18. Januar 2021

Exklusive Leseprobe: „Die kalten Sterne“

John Birminghams neuster Roman ist auf Deutsch erschienen

Lesezeit: 15 min.

Wer sich im Lockdown nach fernen Zukünften und epischen Weltraumschlachten sehnt, liegt bei John Birminghams neustem Roman „Die kalten Sterne“ (im Shop) genau richtig: Vor hundert Jahren griffen die Sturm, Terroristen, die sich allein als die wahren Menschen betrachten, die Völker der Galaxis an. Doch die Menschheit besiegte den Feind und verbannte den Sturm ins Dunkel zwischen die Sterne. Hundert Jahre lang glaubten sich die galaktischen Imperien in Sicherheit. Doch der Feind war zwar besiegt, aber noch lange nicht geschlagen – wie Leutnant Lucinda Hardy, die gerade erst ihren Dienst auf dem Kriegsschiff Defiant antritt, schnell feststellen muss …

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Direkt von einem bestimmten Punkt der Raumzeit zu einem anderen überzugehen, ohne die Distanz dazwischen überwinden zu müssen, war immer eine unheimliche Erfahrung. Ganz gleich, ob der Sprung durch die Falte sie von einem Bereich einer kleinen Orbitalstation in einen anderen brachte oder über einen ganzen Kontinent hinweg, Lucinda fand es immer verstörend. Das ging jedem so. In einem Schiff, das sich quer durch den Raum faltete, befand man sich in einem abgeschlossenen kleinen Universum, das ersparte einem dieses eigenartige Unbehagen. Aber sich ganz unmittelbar der Quantenverschiebung auszusetzen und den eigenen Körper durch eine deformierte Realität zu bewegen … dafür waren der menschliche Körper, die menschliche Psyche, vielleicht sogar die menschliche Seele nicht beschaffen.

Als Lucinda auf der anderen Seite der Nanofalte, die die Station mit der Defiant verband, wieder herauskam, befiel sie sofort das unvermeidliche Déjà-vu. Sie war ganz sicher, dass dies alles schon mal geschehen war … ebenso sicher wusste sie jedoch, dass dieses Gefühl eine Auswirkung der Nanofalte war.

Sie hatte noch Glück. Vielen Leuten wurde beim Durchqueren selbst der allerkleinsten Falte schon entsetzlich übel. Und noch nie hatte jemand den direkten Übergang über eine Distanz überlebt, wie Schiffe sie jeden Tag bewältigten.

Ohne auf das beunruhigende Gefühl einer Vorahnung zu achten, trat sie aufs Deck des Kriegsschiffs. Der Ankunftsraum war eine schlichte, funktionelle Kammer mit weltraumgrauen Carbonwänden. Dahinter lag ein breiter Niedergang, der sich über die gesamte Schiffslänge erstreckte. Defiants Intellekt war bereits davongeschwebt oder hatte sich sogar von dannen gefaltet, und in der Ferne sah sie Leutnant Chase wegstampfen. Unhöflich.

Aber Lucinda sagte nichts dazu, sondern wandte sich zackig nach rechts, um vor der Armadalen-Flagge zu salutieren, die an einem zeremoniellen Fahnenmast aus poliertem Jarraholz hing. Dann drehte sie sich wieder um und salutierte vor der jungen Offizierin, die während des Ablegens hier Dienst schob.

Bannon hinter ihr vermeldete dem Schiff und der Wachoffizierin ihre Ankunft: »Leutnant Lucinda Hardy, ehemals Besatzungsmitglied der Resolute, meldet sich auf Geheiß Ihrer Majestät zum Dienst auf der Defiant

Die wachhabende Unteroffizierin war biotisch noch jung und befand sich, dem diskreten lila Zeichen auf ihrem Uniformkragen zufolge, gerade im Übergang vom männlichen zum weiblichen Geschlecht. Auf ihrem Namensschild stand HAN.

»Die Defiant ist sehr erfreut, Ihrer Majestät einen Dienst erweisen zu können, und heißt den Leutnant an Bord willkommen«, antwortete Han.

