Laptop mit einer schnellen Bewegung zu.

»Markus Jacobs hat gekündigt.«

In seiner wohlklingenden Stimme schwang ein feiner amerikanischer Akzent mit. Freimuth war Amerikaner, aber er sprach perfektes Deutsch. Iliana vermutete, dass der Akzent reine Attitüde war. Anders als sonst bemerkte sie einen hohen Unterton in seiner Stimme, der einen kleinen Teil von seiner Souveränität zunichte machte. Es entging ihr auch nicht, dass er von Mark als Markus sprach – was sein eigentlicher Name war, aber eigentlich nannte ihn niemand mehr so.

»Ich verstehe nicht?«

Sie hatte erwartet, dass er mit ihr über die Protestaktionen sprechen wollte. Oder über die Parkinson-Studie. Dass er ihr die Kündigung ihres Chefs mitteilen würde, dem Vater des wichtigsten Medikaments von Astrada, damit hatte sie nicht gerechnet.

»Mit sofortiger Wirkung«, sagte Freimuth.

Es traf sie wie ein Schlag. Für Mark gab es keinen ersichtlichen Grund, den Konzern zu verlassen. Vor fünf Jahren hatte Freimuth ihn zu Astrada geholt, ihm viel Geld und die besten Forschungsbedingungen geboten, die man sich nur wünschen konnte. Mark und Freimuth kannten sich aus ihrer Zeit in Kalifornien. Mark hatte in Stanford geforscht, Freimuth im Silicon Valley mit mehreren Firmen Millionen gemacht. Warum sollte er jetzt kündigen? Nach dem riesigen Erfolg mit Bimini? So kurz vor seinem nächsten Triumph?

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Freimuth ging nicht auf ihre Worte ein.

»Ich vermute, Herr Jacobs hat ein Angebot der Konkurrenz angenommen. Ich bin enttäuscht, nach allem, was ich für ihn getan habe.«

In Ilianas Kopf ratterte es. Wieso hatte Mark ihr nichts gesagt? Wieso hatte er sie nicht in seine Pläne eingeweiht? Sie arbeiteten seit Jahren eng zusammen, unterhielten ein Vertrauensverhältnis. Sie konnte es nicht glauben. Mark hätte ihr doch erzählt, wenn er unzufrieden gewesen wäre und mit dem Gedanken an Kündigung gespielt hätte. Da war ein ungutes Gefühl in ihr, ein Ziehen, nicht verortbar. Etwas stimmte hier nicht.

»Ich kann nur hoffen, dass er keine Daten mitgenommen hat«, sagte Freimuth. »Sollte er seine Verschwiegenheitserklärung missachten, werden wir ihn in Grund und Boden klagen.«

Sie sah gerade einen ganz anderen Freimuth als in dem Tagesthemen-Interview gestern, das er bezüglich der toten Mädchen gegeben hatte. Sein Blick war stechend, sein Mund ein Strich. Er war richtig wütend.

»Worum es jetzt geht, ist Kontinuität, Frau Kornblum. Sie sind die stellvertretende Forschungsleiterin, Sie wissen, dass all das jetzt zur Unzeit kommt.«

»Sie meinen, weil die Polizei gerade hier war?«

Sie biss sich auf die Zunge. Zu spät. Freimuths bedrohlicher Blick bestätigte ihr, dass sie die falsche Frage gestellt hatte.

»Woher wissen Sie davon?«, fragte er.

Sie hatte sich verplappert. Sie wollte Evelyn nicht in Schwierigkeiten bringen.

»Ich habe die Männer auf dem Parkplatz gesehen. Sie wirkten nicht wie Angestellte. In den Medienberichten hieß es, dass die Staatsanwaltschaft bereits ermittele. Ich habe mir meinen Teil gedacht.«

Es klang nicht überzeugend. Freimuth musterte sie mit seinen dunkelbraunen Augen. Sein Gesicht war nicht zu entziffern. Durchschaute er sie? Testete er sie?

Dann sagte er:

»Nein, nicht deswegen kommt es zur Unzeit. Wie ich schon sagte, Astrada hat mit diesen toten Mädchen nichts zu tun. Ich spreche von Projekt P. Dafür benötige ich volle Unterstützung vom Aufsichtsrat. Jacobs’ Ausscheiden darf das auf gar keinen Fall gefährden. Deswegen werden Sie mit sofortiger Wirkung die Forschungsleitung übernehmen.«

Jetzt war sie baff. Was geschah hier gerade?

»Heute ist Donnerstag. Am Dienstag ist die nächste Aufsichtsratssitzung. Jacobs sollte Projekt P dort präsentieren. Und zwar so, dass der Rat dem Projekt grünes Licht gibt. Das werden nun Sie übernehmen.«

Sie schnappte nach Luft.

»Das ist viel zu kurz. Wir haben Unmengen von Daten, die wir noch längst nicht ausgewertet haben.«

»Dann gehen Sie an die Arbeit.«

Er klappte seinen Laptop wieder auf und begann zu tippen.

Sie war völlig verwirrt. Das ging alles zu schnell. Warum hatte Mark bloß gekündigt?

Sie stand auf und ging. Als sie schon an der Tür war, rief Freimuth ihr nach:

»Frau Kornblum, eine Sache noch.«

Sie drehte sich um.

»Ab sofort sind alle Daten zu Bimini Verschlusssache.«

»Warum das?«

»Wie ich erfahren habe, sind mehrere investigative Journalisten auf uns angesetzt worden. Wir haben Protestaktionen vor dem Firmengelände. Wir können nichts riskieren. Keinerlei Daten verlassen mehr dieses Gelände.«

»Für die Präsentation werde ich aber vielleicht alte Daten benötigen.«

»Dann muss ich Sie bitten, am Wochenende in die Firma zu kommen«, sagte Freimuth knapp und blickte wieder auf seinen Laptop.

Als sie sein Büro verlassen hatte, verfolgte sie sein Geruch noch lange. Sie war sich nicht sicher, ob er in ihrer Kleidung oder in ihrem Kopf steckte.

