5. Juni 2020 2 Likes

Schnallen Sie sich an!

Eine exklusive Leseprobe aus John Marrsʼ spektakulärem Science-Fiction-Thriller „The Passengers“

Lesezeit: 9 min.

Nicht erst seit ihm mit seinem Near-Future-Bestseller „The One“ (im Shop) – Netflix hat gerade die Dreharbeiten der Buchverfilmung abgeschlossen – der internationale Durchbruch gelang, gehört John Marrs zu den spannendsten Autoren, wenn es um innovative Zukunftsfragen geht. Nahm er in „The One“ noch die Jagd nach dem perfekten Partner aufs Korn, widmet er sich in seinem neuen Roman „The Passengers“ (im Shop) nun dem Thema selbstfahrende Autos – und der nicht ganz unwichtigen Frage, was eigentlich passiert, wenn das Betriebssystem eines autonomen Fahrzeugs gehackt wird.

„The Passengers“ ist ab dem 09.06.2020 im Handel erhältlich, und allen die nun neugierig geworden sind, stellen wir hier eine erste Leseprobe des Romans zur Verfügung.

 

 

Claire Arden

 

Als die Haustür zufiel, stand das Auto vor Claire Ardens Haus und wartete auf sie.

Sie blieb kurz auf der Veranda stehen, las noch einmal die Notizen, die sie sich in ihrem Handy gemacht hatte, und wartete, bis ein leises Piepen anzeigte, dass das Haus die Alarmanlage eingeschaltet hatte. Dann warf sie einen flüchtigen Blick auf die Siedlung, einen typischen Vorort von Peterborough. Von den Nachbarn war nur Sundraj von Nummer siebenundzwanzig zu sehen, der gerade seine Frau und seine beiden lärmenden Kinder in einen Minivan scheuchte, wie ein Bauer, der seine Schafherde von einer Weide auf die nächste treibt. Als er Claire entdeckte, lächelte er halbherzig und winkte ihr ebenso halbherzig zu. Sie grüßte auf dieselbe Weise zurück.

Ihr kam wieder die Party in den Sinn, die Sundraj und seine Frau Siobhan letztes Frühjahr zu ihrem Fünfzehnjährigen ausgerichtet hatten. Sie hatten ein Barbecue veranstaltet, und fast die ganze Straße war gekommen. Als Sundraj schon betrunken gewesen war, hatte er Claire im Badezimmer im Erdgeschoss abgepasst und ihr eröffnet, dass er, falls Claire und ihr Mann Ben einmal Lust hätten, jemand Dritten in ihr Schlafzimmer einzuladen, durchaus interessiert wäre. Claire hatte ihn höflich abgewiesen, woraufhin er in Panik verfallen war und sie bedrängt hatte, Siobhan nichts zu erzählen. Sie hatte es ihm versprochen und sich daran gehalten. Nicht einmal Ben hatte sie davon erzählt. Sie hätte wetten können, dass jeder der Nachbarn in der Straße mindestens ein Geheimnis hatte, das er dem Rest der Welt verschwieg. Auch sie selbst hatte eines. Wenn überhaupt jemand eines hatte, dann sie.

Während Sundrajs Auto langsam aus der Stichstraße hinausfuhr, atmete Claire ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen, und warf dann mit einem gewissen Unbehagen einen Blick auf ihr eigenes Auto. Vor drei Wochen hatte Ben den Leasingvertrag unterschrieben, und noch immer hatte Claire Schwierigkeiten, sich an die zahlreichen neuen Funktionen zu gewöhnen. Der größte Unterschied zu ihrem alten Auto lag darin, dass es weder Lenkrad noch Pedale besaß und sich in keiner Weise manuell steuern ließ. Es war ein völlig autonomes Fahrzeug. Das machte ihr Angst.

Fasziniert hatten sie zugesehen, wie das Auto sich selbst geliefert hatte, vor ihrem Haus vorgefahren war und in der Einfahrt geparkt hatte. Ben hatte Claires Befremden und ihre Abneigung gespürt, und während sie mit einer App ihre persönlichen Einstellungen konfiguriert hatten, hatte er ihr versichert, dass jedermann ein solches Auto bedienen könne, sogar Claire. Es sei sozusagen »idiotensicher«. Als sie ihn verärgert angesehen und ihn in den Arm geknufft hatte, hatte Ben beteuert, das solle nicht heißen, sie sei eine Idiotin.

»Ich mag es nicht, wenn ich die Dinge nicht unter Kontrolle habe«, hatte sie während ihrer ersten Fahrt mit dem neuen Auto auf dem Weg zum Arzt gesagt. Als das Auto selbstständig den Blinker gesetzt und ein anderes Fahrzeug überholt hatte, hatte Claire sich an ihrem Sitz festgeklammert.

»Du bist einfach ein Kontrollfreak«, hatte Ben entgegnet.  »Allmählich solltest du lernen, Dingen zu vertrauen, die du nicht in der Hand hast. Außerdem kostet die Versicherung für ein solches Auto so gut wie nichts – und wir sollten doch langsam mal ein bisschen Geld zurücklegen, oder?«

Claire hatte widerstrebend genickt. Ben war ein detailverliebter Mensch und hatte eine Menge Zeit und Mühe aufgewandt, um ein Auto zu finden, das für ihre künftige Lebenssituation genau das richtige war. Das hatte einige Monate gedauert, und Claire war froh gewesen, als Ben nach dieser furchtbaren Phase wieder ganz der Alte geworden war.