Lucinda wusste, was jetzt kam, und hatte noch eine halbe Sekunde Zeit, um sich zu wappnen, ehe sich ihr Neuralnetz mit dem unverwechselbaren mentalen Ruck mit dem Schiff verband.

Defiant sprach zu ihr, unhörbar für die anderen und mit derselben etwas schroffen, aber freundlichen Stimme, die sie bereits von ihrer ersten Begegnung kannte.

»Willkommen an Bord, Leutnant Hardy. Wir schätzen uns sehr glücklich, Sie bei uns zu haben.«

»Defiant«, sagte sie rasch und nahm Haltung an. »Erbitte Erlaubnis, meine Empfehlungen und Unterlagen zu übertragen.«

Sie bereitete sich darauf vor, ihre Echttod-Versicherungsunterlagen, eine Kopie ihrer Flottenbefehle und die beglaubigte Aufzeichnung ihrer Notfallbelebungsdaten zu transferieren.

»Vielen Dank, Leutnant«, antwortete der Schiffsintellekt, »aber Ihre Unterlagen liegen uns bereits vor, sie wurden uns in einem beschleunigten Verfahren zur Verfügung gestellt. Ich weiß, dass Sie erst in zwei Stunden Dienstbeginn haben, aber wenn Sie sich bitte den leitenden Offizieren vorstellen möchten: Kapitän Torvaldt erwartet Sie in der Offiziersmesse.«

Lucindas Puls beschleunigte sich sachte. Der Intellekt bemerkte ihre Überraschung und sprach direkt über ihr Neuralnetz. »Kein Grund zur Beunruhigung, Leutnant, Sie stecken nicht in Schwierigkeiten. Es ist nur ein Briefing.« Zu Leutnant Bannon sagte er: »Wenn ich einen Gefallen von Ihnen erbitten dürfte, Leutnant – der Captain wünscht Miss Hardy zu sehen. Würden Sie den Seesack in ihre Kabine bringen?«

»Natürlich, Defiant«, antwortete Bannon. Er lächelte Hardy an und schüttelte den Kopf. »Ein Tapferkeitsstern«, sagte er im Weggehen, immer noch kopfschüttelnd. »Mann, davon hatte der Chief keine Ahnung.«

Lucinda sah, wie sich Unterleutnant Hans’ Augen weiteten, und sie krümmte sich innerlich. Noch vor acht Glasen würde es auf dem ganzen Schiff die Runde gemacht haben. Verlegen lächelte sie dem Unterleutnant zu.

Auf ihren Netzhautdisplays leuchteten Navigationshilfen auf: eine Reihe schwach glimmender blauer Punkte, die aus dem Ankunftsraum hinaus Richtung Offiziersmesse führten. Lucinda setzte sich in Bewegung, und gleich darauf verschwanden die Punkte wieder, weil sie sich jetzt an den Weg »erinnerte«. Gedächtnis und Bewusstsein füllten sich zusehends mit Informationen über das Schiff und seine Besatzung: Dienstakten von Offizieren und Mannschaft, Ladung und Bewaffnung für die bevorstehende Mission – holla, schweres Geschütz an Bord – und ein kurzes Briefing für selbige, das allerdings wenig verriet. Es fühlte sich nicht an, als hätte sie das alles gerade erst erfahren. Eher so, als wüsste sie es schon ewig und hätte nur soeben zum ersten Mal seit langer Zeit wieder daran gedacht.

Lucinda erschauerte, verbarg es aber sorgsam. Nur vor Defiant nicht, denn vor ihm konnte sie nichts verbergen. Das Schiff schwieg jedoch.

Hardy war nicht mit Neuralnetz aufgewachsen. Das war Leuten wie Chase oder vielleicht auch Bannon vorbehalten, deren Familien sich solche Modifikationen hatten leisten können. Sie hingegen hatte ihr erstes Implantat an dem Tag bekommen, als die Hab-Wohlfahrt sie der Obhut der Militärbasis überantwortet hatte. Eine ganze Woche lang hatte sie danach auf der Krankenstation gelegen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Sie drängte die Erinnerung beiseite und nahm ihre neue Umgebung in Augenschein.