 

3

»Pharmakonzerne führen Medikamentenstudien besonders gerne in Entwicklungsländern durch. Die Gründe sind einfach: Dort muss man den Probanden weniger bezahlen, und die ethischen Standards sind sehr viel niedriger. Wenn sie überhaupt vorhanden sind.«

Iliana starrte auf den Bildschirm. Sie sah die Tagesthemen und trank ein Glas Wein. Gerade interviewten sie, wen sonst, Andrea Parka. Nach der Arbeit hatte sie Marie in der Kita abgeholt, danach war sie bei ihrem Vater vorbeigefahren und war länger dort geblieben als ursprünglich geplant. Es war schön, dass er wieder so gut wie gesund war. Bimini hatte seine Alzheimer-Symptome auf ein Minimum reduziert. Sein Erinnerungsvermögen funktionierte fast normal. Manchmal fiel ihm ein Name nicht sofort ein, aber er hatte immerhin nicht mehr mit Totalausfällen zu tun. Seit einem Jahr wohnte ihr Vater wieder in einer eigenen Wohnung und kam alleine zurecht. Für Iliana war es eine enorme Erleichterung gewesen. Manchmal konnte sie es kaum fassen, wie sich alles entwickelt hatte. Vor drei Jahren noch hatte ihr Leben in Trümmern gelegen: die Krankheit ihres Vaters, der plötzliche Tod ihrer Mutter, ihre Trennung von Phillip. Sie war am Ende ihrer Kräfte gewesen. Obwohl derzeit alles gut aussah, war sie noch nicht wieder vollständig in Form. Jetzt auch noch diese Präsentation, die sie am Wochenende fertigstellen musste.

Sie nahm einen Schluck Wein.

»Wie wir wissen, litten die indischen Mädchen aus dem Container unter Entwicklungsstörungen«, sagte die Nachrichtensprecherin.

»Dafür gibt es zahlreiche Erklärungsmöglichkeiten«, antwortete Parka. Sie blickte mit festem Blick in die Kamera. Ihr langes dunkles Haar hatte sie zusammengebunden, graue Strähnen waren darin zu sehen. Sie wirkte sehr seriös, sprach ruhig und sachlich. Iliana hielt sie für eine gewiefte tendenziöse Strategin.

»Mädchen haben in Indien einen schweren Stand, häufig werden sie in ihren Familien schlecht behandelt. Sie gelten als Bürde, weil bei ihrer Heirat eine Mitgift fällig wird. Das bedeutet für viele arme Familien eine finanzielle Last. Millionen Mädchen werden in Indien daher vernachlässigt, ausgesetzt, verkauft oder nach der Geburt umgebracht, wenn sie nicht schon vorher abgetrieben werden. Mittlerweile gibt es in Indien sogar einen deutlichen Männerüberschuss. Es hätte in der Verantwortung des Pharmakonzerns gelegen, dafür Sorge zu tragen, dass es den Mädchen wenigstens für die Dauer der Studie gut geht.«

»Was macht Sie so gewiss, dass diese Mädchen an einer medizinischen Studie teilgenommen haben?«

»Da sind zum einen die Stofftiere mit dem Astrada-Logo …«

»Die aber auch auf anderem Wege zu den Kindern gelangt sein könnten«, warf die Nachrichtensprecherin ein.

Parka nickte. »Das ist natürlich möglich, ja. Wenngleich ich es für unwahrscheinlich halte. Solche Pharma-Werbeartikel werden zumeist an Ärzte und Krankenhäuser verteilt. Diese Mädchen standen irgendwie in Kontakt mit einer medizinischen Einrichtung. Was ich aber als noch viel stärkeren Beweis betrachte, ist die Tatsache, dass sie einen Shunt implantiert hatten …«

»Ich glaube, wir müssen den Zuschauern kurz erklären, was das ist«, unterbrach die Sprecherin sie.

»Verzeihung«, sagte Parka. »Ein Shunt ist ein kleiner Schlauch, der Vene und Arterie verbindet und den man Patienten in den Arm implantiert. Das macht man beispielsweise bei Dialysepatienten, die regelmäßig zur Blutwäsche müssen, weil ihre Nieren das Blut nicht mehr reinigen können. Weil man aber Venen nicht so oft anstechen kann, setzt man ihnen diesen Schlauch in den Unterarm ein. Der Arzt sticht die Nadel dann in den Schlauch statt in die Vene. Die Verdickungen unter der Haut sehen zwar gruselig aus, es macht die Sache für den Patienten aber angenehmer.«

»Wenn die Mädchen solche Shunts in ihren Armen hatten, bedeutet das, dass sie nierenkrank waren?«

»Das könnte sein, und es würde auch die Mangelerscheinungen erklären, aber etwas passt meiner Meinung nach nicht. Wie ich bereits erwähnte, sind Mädchen in Indien weniger wert als Jungen. Ich halte es daher für äußerst unwahrscheinlich, dass sie – falls sie nierenkrank gewesen sein sollten – überhaupt eine medizinische Behandlung bekommen hätten.«

»Was glauben Sie stattdessen, Frau Parka?«

»Indische Mädchen werden häufig verkauft – meistens an Sex- oder Sklavenhändler. Aber auch an andere skrupellose Leute. Ich glaube, dass diese Mädchen als Versuchskaninchen für Studien verkauft wurden. In diesem Fall an Leute, die Studien im Auftrag von Astrada durchführten. Deswegen die Shunts, da man ihnen häufig Substanzen injizieren musste. Deswegen die Astrada-Kuscheltiere. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Pharmakonzern Kinder als Versuchskaninchen missbraucht, um neue Medikamente zu testen. 1996 testete Pfizer während einer Meningitis-Epidemie das Antibiotikum Trovan an Minderjährigen in Nigeria. Elf Kinder starben, viele weitere waren danach lebenslang behindert. 2003 hat eine Sanofi-Tochter in Indien Tests durchgeführt und den Patienten verschwiegen, dass sie an einer Studie teilnahmen. Auch damals starben Menschen. 2007 testete Novartis an Obdachlosen in Polen einen Vogelgrippe-Impfstoff, ohne deren Einverständnis. Die Liste ist lang, alle großen Pharmakonzerne verletzen seit Jahren ethische Standards – warum sollte Astrada da eine Ausnahme sein?«

»Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe, Frau Parka«, sagte die Nachrichtensprecherin. »Erik Freimuth, der Chef von Astrada, hat bestritten, dass der Konzern Studien an indischen Kindern durchführt.«

»Was soll Erik Freimuth auch anderes sagen? Ich kenne keinen Fall, in dem die Pharmaindustrie ihre Schuld freiwillig eingestanden hat. Die Wahrheit kommt meist scheibchenweise ans Licht, und immer nur unter Druck.«

Man merkte, dass Andrea Parka zahlreiche Medientrainings hinter sich hatte. Sie wusste ganz genau, welche Knöpfe sie drücken musste. Parka hatte früher selbst in der Pharmaindustrie gearbeitet. Dann hatte sie die Seiten gewechselt und war zur schärfsten Pharmakritikerin mutiert. Ihr Verein Pharmatransparency war in der Branche gefürchtet.