Wie alle interstellaren Kriegsschiffe der Königlich-Armadalischen Marine war die Defiant innen größer als außen. Nicht übermäßig; der Innenraum war nur viermal größer als die äußeren Dimensionen des Tarnzerstörers, und ein Drittel davon entfiel auf die Hyperspace-Dämpfung unter der Außenhülle – eine dicke Schutzschicht aus exotischer dunkler Materie – und das abgeschlossene kleine Universum aus Mannschaftsquartieren und dazugehörigen Einrichtungen. Dazu kamen Maschinenräume, Kommandobrücke, Kampfdecks und Stauraum.

Während des Jawanenkriegs hatte Hardy auf der HMAS Resolute gedient, einem älteren Schiff derselben Klasse, und sie freute sich still über die Verbesserungen, die es seither gegeben hatte. Dank der übertragenen Daten wusste sie, dass sie eine Einzelkabine für sich haben würde, was während des Kriegs ein unerhörter Luxus gewesen wäre, selbst auf den Hauptschiffen: gewaltigen Schlacht- und Titankreuzern, die die Speerspitze des armadalischen Angriffs gebildet und sich bis zum Herzen des Jawanischen Imperiums gekämpft hatten.

Während Hardy nach achtern unterwegs war, herrschte ringsum an Bord rege Betriebsamkeit. Die gesamte Crew ging ihren jeweiligen Aufgaben nach, zügig, aber mit jener ruhigen Zielstrebigkeit, wie sie nur unbarmherziges Training und die ebenso unbarmherzige Auslese de Schlacht hervorbrachte. Dies war ein höchst diszipliniertes Schiff. Kriegsbereit. Sie sah es deutlich daran, wie die Mannschaft ihre Aufgaben erledigte, aber zudem wusste Lucinda auch, dass ungewöhnlich viele Mannschaftsmitglieder Kampfveteranen waren – 96 Prozent. Die Defiant hatte ihr diese Information ins Hirn geworfen. Oder vielmehr in ihr Neuralnetz, das semiorganische, synaptische Gewebe aus monomolekularem Carbon, das sich durch ihren Neokortex zog und dann tief ins Hinterhirn abtauchte.

»Wir sind mit voller Besatzung unterwegs, Defiant?«, fragte sie laut, es war auch eine Feststellung. Eine volle Besatzung war in Friedenszeiten recht ungewöhnlich, ganz besonders auf einer einfachen Patrouillenfahrt wie dieser.

Das Schiff antwortete leise, nur für sie hörbar: »Die Königlich-armadalische Marine hält nichts von Nachlässigkeit, junge Lady. Das macht sie zur KAM und unterscheidet sie von der gewöhnlichen Marineinfanterie.«

Lucinda glaubte, leise Belustigung in Defiants Stimme zu hören. Ein Transportbot machte ihr Platz, und eine kleine Gruppe Soldaten trabte an ihr vorbei. Sah nach schwerer Infanterie aus. Ein Sergeant führte sie an, hundertprozentig ganz neu inkarniert. Äußerlich ein militärisch wirkender Kaukasier in den Zwanzigern, vermutlich bis obenhin vollgestopft mit den üblichen Genmodifikationen und Implantaten. Die gebräunte, auffallend unverbrauchte Haut leuchtete und hatte den typischen Frisch-aus-dem-Tank-Schimmer; sie saß ein wenig zu stramm um seine kräftige Gestalt. Aber auch wenn sein Tankalter möglicherweise weniger als eine Woche betrug, seine Singstimme donnerte laut und rau, als wäre seine Kehle jahrzehntelang von hochprozentigem Rum und ungefiltertem Jujakrautrauch verätzt worden. Die dröhnende Antwort seiner Truppe spülte über Lucinda hinweg und hallte durch den langen Niedergang.

»Damals, 2295 …«

Damals, 2295

»Gründete man meine Marine-Einheit.«

Gründete man meine Marineeinheit.

Das Zusammenspiel aus Ruf und Antwort folgte ihr noch weit durchs Schiff, selbst als die Soldaten dank der Krümmung der Außenhülle schon längst außer Sicht waren.

»Defiant, wir scheinen eine ganze Menge Marinesoldaten an Bord zu haben«, subvokalisierte sie stumm.

»Eine ganze Kompanie, um genau zu sein. Das ist ein bisschen übertrieben, oder nicht? Es sei denn, wir haben vor, ein paar Planeten in Trümmer zu legen.«

In ihrem Kopf lachte das Schiff leise. »Aber es sind nun mal Marinesoldaten, Leutnant. Sie sind nicht spezialisiert genug, um eigene Schiffe zu bekommen, also müssen sie bei uns mitfahren.«

»Und die Sache mit Leutnant Chase?«

»Hmm?«

»Concord war eine Geheimmission«, sagte sie sehr leise. »Unter allerstrengstem Verschluss. Diese Medaille darf ich niemals tragen. In meiner Akte wird Concord nirgendwo erwähnt. Aber Sie haben Chase davon erzählt.«

»Bitte verzeihen Sie mir, Leutnant«, sagte Defiant, »aber anscheinend wurden Sie falsch informiert, oder Sie wurden noch nicht über die neuesten Entwicklungen unterrichtet: Die Admiralität hat die Geheimhaltung dieser Mission aufgehoben.«

Fast stolperte sie über ihre eigenen Füße. »Moment!

Wie bitte? Warum?«

»Ich bin nicht ganz sicher. Ein einfacher Schiffsintellekt bekommt häufig keine allzu umfangreichen Erklärungen. Aber wenn Sie Ihre persönliche Akte durchsehen, werden Sie jetzt alle relevanten Informationen darin vermerkt finden. Einschließlich Ihrer Auszeichnung und Ihrer Belobigung.«

»Aber das ist … das ist …«

Sie war völlig durcheinander.

»So ist die Admiralität«, sagte Defiant. »Macht immer das, was ihr gerade in den Kram passt. Ich bin sicher, dass es gute Gründe für die Aufhebung der Geheimhaltung gab, genau wie für die vorige Geheimhaltung. Die Erklärung dafür lautet womöglich ganz schlicht, dass die Akte noch einmal neu geprüft wurde.«

Verwirrt schüttelte sie den Kopf, aber sie fragte nicht weiter nach. Ein weiterer Transportbot rollte summend an ihr vorüber, und zwei Techniker salutierten ihr unsicher.

Lucinda setzte sich wieder Richtung Offiziersmesse in Bewegung. Defiant hatte offenbar nicht vor, sie in irgendetwas einzuweihen. Vielleicht sah sie ja auch nur Gespenster, und es war überhaupt nichts Außergewöhnliches im Gange. Es wäre nicht das erste Mal. Lucinda griff auf ihre Akte zu, stellte sich das Gesuchte vor, und da war es. Schwebte direkt vor ihr.

Ihre Belobigung.

Leutnant Lucinda Jane Hardy wird für ihren herausragenden Kampfesmut gewürdigt. Ihre höchste Tapferkeit im Kampf unter allergrößter Gefahr während einer Spezialmission im Jawanischen Imperium …

Rasch schloss sie die Akte wieder, auch wenn niemand außer ihr und Defiant die Anzeige sehen konnte. Dieses Geheimnis zu wahren war ihr inzwischen unauslöschlich zur Gewohnheit geworden, und außerdem hatte sie soeben ihr Ziel erreicht: die Offiziersmesse.

Man erwartete sie bereits. Es war eine überschaubare Offiziersgruppe. Sie hatte noch nie zuvor einen von ihnen persönlich getroffen, aber dennoch kannte sie die anderen, und die anderen kannten sie. Als die Flotte vor einer Woche ihre Versetzung genehmigt hatte, war Lucindas Akte in ihre Neuralnetze kopiert worden. Sie selbst hatte die Akten der anderen erhalten, sobald sie sich mit dem Schiff verbunden hatte.