Iliana schaltete den Fernseher auf lautlos. Sie war wütend. Parka hatte ein wichtiges Detail unterschlagen, nach dem auch die Journalistin nicht gefragt hatte. In den Körpern der Mädchen hatte man lediglich Rückstände von Beruhigungsmitteln gefunden – keinerlei Hinweise auf andere Drogen oder Substanzen. Dies aber hätte bei Medikamententests der Fall sein müssen. Beides passte nicht zur These von den Kinder-Versuchskaninchen.

Was sie über die üble Lage von Mädchen in Indien gesagt hatte, stimmte hingegen. Gut möglich also, dass es für die schlechte körperliche Verfassung der Mädchen und ihre Flucht andere Gründe gab. Die Shunts in ihren Armen blieben natürlich rätselhaft.

Eines war klar: Das Ganze war ein PR-Desaster für Astrada. Sie musste Andrea Parka leider zugestehen, dass die Indizien in der Tat dazu einluden, die Rollen von Gut und Böse eindeutig zu verteilen.

Iliana stand auf. Sie war müde, aber innerlich unruhig. Das Gespräch mit Freimuth hing ihr nach. Sie konnte nicht verstehen, warum Mark sich zu diesem Schritt entschieden hatte. Vor allem, warum er ihr nichts davon gesagt hatte.

Sie war jetzt Forschungsleiterin von Astrada, mit 39 Jahren. Sie konnte sich nicht darüber freuen. Sie war nur befördert worden, weil ihr langjähriger Chef und Kollege entschieden hatte, sich aus dem Staub zu machen.

Bis Dienstag sollte sie eine hochkarätige Präsentation zusammenhauen, aus lauter Rohdaten.

Mark? Was soll das? Wieso hast du gekündigt?

Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, klar und deutlich. Ihr Gehirn schoss permanent Bilder, sie besaß ein fotografisches Gedächtnis. Sie sah Marks schmales Gesicht, das immer unrasiert war. Sie sah seine hellblauen Augen, die durch die fast unsichtbare Brille lugten. Sie sah sein blondes Haar, das in den letzten Jahren immer dünner geworden war, was ihn sehr fuchste. Sie sah die stets bedachten Bewegungen seines schlanken Körpers. Wenn er sich überhaupt bewegte, denn er hatte die Angewohnheit, nicht selten lange regungslos und hoch konzentriert dazusitzen wie eine Eidechse. Sie hatte ihn immer um diese Fähigkeit der totalen Versenkung beneidet, wenn er minutenlang vor seinem Rechner oder über eine Studie gebeugt ausharrte, ohne die kleinste Bewegung zu machen.

Mark. Sie kramte ihr Handy hervor und tippte auf seinen Kontakt. Zum x-ten Mal versuchte sie, ihn anzurufen, und zum x-ten Mal sprang nur seine Mailbox an.

»I am currently unavailable, please leave a message«, teilte die Aufnahme seiner unaufgeregten Stimme mit.

Umso aufgeregter war ihre: »Mark! Was ist los? Wo steckst du? Melde dich endlich!«

Iliana ging vorsichtig zu Maries Zimmer und lauschte an ihrer Tür. Alles ruhig. Ihre Tochter schlief. Sie drückte die Türklinke langsam hinunter und öffnete die Tür. Als sie eintrat, traf sie sofort der charakteristische Geruch ihrer Tochter. Eine Mischung aus Blumenduft, Waschmittel und Gummibärchen. Sie hörte Maries Atem und näherte sich ihrem Bett. Es war schummrig in dem Zimmer. Ein Nachtlicht in der Steckdose neben ihrem Bett tauchte ihr Gesicht in sanftes Licht. Marie mochte völlige Dunkelheit nicht. Ohne Nachtlicht wollte sie nicht schlafen.

Sie hatte die Decke völlig zerwühlt, ihre blonden Locken waren zerzaust. Marie lag auf der linken Seite, im Arm hielt sie ihren Teddy. Der Daumen der rechten Hand befand sich nah am Mund, aber nicht darin. Sehr gut, dachte Iliana. Sie versuchte Marie gerade endgültig das Daumenlutschen abzugewöhnen. Wenn Marie einmal schlief, dann schlief sie – beneidenswert, fand Iliana, die in den letzten drei Jahren unter Schlafstörungen gelitten hatte. Nach außen hin wirkte sie immer souverän, das hatten schon ihre Eltern gesagt. Immer kontrolliert, immer Herrin der Lage. Aber der Schlaf entzog sich ihrer Kontrolle, und nachts kamen all ihre Ängste und Schwächen hervorgekrochen wie Silberfischchen. Sie war froh, wenn sie sich morgens nicht an ihre Träume erinnerte. Die Gefühle, die ihr nachhingen, reichten ihr.

Sie betrachtete ihre schlafende Tochter, lauschte ihren Atemzügen. Sie hatte sich immer ein zweites Kind gewünscht, nun stand ihre Scheidung bevor, und alles sah danach aus, dass Marie ein Einzelkind bleiben würde – so wie sie selbst eines gewesen war. Das hatte sie Marie ersparen wollen, die ständige Aufmerksamkeit, den Erwartungsdruck, immer im Fokus zu sein, niemanden zu haben, mit dem man Geheimnisse vor den Eltern teilen konnte. Eine Woge der Liebe durchströmte Iliana plötzlich, als sie Marie betrachtete, dieses kleine Wesen, in dem sie sich immer wieder selbst erkannte, das ihr Ein und Alles war.

Iliana dachte daran, wie sie mit Phillip zusammen Kinderfotos von ihnen beiden durchgesehen hatte – auf der Suche nach Ähnlichkeiten, im spielerischen Wettbewerb, wem Marie ähnlicher sah. Sie hatten viel gelacht, denn Phillip war ein ziemlich hässliches Kind gewesen, mit aufgeplusterten Backen, Zahnlücken und schiefem Grinsen. Es war so offensichtlich, dass Marie mit ihren grünen Augen, ihrem Lächeln und ihren dunkelblonden Locken eine Kopie von Iliana als Kleinkind war. Schließlich hatte sogar Phillip kapituliert, obwohl er gerne im Recht war. Unter Lachen natürlich.

Sie vermisste sein Lachen.

Vorbei. Nächstes Jahr würden sie sich scheiden lassen. Phillip lebte mit seiner neuen Freundin zusammen. Die Scheidung hatte Iliana gefordert, und in manch schwachem Moment fragte sie sich, ob diese Entscheidung nicht vorschnell gewesen war.

Sie strich Marie über die Wange, sehr behutsam, obwohl sie wusste, dass sie nicht aufwachen würde. Dann zog sie Maries Decke höher. Dabei bemerkte sie auf dem T-Shirt des Teddys ein weißes Dreieck mit einem umgedrehten kleineren Dreieck in dessen Mitte. Sie zuckte zusammen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Marie ein Kuscheltier von Astrada besaß. Hatte sie es ihr mitgebracht? Oder Phillip? Er war Arzt und Chef der Elbkliniken.