Sie erkannte Kapitän Torvaldt und seine Stellvertreterin, Kommandantin Claire Connelly, die sich beide entspannt in ihren Stühlen zurückgelehnt hatten und sich leise miteinander unterhielten. Infanteriekommandant Captain Hayes fiel durch seine Statur sofort ins Auge: Er war einen guten Kopf größer als alle anderen, und seine Schultern sahen aus wie Granitfelsen, an denen man mühelos andere, weniger harte Steinbrocken zerschmettern konnte. Der Oberingenieur der Defiant, Leutnant Kommandant Baryon Timuz, lächelte Lucinda zu, seine Augen waren zugleich freundlich und ein wenig traurig. Neben ihm stand Leutnant Thanh Koh, der Leiter der Nachrichtenabteilung; er nickte ihr zu, als wäre ihre Ankunft die Lösung eines schwierigen mathematischen Problems, an dem er bis zu diesem Moment gearbeitet hatte. Und natürlich war auch Defiant selbst anwesend. Der Schiffsintellekt schwebte über einem lang gestreckten, polierten Holztisch, auf dem Wasserkrüge und Gläser standen, zwei Kaffeekannen und ein kleiner Teller mit warmen Brötchen aus der Bordküche. Torvaldt, Connelly und Timuz saßen bereits, Thanh Koh rückte sich gerade einen Stuhl zurecht.

Sobald sie sie bemerkt hatten, nahmen alle Haltung an und salutierten. Fast wäre Lucinda zurückgeprallt, aber da empfing sie Defiants nur für sie hörbares Flüstern in ihrem Kopf: »Der Stern, Leutnant. Sie salutieren dem Stern.«

Wie betäubt salutierte sie ebenfalls, sah verwirrt an sich hinunter und entdeckte zu ihrer Verblüffung zwischen den anderen Orden eine neue Auszeichnung an ihrer Brust. In Mitternachtsblau und Weißgold prangte dort die höchste Auszeichnung, die der Weltenbund für Tapferkeit verlieh. Sie hatte diesen Orden noch nie zuvor getragen. Sie hatte es nicht gedurft, und eine volle Sekunde lang zweifelte sie an ihrem Verstand, als sie ihn dort erblickte, direkt über ihrem Herzen.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Defiant über ihren privaten Kanal. »Ich habe mir erlaubt, den Orden hinzuzufügen, sobald Sie an Bord gekommen sind.«

»Willkommen an Bord, Leutnant Hardy, bitte kommen Sie doch herein«, sagte Kapitän Torvaldt und lächelte übers ganze Gesicht. »Die restlichen Formalitäten sparen wir uns mal. Heute Morgen ist einiges zu tun.«

Sobald sie eingetreten war, ein bisschen unsicher auf den plötzlich taub gewordenen Füßen, schloss sich ein Störfeld um die Offiziersmesse, das sie vom Rest des Schiffs abschirmte. Infanteriekommandant Captain Hayes zwinkerte ihr zu und beugte sich vor, um ihr die Hand zu schütteln. »Gute Arbeit auf Concord«, sagte er. Seine Hände waren riesig und voller Schwielen, aber sanft.

Alles kam ihr ganz leicht surreal vor. Auch weil sie um eine ganze Lebensspanne die Jüngste hier war – selbst Koh war ein Zweitinkarnierter, und Timuz, bei Gott, befand sich in seinem vierten Lebenszyklus. Lucinda in ihrer schlecht sitzenden Uniform war zumute wie einem Kind, das Verkleiden spielt. Wieder einmal kämpfte sie gegen die ach so vertraute Furcht an, dass die Erwachsenen sie jede Sekunde erwischen und aus dem Zimmer werfen würden.

Sie setzte sich neben Hayes, der den Teller mit den warmen Brötchen heranzog und eines davon mit seinen gewaltigen Pranken entzweiriss. »Die sind ganz wunderbar«, sagte er.

Sie war peinlich berührt. Kapitän Torvaldt hatte sich noch nicht mal einen Kaffee eingeschenkt. Aber der Kapitän der Defiant schien sich nicht am Betragen seines Infanteriekommandanten zu stören, er lächelte ihm sogar zu. »Die sind wirklich gut, oder? Cooky vollbringt wahre Wunder an der Rührschüssel. Macht alles von Hand. Also … sind wir dann jetzt so weit? Defiant?«

Der Intellekt, der gleichmütig am anderen Ende des Tischs schwebte, wippte einmal kurz in der Luft. Seine Art zu nicken. »Danke, Kapitän.«

Über dem Tisch erschien ein Hologramm, eine Projektion des lokalen Volumens. Im Zentrum befand sich Station Deschaneaux, die im Orbit der blaugrünen Kugel namens A3-T-3019 kreiste, der erdähnlichen Welt, die der Anlass für den Krieg zwischen Armadale und dem Jawanischen Imperium gewesen war. In dreieinhalb Lichtjahren Entfernung – oder eine Armeslänge entfernt nach den Maßstäben des Holodecks – schwebte der äußerste Außenposten dieses Imperiums über den warmen Brötchen, ein Felsbrocken-Planet namens J4-S-2989. J4, bekannter unter dem Namen Batavia, war jene Strafkolonie- Welt, auf die die Yulin-Irrawaddy ihren Vater geschickt hatte, damit er »seine Schulden abarbeitete«.

Niemand arbeitete jemals in seinem Leben diese Schulden ab. Keine Chance.

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, und betrachtete den Rest des Quadranten. Die Heimatwelt der Königlichen Montanblanc-Korporation bildete den dritten Punkt eines fast gleichseitigen Dreiecks, gemeinsam mit den Welten Jawan und Armadale. Die drei Planeten wurden von ihren Monden umkreist und von mehr als einem Dutzend Habs unterschiedlicher Bauart, alle an unterschiedlichen Lagrange-Punkten. Und über allem türmte sich unheilvoll … das Dunkel: ein ausgedehnter Streifen aus vollkommener Leere, der sich hinter den äußersten Randsiedlungen der menschlichen Zivilisation erstreckte.

Was dahinter lag … wer wusste das schon?

Irgendwo dort draußen waren die Sturm, vorausgesetzt, es gab noch welche. Aber wenn der Große Krieg die Menschheit eines gelehrt hatte, dann, dass die Sturm zwar primitiv waren und barbarisch, dass sie moderne Technologie und die damit verbundenen Vorteile ablehnten … aber trotzdem alles andere als einfach zu töten waren. Ganz sicher waren sie noch irgendwo dort draußen im Dunkel, wo die Albträume lebten.

»Die Admiralität hat uns mit einer längeren Patrouille als üblich beauftragt«, sagte Defiant. »Normalerweise ist die KAM zuständig für einen Bogen von etwa vierzig Grad zwischen Station Deschaneaux und der entmilitarisierten Zone, die an die Hoheitsgebiete von Jawan, SanYong und das Unabhängige Unternehmen Zaitsev im System Heugens 77U grenzt. Unser Patrouillenbereich endet am Saum des Dunkels, eine Grenze, die sowohl durch die Leistungsfähigkeit unseres FTL-Antriebs als auch durch politische Vereinbarungen definiert wird.« Defiant machte eine Kunstpause, ganz wie ein menschlicher Redner, der einen dramatischen Effekt erzielen will. »Auf dieser Mission legen wir eine doppelt so weite Strecke zurück.«

»Wow!«, entfuhr es Lucinda, und dann errötete sie ein wenig, weil sie die Einzige war, die ihrer Überraschung hörbar Ausdruck verlieh.

Connelly sah mit hochgezogener Augenbraue Torvaldt an, der wenig überrascht und ganz gelassen wirkte. Leutnant Koh nickte, als hätte er eine Wette mit sich selbst gewonnen.