Ausgemergelte Gesichter, schwarze Haare. Dünne Arme, die Kuschelengel umklammern.

Die Bilder der toten Mädchen waren überall zu sehen gewesen. Sie wettete, dass Parkas Leute dafür gesorgt hatten. Solche Bilder waren die besten Waffen im Kampf gegen die Pharmaindustrie.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der sie abermals verwirrte. Wieso wollte Freimuth die Bimini-Daten unter Verschluss halten, wenn der Konzern doch angeblich nichts mit den indischen Mädchen zu tun hatte? Was hatte er zu befürchten? Wieso hatte er es so demonstrativ beiläufig erwähnt, wenn es doch so wichtig war? Da war etwas, das sie kitzelte, das ihr keine Ruhe lassen würde, wenn sie ihm nicht nachging. Wissensdurst war seit jeher ihr Motor gewesen. Er hatte sie dazu getrieben, sich der Forschung zu widmen. Hatte sie ihre Scheu überwinden lassen, vor Jahren als völliger Niemand den führenden Alzheimer-Forscher anzuschreiben und sich in seinem Labor zu bewerben. So war sie bei Mark in Stanford gelandet. Manchmal konnte sie nicht glauben, wie naiv sie gewesen war. Welch großes Glück sie gehabt hatte.

Was an den Bimini-Daten war es, das Freimuth nervös machte? Sie verließ Maries Zimmer, holte den Firmen-Laptop aus ihrer Tasche und ging ins Wohnzimmer. Natürlich hatte sie eine lokale Kopie der Bimini-Daten auf ihrer Festplatte.

Das Dreieckslogo prangte auf ihrem Laptop wie ein Brandzeichen. Eigentum von Astrada. Sie wusste, dass sie keine Firmendaten auf der Festplatte ablegen sollte. Auch schon vor Freimuths Ansage war das die Vorschrift gewesen. Tausendmal hatte Matthias, der Systemadministrator, sie und die anderen in Corporate Privacy geschult – sterbenslangweilige Pflichtseminare waren das gewesen. »Speichert Daten nur auf den Netzlaufwerken«, hatte er mit seiner einschläfernden Technikerstimme gesagt, »sonst werdet ihr es beim nächsten Crash bereuen.«

Natürlich ging es nicht um Datenvorsorge. Es ging um Kontrolle. Die Daten, das war der Subtext, gehörten Astrada und niemandem sonst. Man traute den Mitarbeitern nicht. Für die Firma war jeder ein potenzielles Datenleck – ob absichtlich oder aus Dummheit. Sie hatte die Daten dennoch auf ihre Platte kopiert. Die Gründe waren simpel: eine Mischung aus Bequemlichkeit und Insubordination.

Die Netzlaufwerke sind zu langsam, Matthias. Genau wie du.

Es waren ihre Forschungen, ihre Daten. Astrada machte sie zu Geld. Sie wusste, dass dies eine naive Sicht der Dinge war und es in ihrem Vertrag eine Klausel gab, laut der sämtliche ihrer Ergebnisse Astrada gehörten. Aber juristische Winkelzüge interessierten Iliana nicht.

Wo war der Bimini-Ordner? Sie wühlte sich durch ihre Festplatte. Ihr Desktop war voller Dokumente, Excel-Tabellen, PDFs, GIFs.

Schließlich fand sie ihn. Sie fuhr mit der Maus darüber und wollte ihn schon aufklicken, als ihr siedend heiß etwas einfiel.

»Sie schauen uns über die Schulter, Iliana.«

Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit Mark, das etwa zwei Jahre zurücklag. Er hatte damals auf seinem Rechner eine seltsame Software entdeckt, von der er glaubte, dass sie jeden Mausklick, jede Tastatureingabe aufzeichnete und an Astrada sandte.

»Sie schauen uns über die Schulter, Iliana. Bei allem, was wir tun. Denk dran.«

Sie hatte ihn ausgelacht und als paranoid bezeichnet.

Nun sah sie den Mauszeiger auf dem Ordnersymbol und überlegte. Was, wenn er nicht paranoid war?

»Denk dran.«

Er hatte ihr damals gezeigt, wie man die Schnüffel-Software aufspürte. Sie schloss die Augen und blätterte im Fotoalbum ihrer Erinnerung. Sie sah Marks lange Finger gespreizt über seinem Keyboard, sah die dicke Uhr an seinem linken Handgelenk, sah seinen linken Daumen auf der CTRL-Taste liegen, der Zeigefinger drückte die Taste 3, und die äußeren Finger spreizte er ab wie ein Künstler. Es war eine merkwürdige Handverrenkung, um eine spezielle Tastenkombination zu aktivieren, die sie nicht kannte. Ihr geistiges Auge wanderte nun zu seiner rechten Hand. Die musste sich noch unbequemer angefühlt haben, denn deren Zeige-, Mittel- und Ringfinger drückten gleichzeitig die Tasten R, U und P. Die Adern traten hervor von der Anstrengung und sahen aus wie kleine Schlangen.

Was, wenn er recht gehabt hatte? Sie wollte nichts riskieren und versuchte sich an der Tastenkombination, wobei sie merkte, dass Mark viel größere Hände hatte als sie. Sie bekam fast einen Krampf und probierte mehrere Handkonstellationen, um die Tastenkombination zu drücken. Schließlich gelang es ihr, und ein Fenster sprang auf. Sie sah Prozentwerte, Graphen und eine lange Liste mit Dateinamen, deren Reihenfolge permanent hin und her sprang. IT-Kram, der sie nie interessiert hatte. Aber hier irgendwo musste es sein.

Sie schloss erneut ihre Augen. Marks rechter Zeigefinger deutete auf einen Eintrag in der Liste. Sein Fingernagel lag direkt unter: »trust_d«. Das war der Name des Systemdienstes gewesen, der von der Schnüffel-Software installiert wurde.

Sie suchte die Liste auf ihrem Monitor ab. Einträge hüpften umher, wurden immer wieder vom Rechner nach Aktivität umsortiert. Sie war müde, und die kleine Schrift auf ihrem Monitor flimmerte, aber dann entdeckte sie es, ziemlich weit unten: trust_d.

Also stimmte es wirklich. Sie schauten auch ihr über die Schulter.

Beklemmung machte sich in ihr breit. Freimuth wusste bereits – oder konnte es wissen, wenn er wollte –, dass sie eine lokale Kopie der Bimini-Daten besaß. War das ein Test? Hatte er sie deswegen ermahnt, sich an die Datenschutzbestimmungen zu halten? Weil er sehen wollte, ob sie den Bimini-Ordner löschen würde?

Wenn sie jetzt darin herumstöberte, würde er es mitbekommen.

Schnell deaktivierte sie das WLAN auf dem Laptop, damit die Software erst mal nichts mehr senden konnte.

Wirklich nicht? Der paranoide Mark hatte ihr eingebläut, sich auf nichts zu verlassen. Hektisch lief sie durch ihre Wohnung. Wo war der Router? Nach einigem Suchen fand sie ihn in der Besenkammer, verborgen hinter altem Geschirr und Putzzeug. Sie zog den Stecker des Geräts ab, die LEDs erloschen.

Jetzt war sie offline. Es verschaffte ihr ein wenig Zeit. Aber ihr Rechner zeichnete trotzdem weiterhin alles auf. Auch, dass sie das WLAN unterbrochen hatte. Sobald er wieder online war, würde er alles senden.

Ihre Gedanken rasten, suchten einen Ausweg.

Sie wählte im Rechner den Dienst trust_d und versuchte, ihn zu beenden. Aber er war ausgegraut, sie konnte ihn nicht stoppen.

Sie überlegte weiter. Sie konnte natürlich die Bimini-Daten auf einen USB-Stick kopieren und an einem anderen Rechner analysieren. Aber auch den Kopiervorgang würde die Schnüffel-Software aufzeichnen.

Es war zum Verrücktwerden. Wie konnte sie Freimuths Augen entkommen?

Dann kam ihr eine Idee.

Die Größe ihrer Wohnung lud nicht gerade dazu ein, viele Dinge zu horten. Sie brauchte dennoch fast zehn Minuten, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Phillips Notfallstick. Ihr Exmann hatte sich immer für den Ernstfall abgesichert. Computerviren, versehentlich gelöschte Systemdateien, abrauchende Festplatten – in Phillips Welt lauerten viele Gefahren und unangenehme Überraschungen, auf die man sich besser vorbereitete. Er hatte immer ein startbares Linux-System auf einem USB-Stick gehortet, mit dem man einen Rechner auch dann hochfahren konnte, wenn nichts mehr ging. Dann kam man immer noch an seine Daten heran, hatte er ihr etwas zu oberlehrerhaft erklärt.

Jetzt war sie froh, dass er es getan hatte. Sie fuhr den Rechner runter, schob den Stick in den USB-Port und drückte den Anschaltknopf. Als ein lächelnder Linux-Pinguin auf ihrem Startbildschirm erschien, murmelte sie: »Fuck you, Freimuth.«

Bimini war ein Proteincocktail, der aus dem Blut junger Spender gewonnen wurde. Im Gehirn von Alzheimer-Kranken ließ es frische Nervenzellen sprießen und diese Zellen neue Verbindungen untereinander ausbilden. Der Krankheitsverlauf von Alzheimer bestand wie bei Parkinson in der stetigen Abnahme der Hirnmasse durch das Absterben von Neuronen. Allerdings nicht nur in der Substantia nigra, sondern vor allem im Hippocampus, einer Hirnregion, in der Erinnerungen gebildet werden. Im weiteren Verlauf der Alzheimer-Erkrankung war dann auch die Großhirnrinde vom Verlust der Nervenzellen betroffen.

Alles hatte in Stanford mit den so legendären wie umstrittenen Maus-Experimenten von Mark begonnen. Sie erinnerte sich, wie Tierschützer damals auf die Barrikaden gegangen waren, als Mark seine Versuche publiziert hatte. Sie hatten ihm eine Menge Aufmerksamkeit beschert. Auch Iliana selbst war darüber auf ihn gestoßen. Sie hatte die grausamen Experimente nie mit eigenen Augen gesehen. Jetzt betrachtete sie fasziniert ein paar Videos der alten Versuche.

Das Video zeigte zwei Mäuse, deren kleine Körper leicht zitternd zwischen Holzspänen zusammengedrängt in ihrem Käfig aus Plexiglas kauerten. Das Video war offenbar kurz nach dem chirurgischen Eingriff aufgenommen worden, denn am seitlichen Hinterteil der Tiere war noch die rote Operationsnaht zu sehen.

Mark hatte die Mäuse miteinander verbunden wie siamesische Zwillinge. Er hatte an beiden Tierleibern einen tiefen Einschnitt vorgenommen und sie an den Wunden zusammengenäht. Den Rest erledigte die Biologie. Nach wenigen Tagen waren die Mäuse an der Nahtstelle zusammengewachsen. Parabiose nannte man dieses Experiment. Sein Sinn und Zweck bestand darin, die Blutkreisläufe der beiden Tiere miteinander zu verbinden.

Der Trick war gewesen, dass Mark eine alte mit einer jungen Maus vernäht hatte. Im Video war deutlich zu erkennen, dass die linke Maus größer als die rechte und ihr Fell dunkler und struppiger war. Die linke Maus war die ältere. Und zwar deutlich älter.

Nach der operativen Verbindung beider Körper floss Blut der jungen Maus in den Körper der alten und umgekehrt.

Was wie die grausame Quälerei eines skrupellosen Wissenschaftlers anmutete, sollte sich als das Schlüsselexperiment für den langen Weg zur Bekämpfung von Alzheimer erweisen. Als Mark nach wenigen Wochen die Mäuse chirurgisch wieder trennte, stellte er erstaunliche Veränderungen bei der alten Maus fest – sie war verjüngt worden.

Mark hatte die alten Mäuse nach der Trennung von ihrem jeweiligen jungen siamesischen Zwilling allen möglichen Tests unterzogen. Er ließ sie durch Labyrinthe laufen und den Ausgang suchen, um ihre Gedächtnisleistung zu prüfen. Normalerweise lernen Mäuse den Weg aus einem Labyrinth nach wenigen Durchgängen. Alte Mäuse brauchen naturgemäß länger als jüngere, weil sie sich schlechter erinnern.

Aber die alten Mäuse, durch die junges Blut geflossen war, waren anders. Sie fanden schnell aus dem Labyrinth heraus. Genauso schnell wie junge Mäuse. Sie konnten sich wieder besser erinnern.

Mark fand den Grund dafür in ihren Köpfen. Er tötete die alten Mäuse und schnitt ihre Gehirne in Scheiben. Iliana klickte sich durch die Gehirnschnitte und sah, dass den alten Tieren im Hippocampus neue Nervenzellen gewachsen waren. Hinzu kam: Die Nervenzellen hatten mehr Verbindungen untereinander ausgebildet. Darin lag die Erklärung für ihre bessere Gedächtnisleistung.