»Ihr Staunen ist ein bisschen verfrüht, Leutnant Hardy.« Defiant klang amüsiert. »Denn wir werden nicht nur sechzig Lichtjahre weit ins Dunkel vordringen, sondern wir decken zudem einen Bogen im Winkel von sechzig Grad zu Station Deschaneaux ab.«

»Boah!«, murmelte Hayes, den Mund voll mit warmem, gebuttertem süßen Brötchen.

»Ja«, sagte Defiant. »Tief hinein in die Hoheitsgebiete aller drei Parteien im Heugens-System.«

Lucinda kam es plötzlich vor, als würden in ihrem Körper sämtliche Nervenenden summen und kribbeln. Sie standen im Begriff, eine Kriegshandlung zu begehen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, wir ziehen nicht in den Krieg«, sagte Defiant, als hätte er ihre Gedanken gehört.

»Diese erweiterte Patrouille findet auf direktes Ersuchen der Erde statt, und es wurden entsprechende Vereinbarungen mit allen drei Parteien des Heugens-Systems getroffen.

Man duldet diese Patrouille und wird uns nicht in die Quere kommen.«

Neben Lucinda schnaubte Hayes, immer noch mit vollem Mund. »Ha. Mussten sie dafür jemanden umlegen?«

»Nein«, sagte Defiant. »Aber die Erde hat angekündigt, dass es Tote geben wird, falls es auch nur den leisesten Hinweis darauf gibt, dass jemand die Vereinbarung bricht. Bitte gestatten Sie mir, dass ich Ihnen ein Datenpaket übertrage. Kapitän Torvaldt weiß bereits Bescheid, aber alle anderen bereiten sich bitte auf die Datenübertragung vor, ich beginne in wenigen Augenblicken.«

Lucinda und die anderen nickten, und im nächsten Moment spürte sie, wie Daten in ihr Bewusstsein sickerten. Sie nahm sich kurz Zeit, um die neuen Informationen durchzusehen, sich damit vertraut zu machen und, ebenso wichtig, sich ihre Bedeutung klarzumachen. Ihr Puls beschleunigte sich, und sie hörte den einen oder anderen unterdrückt aufkeuchen, als allen bewusst wurde, welche Tragweite die neuen Informationen hatten.

Defiant musste es ihnen nicht erklären, sie wussten alle Bescheid. Fast ein halbes Jahrtausend lang hatte weit draußen im All, wohin sich die Sturm nach dem Großen Krieg zurückgezogen hatten, vollkommene Stille geherrscht. Aber jetzt war etwas geschehen. Kein Signal, aber ein Warnzeichen: Drei Ultralangstreckensonden waren plötzlich verstummt. 342 Jahre lang hatten diese Sonden alle Sterne abgesucht, von denen man annahm, sie könnten den Sturm als neue Heimat dienen, und hatten ihre Ergebnisse über eine Wurmloch-Verbindung in Echtzeit ans Großvolumen übermittelt. Sie hatten nie etwas gefunden, aber vor zwei Standardmonaten war bei allen dreien im Abstand von wenigen Stunden die Datenübertragung ausgefallen.

»Das ist wahrscheinlich kein Zufall«, dachte die Stellvertretende Kommandantin laut.

»Sehr unwahrscheinlich«, sagte Timuz. »Sie müssen wissen, ich habe mit diesen Sonden bereits selbst gearbeitet. Sie hätten ohne jedes Problem noch tausend Jahre lang funktionieren müssen.«

»Das stimmt«, sagte Koh, der Nachrichtendienstoffizier.

»Wenn es nur eine wäre – nun, das könnte auch dem Zusammenstoß mit einem Asteroiden oder einem Gamma-Puls oder meinetwegen sogar schlicht einem Systemfehler geschuldet sein. Aber alle drei, und das innerhalb genau dieser Koordinaten? Nein. Irgendetwas hat sie gezielt ausgeschaltet.«

»Und wir werden herausfinden, was genau das war«, verkündete Kapitän Torvaldt.

 

John Birmingham: Die kalten Sterne • Roman • Aus dem Englischen von Maike Hallmann • Wilhelm Heyne Verlag, München 2021 • 544 Seiten • als Paperback und E-Book erhältlich • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop

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