Das Parabiose-Experiment machte Mark schlagartig berühmt. Davor hatte er bereits viele Jahre lang an Alzheimer geforscht, allerdings mit wenig Erfolg. Er hatte gehofft, eines Tages einen Früherkennungstest für die Krankheit zu entwickeln, um Patienten möglichst frühzeitig behandeln und den Niedergang des Gehirns zu verlangsamen. Nie hätte Mark sich träumen lassen, eines Tages ein Heilmittel gegen Alzheimer zu finden.

Auf der Suche nach einem Biomarker für Alzheimer hatte Mark jahrelang das Blut von Gesunden mit dem Blut von Alzheimer-Patienten verglichen in der Hoffnung, auf irgendwelche verräterischen Unterschiede zu stoßen. Er fand sie nicht. Auf die Parabiose war er zufällig gekommen. Mark hörte auf einer Konferenz den Vortrag eines alten Forschers, der als junger Doktorand das Experiment noch selbst durchgeführt hatte – es war aufgrund seiner Grausamkeit in den 70er-Jahren aus der Mode gekommen. Fast nebenbei erwähnte der Forscher, dass alte Mäuse agiler gewirkt hatten, wenn sie mit jüngeren zusammengenäht wurden. Mark wurde hellhörig. Von dem alten Wissenschaftler ließ er sich zeigen, wie man eine Parabiose-Operation bei Mäusen korrekt durchführte. Der Rest war Geschichte.

Iliana wünschte, sie wäre damals dabei gewesen, als Mark die Gehirnschnitte sah, die sie jetzt auf dem Monitor hatte. Wissenschaft konnte wie eine Droge sein. Sie kannte das Gefühl, sie hatte es erlebt, als sie und Mark die ersten Studienergebnisse mit Bimini an Menschen gesehen hatten und wussten, dass es wirkte. Sie hatte etwas von der großen rätselhaften Maschinerie des Lebens verstanden und daran gedreht. Das war ein großartiges und mächtiges Gefühl. Dadurch wurde man Teil von etwas, das viel größer und älter war als man selbst. Sie hatte es in der Hand, menschliches Leid zu beenden. Ihr waren die Tränen gekommen, weil damals ihre ersten Gedanken ihrem kranken Vater gegolten hatten. In diesem Moment hatte sie gewusst, dass er wieder gesund werden, dass sie ihn heilen würde.

Die Verjüngung der alten Mausgehirne klappte auch ohne das grausame Zusammennähen. Mark zeigte in weiteren Experimenten, dass Bluttransfusionen zwischen jungen und alten Tieren den gleichen Effekt hatten. Es genügte sogar das Blutplasma, also der flüssige Teil des Blutes ohne die roten Blutkörperchen.

Aber das waren Maus-Experimente. Mäuse waren keine Menschen. Das Experiment, das Mark zum Hoffnungsträger der Alzheimer-Forschung beförderte und einen wahren Goldrausch in seinem Forschungsfeld auslöste, war jenes, in dem Mark seinen alten Mäusen das Blutplasma junger Menschen transfundierte. Auch das brachte die alten Mausgehirne wieder auf Trab.

Nun war klar: In jungem Blut, egal ob in menschlichem oder tierischem, steckte ein Jungbrunnen. Wer ihn zuerst fand, der würde Alzheimer besiegen – und eine Menge Geld verdienen.

In dieser Phase war Iliana zu ihm nach Stanford gekommen, angelockt von den spektakulären Ergebnissen, voller Motivation, ihren Vater zu heilen, der damals schon an den ersten Stufen von Alzheimer litt.

Es war keine Option, Alzheimer-Patienten einfach das Plasma junger Leute zu verabreichen. Man hätte Unmengen an Blut benötigt und die Patienten permanent an eine Transfusion hängen müssen. Also musste man jene Stoffe im Blutplasma finden, die Nervenzellen sprießen ließen. Ein wahrer Goldrausch brach damals in den Laboren aus. Marks Forschung hatte ihn ausgelöst, und auch er und Iliana waren dem daraus entstandenen Konkurrenzdruck ausgesetzt gewesen – diese heiße Phase bedeutete nicht nur unendlich viel Arbeit, sondern entsprach der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Blut ist ein flüssiges Organ, über das alle anderen Organe und Gewebe miteinander kommunizieren. Es enthält ein Sammelsurium an Stoffen – Hormone, Nährstoffe, Abwehrstoffe, über zehntausend Proteine –, und von den wenigsten wusste die Wissenschaft, wie sie eigentlich funktionierten. Unter ihnen musste sich der gesuchte Jungbrunnen befinden, denn als Mark das Plasma der jungen Leute erhitzte und damit die Proteine zerstörte, verlor es seine verjüngende Wirkung.

Nach und nach engten sie die möglichen Kandidaten unter den zehntausend Proteinen ein, bis nur noch die Fraktion GRF6009 übrig war, die immer noch über hundert Proteine umfasste. Wahrscheinlich waren auch darin viele überflüssig, aber es war die kleinste Menge an Proteinen, mit denen Iliana und Mark die verjüngende Wirkung auf das Gehirn erzeugen konnten. Bimini war geboren.

In dieser arbeitsreichen Zeit hatte Iliana Phillip kennengelernt. Später hatte er gesagt, dass die ersten drei Jahre ihrer Beziehung nur zur Hälfte zählten, weil er sie so selten gesehen hatte. Auch in der folgenden Zeit war ihre Arbeit immer wieder Grund für Streitereien gewesen.

»Du bist mit deiner Arbeit verheiratet, nicht mit mir.«

Ja, sie hatte extrem viel gearbeitet. Sie war es Mark schuldig gewesen. Ihn hatte sie genauso wenig enttäuschen wollen wie ihre Eltern, ihren Vater, der sich krumm gearbeitet hatte, um ihr das Biologiestudium zu ermöglichen. Der an dieser schrecklichen Krankheit litt. Sie wollte ihn heilen.

»Papa, ich bin’s. Illi.«

»Iliana, er meint es nicht so, Schatz. Er ist krank.«

»Papa, erkennst du mich nicht? Ich bin deine Tochter!«

Alte Gefühle stiegen in ihr auf, Erinnerungen an diese schreckliche Zeit, als die Krankheit nach und nach sein Ich aufgelöst hatte.

Bimini hatte ihren Vater gerettet.

Iliana klickte sich weiter durch die Unterordner. Wonach suchte sie eigentlich? Was machte Freimuth so nervös? Ordnernamen flimmerten vor ihren Augen. »Raw«, »Phase I«, »Phase II«, »Nature«, »Science« – sie musste grinsen. Das war Marks ganzer Stolz: die gleichzeitige Veröffentlichung der Bimini-Patientenstudie in den zwei renommiertesten wissenschaftlichen Magazinen der Welt, Nature und Science. Das hatte es nie zuvor gegeben. Die Magazine waren Erzrivalen.

Sie schaute sich die Screenshots der Titelblätter an. »Forget Alzheimer!« lautete die Headline, auf die der Journalist, der sie sich ausgedacht hatte, bestimmt heute noch stolz war.

Bimini war Astradas Jackpot. Ein Blockbuster. Unglaublich viel Geld wert. Und das trotz dieses bescheuerten Namens. Bimini! Kein Alzheimer-Medikament hieß so, sie trugen Namen wie Rivastigmin, Galantamin oder Memantin. Iliana schmunzelte innerlich, als sie daran zurückdachte, wie sehr die Marketingabteilung von Astrada dagegen Sturm gelaufen war, als Mark den Namen Bimini vorgeschlagen hatte. Er klinge zu niedlich, wandten sie ein, als handle es sich um Zitronenbonbons, niemand würde das Medikament ernst nehmen, Astrada würde sich lächerlich machen, Betroffene könnten sich verspottet fühlen. Die Marketingabteilung wollte Namen, die Macht und Wirkung ausstrahlten, mit wohlklingenden Vokalen: Chronox oder Memoramin waren ihre Favoriten. Aber Mark war stur geblieben. Unermüdlich hatte er jedem erklärt, warum er diesen Namen wollte und keinen anderen: Bimini sei eine Inselgruppe der Bahamas, nicht weit von Miami. Dort habe vor fünfhundert Jahren der spanische Konquistador Juan Ponce de León der Legende nach den Quell der Jugend gesucht.

Das war typisch Mark. So sah er sich selbst: als Konquistador, der Neuland mit seiner Forschung betrat. Er nahm sich selbst kompromisslos ernst, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich brachte. Selbstironie war ihm fremd – klein beigeben ebenfalls.

Aber am Ende hatte er gesiegt. So wie die spanischen Eroberer. Freimuth hatte sich hinter Mark gestellt und die Marketingabteilung besänftigt. Es sei egal, wie das Präparat heiße, hatte Freimuth argumentiert, da nichts seiner Wirkung auch nur annähernd nahe käme. Es würde Geld scheffeln, egal unter welchem Namen.

Mit Projekt Parkinson bahnte sich nun der nächste Geldregen für Astrada an.

Bimini stand unter Patentschutz. Datenklau konnte es nicht sein, worum Freimuth sich Sorgen machte.

Sie gähnte. Es war spät und sie hundemüde. Eigentlich müsste sie sich um die Präsentation kümmern, statt Hirngespinsten nachzujagen.

Befürchtete Freimuth, dass die Journalisten die Parabiose-Videos veröffentlichen würden? Das wäre unschön. Aber es hatte nichts mit den toten Mädchen zu tun.

Iliana gähnte erneut und wollte den Laptop schon zuklappen, als sie im Hauptordner einen Unterordner namens »Eff« bemerkte. Eff? Sie klickte ihn lustlos an. Darin befand sich eine quantitative Studie zum Gehalt von GRF6009 in verschiedenen Plasma-Quellen. Eff stand wohl für Effizienz, wie sie mit müdem Geist vermutete.

Effizienz war wichtig. Ein Pharmakonzern war ein Unternehmen und musste Geld verdienen. Als sie mit Mark zu Astrada kam, ging es nicht länger allein um Forschung, sondern darum, wie man eine kostengünstige Produktion von Bimini aufbaute. Blutplasma war teuer, ein Beutel kostete auf dem Weltmarkt rund 300 Euro. Es war ein lukratives Geschäft. Zahlreiche Firmen handelten mit dem »gelben Gold«. Die Preise für Plasma von jungen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren lagen sogar noch höher. Das war auch der Grund, weswegen Astrada immer wieder erwog, selbst ins Plasmageschäft einzusteigen, um sich von Zulieferern und deren Preispolitik unabhängig zu machen. Sie hatte sich mit diesem Teil der Firmenpolitik nie wirklich beschäftigt, solche Dinge fielen in Marks Ressort. Iliana ging davon aus, dass Astrada sein Plasma von den gängigen Plasma-Herstellern bezog, Firmen wie Haema, Octapharma, Grifols, CSL Behring, Kedrion oder Shire zum Beispiel. Dieser Kram hatte sie nie besonders interessiert, und entsprechend unmotiviert klickte sie sich jetzt durch die Effizienzstudie, die den GRF6009-Gehalt in verschiedenen Plasmaproben abbildete. Es war eine riesige Analyse – über zweihundert Proben der unterschiedlichsten Firmen und Altersgruppen der Spender waren berücksichtigt worden.

Die Proteine in einem Liter Blut wogen zusammen etwa 80 Gramm. Die GRF-Proteine waren ein kleiner Teil davon, sie machten nur etwa 0,002 Gramm pro Liter aus. Man benötigte also sehr viel Plasma, um daraus GRF6009-Proteine in ausreichenden Mengen zu gewinnen. Iliana scrollte die riesige Tabelle durch. Zahlen rauschten vor ihren Augen durch. Ganz unten im Dokument kam eine weitere Balkendarstellung.

Ihre Augen brannten. Als sie das Diagramm sah, stutzte sie. Einer der Balken stach aus der Masse heraus wie eine Lanze. Sie rieb sich die Augen, um wacher zu werden. Die Balken zeigten den GRF6009-Gehalt in verschiedenen Plasmaproben an. Bei dem hohen Balken war der Gehalt der Bimini-Proteine im Vergleich zu den restlichen gewaltig, er lag bei fast einem Gramm pro Liter Plasma. Fünfhundertmal höher!

Konnte das sein? Sie prüfte die Rohdaten in der Tabelle, aber es stimmte. Der GRF6009-Gehalt in dieser Probe war exorbitant hoch. Jetzt bemerkte sie auch, was sie beim ersten Drüberscrollen übersehen hatte: Jemand hatte diesen Wert in der Tabelle markiert und sogar einen Kommentar angefügt. Er bestand aus drei Ausrufezeichen »!!!«.

Jetzt war Iliana hellwach. Woher kam dieses Plasma? Es war gekennzeichnet mit dem Kürzel »Dev«. Die anderen Plasmaproben waren nach ähnlichem Muster benannt: Gri, Hae, Oct, Ked, was offenbar für Grifols, Haema, Octapharma und die restlichen kommerziellen Anbieter von Plasma stand. Aber wofür stand »Dev«? Warum enthielt es eine so hohe Konzentration an Bimini-Proteinen?

»Mami?«

Sie schreckte auf.

Marie stand in der Tür, ihre Haare waren durcheinander, und sie hatte Tränen in den Augen. Sie hielt den Astrada-Teddy umklammert vor sich wie einen Schutzwall.

»Ich hab solche Angst.«

Iliana sprang auf und nahm sie in die Arme.

»Marie, Schatz, was ist denn los? Hast du schlecht geträumt?«

Marie weinte. Ihr kleiner Körper bebte. Iliana spürte feuchte Wärme in dem Frottee-Schlafanzug.

»Es war so dunkel. Alles schwarz. Ich konnte nichts sehen.«

Iliana streichelte ihr übers Haar. Maries Stirn war verschwitzt. Hatte sie Fieber?

»Marie, war das Licht neben deinem Bett nicht an?«

»Alles war so dunkel. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich war gefangen.«

Iliana hatte das Licht vorhin noch brennen sehen. Oder hatte Marie tatsächlich schlecht geträumt?

»Es ist alles gut. Ich bin da.«

Ihr Blick fiel erneut auf den Teddy mit dem Astrada-Logo. Marie hatte das Kuscheltier zwischen sich und ihre Mutter gedrückt.

»Mama, muss ich jetzt auch sterben?«

Iliana stutzte. Sie blickte in die tränenverschmierten Augen ihrer Tochter.

»Nein, Marie. Natürlich nicht. Warum denkst du so was?«

»Die Mädchen mussten auch sterben. Und sie hatten Kuscheltiere von deiner Firma.«

Iliana lief es kalt den Rücken runter.

»Marie, woher weißt du das?«, fragte sie streng.

Marie begann wieder zu weinen, als sie sah, wie ernst ihre Mutter wurde. Sofort bereute Iliana den Tonfall ihrer Frage.

»Liebes. Entschuldige. Alles ist gut. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Sie versuchte, ihre Tochter zu trösten, während ihre Gedanken in alle Richtungen jagten.

Als Marie wieder schlief, kehrte Iliana an den Rechner zurück. Sie war furchtbar müde. Die ganze Geschichte setzte ihr heftig zu. Dass dank Astradas Dauerpräsenz in den Medien ihr Ruf litt, war schlimm genug. Dass nun auch ihre vierjährige Tochter deswegen zu leiden hatte, machte sie wütend und bereitete ihr große Sorge. War etwa in Maries Kita darüber gesprochen worden?

Die Plasmaproben. Sie brauchte einen Moment, um sich wieder in die Daten einzufinden. »Dev«. Was für Plasma war das? Woher kam es?

Sie suchte nach den Quellen, um mehr darüber herauszufinden. Alles war sehr unübersichtlich, wie so oft in Laboraufzeichnungen, die man nicht korrekt nachgearbeitet hatte.

Ganz am Ende stieß sie auf eine Sektion mit den Materialien, kleingedruckt waren die Plasma-Quellen gelistet. Wie sie vermutet hatte, standen die Abkürzungen für die Firmen, die sie kannte. Bei Dev stand nur »Devaduta Pharma«. Mehr nicht.

Sie hatte noch nie von einer solchen Firma gehört und googelte den Namen auf ihrem Smartphone.

Sie fand keine Firma dieses Namens. Die restlichen Ergebnisse, die Google listete, ergaben keinen Sinn. Sie fand einen Eintrag eines Devaduta in einem Pokémon-Forum. Sie fand Verweise auf Yoga-Seiten und Seiten über buddhistische Mythologie. Als sie nur das Wort Devaduta googelte, fand sie zahlreiche Einträge. Sie nahmen alle Bezug auf Indien.

Indien. Ihr wurde plötzlich kalt. War sie auf etwas gestoßen?

Zögernd klickte sie in einige der Suchtreffer hinein, und ihre Schultern spannten sich an. Das Wort Deva-duta entstammte dem Sanskrit, der altindischen Sprache, und bedeutete: der Bote Gottes. Devaduta war das Pendant zum christlichen Engel.

Engel.

Ausgemergelte Gesichter, schwarze Haare. Dünne Arme, die Kuschelengel umklammern.

Devaduta Pharma. Das Blut der Engel.

Iliana hatte einen Kloß im Hals.

Ihr Smartphone vibrierte plötzlich in ihrer Hand, eine Nachricht poppte auf – und im ersten Moment dachte sie, dass Mark sich endlich meldete. Aber dann las sie:

»Sehr geehrte Frau Kornblum, ich würde gerne mit Ihnen sprechen und freue mich über Rückmeldung. Viele Grüße, Klaus Merten, Reporter, DER SPIEGEL.«

Jetzt war ihr auch noch die Presse auf den Fersen. Woher hatte er ihre Nummer? Iliana legte das Smartphone beiseite und las weiter.

Devaduta war außerdem ein indischer Vorname. Im Hinduismus beinhaltete er zugleich eine Mission. Sie las: »Du bist in diese Welt gekommen, um einen Dienst zu tun, ein Bote Gottes zu sein.«

Im Buddhismus waren die Devaduta die drei Boten des Alters, der Krankheit und des Todes. Ihre Aufgabe war es, die Menschen an ihre Sterblichkeit zu erinnern.

Die Schrift flimmerte vor ihren Augen. Iliana lehnte sich zurück und rieb sich das Gesicht.

Was wurde hier gespielt? Alles Zufall? Oder hatte all das eine Bedeutung, die sie nicht verstand?

Sie war auf eine Verbindung zwischen Astrada und Indien gestoßen. War es das, was Freimuth unter Verschluss halten wollte?

Sie musste Mark sprechen. Dringend.

Iliana zog den Linux-USB-Stick ab und startete den Rechner wieder in ihr altes System. Als er hochgefahren war, wollte er eine Internet-Verbindung aufbauen, und ihr fiel ein, dass der Router noch ausgeschaltet war. Sie ging in die Abstellkammer und schaltete das Gerät wieder ein.

Als sie an ihren Rechner zurückkehrte, wartete sie einen Moment, bis die Internetverbindung hergestellt war.

Ihr Blick fiel auf den Bimini-Ordner auf ihrem Desktop, in dem sie eben gestöbert hatte. Mit ihrem müden Hirn überlegte sie, dass es eigentlich ganz gut wäre, wenn sie im Linux-System eine Kopie der Plasma-Analyse auf den USB-Stick gezogen hätte. Das würde sie morgen erledigen. Jetzt war sie viel zu müde und erschöpft.

In diesem Moment verschwand vor ihren Augen der Ordner mit allen Daten.
 

*

Jens Lubbadeh: Transfusion · Thriller · Wilhelm Heyne Verlag · 384 Seiten · E-Book: 11,99 Euro (im Shop) · Erscheint am 11.11.2019
 

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