Er hatte versucht, sie in die Entscheidung miteinzubinden, und vorgeschlagen, sie könne die Farbe und die Stoffe für die Bezüge aussuchen. Doch sie hatte sich geweigert und ihn als frauenfeindlich bezeichnet, weil er damit suggeriere, der Kauf eines Autos sei »Männersache« und sie verstehe nur etwas von Schmuck und Dekoration. Auch in den letzten Tagen hatte sie ihn regelmäßig angeschnauzt. Er hatte ihr nie einen Grund dazu gegeben, und sie hatte es stets sofort bereut. Und doch hatte sie es immer wieder getan und dabei befürchtet, ihre stille Abneigung gegen ihn zunehmend schlechter verbergen zu können.

Claire ließ den Blick über das Heck des Autos wandern, als ein leichter Tritt gegen die Nieren sie aus ihren Gedanken riss. »Guten Morgen«, sagte sie leise und strich sich über den runden Bauch. Das war das erste Lebenszeichen ihres Babys Tate an diesem Morgen. Sie hatten ihm diesen Kosenamen gegeben, als die Hebamme ihnen gesagt hatte, dass er etwa ein Pfund wog und so groß wie eine Packung Zucker von Tate & Lyle war. Anfangs war es nur ein Scherz gewesen, doch mittlerweile überlegten sie ernsthaft, den Kleinen so zu nennen.

Wenn alles gut ging, würde Claire in zwei Monaten ihr erstes Kind zur Welt bringen. Dr. Barraclough hatte ihr eingeschärft, dass sie wegen ihres hohen Blutdrucks unter allen Umständen Stress vermeiden sollte. Das war leichter gesagt als getan. Und in den zurückliegenden Stunden war es geradezu unmöglich geworden.

»Du schaffst das«, sagte sie laut und öffnete die Tür des Autos. Sie stellte ihre Handtasche auf den rechten Vordersitz und schob sich dann rückwärts in den Wagen. Ihr Bauch war in der Schwangerschaft sehr viel früher dick geworden als bei ihren Freundinnen, und manchmal hatte sie das Gefühl, ein Elefantenbaby auszutragen. Ihr Körper gab ein widersprüchliches Bild ab: Manche Teile hingen schlaff herab, während andere zu bersten schienen.

Per Knopfdruck schloss sie die Tür und blickte anschließend in die Kamera, die ihre Iris scannte. Dann sah sie kurz in den Spiegel. Das hellrosa Make-up konnte die dunklen Ringe um ihre blauen Augen nicht gänzlich verdecken. Ihren Pony hatte sie heute Morgen nicht glatt gebürstet, sodass ihr die blonden Haare wirr in die Stirn hingen und bis auf die Augenbrauen fielen.

Nachdem sie sich durch den Scan als berechtigte Passagierin ausgewiesen hatte, sprang der Elektromotor leise an, und die Mittelkonsole sowie die Anzeige des Bordcomputers im Armaturenbrett leuchteten blau und weiß auf. »Bens Firma«, sagte Claire, und auf dem Bildschirm erschien ein dreidimensionaler Stadtplan, auf dem die Strecke von ihrem Haus zu Bens Firma angezeigt wurde, die ein paar Meilen außerhalb lag.

Kaum fuhr das Auto los, schreckte Claire hoch, als plötzlich ein Rocksong der 1990er-Jahre aus den Lautsprechern dröhnte, der erste einer ganzen Playlist. Sie konnte Bens entsetzlichen Musikgeschmack nicht ausstehen, ebenso wenig wie die Lautstärke, in der er diese Musik hörte. Aber sie wusste noch nicht, wie sie seine Einstellungen in dem Streaming- Programm löschen und eigene Playlists erstellen konnte. Als dann die ersten Takte eines alten Songs von den Arctic Monkeys ertönten, auf den Ben besonders stand, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er kannte ihn auswendig, Wort für Wort.

»Warum hast du uns das angetan?«, schluchzte sie. »Warum gerade jetzt?«

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und von den Wangen, stellte die Musik ab und verfiel in banges Schweigen, während das Auto weiter seinem Ziel entgegensteuerte. In Gedanken ging sie noch einmal ihre To-do-Liste durch. Wenn alles klappen sollte, musste sie bis zum Nachmittag noch ziemlich viel erledigen. Immer wieder sagte sie sich, dass sie das alles aus einem guten Grund tat: für Tate. Zwar sehnte sie sich danach, ihn endlich im Arm zu halten, doch ein Teil von ihr wünschte sich auch, er würde auf immer und ewig behütet in ihrem Bauch bleiben, wo sie ihn vor der Grausamkeit der Welt beschützen könnte.

Als sie durch die Frontscheibe geradeaus sah, bog das Auto auf einmal nach rechts ab, obwohl der Weg zu Bens Firma nach links führte. Ungläubig blickte Claire auf den Stadtplan des Navis. Sie war sicher, dass sie es richtig programmiert hatte. Dann fiel ihr wieder ein, wie Ben gesagt hatte, dass autonom fahrende Autos manchmal Ausweichrouten nahmen, wenn sich auf der regulären Strecke ein Stau gebildet hatte. Claire hoffte, dass sich die Fahrt dadurch nicht allzu sehr verlängerte. Je schneller sie wieder aus diesem Auto herauskam, desto besser.

Plötzlich erloschen sämtliche Anzeigen. Irritiert blickte Claire auf die Mittelkonsole und drückte dann wahllos darauf herum, um den Bordcomputer neu zu starten. Doch nichts geschah.

»Verdammt«, murmelte sie. Heute war der denkbar schlechteste Tag, um in einem defekten Fahrzeug zu sitzen. Wieder schlug das Auto eine neue Richtung ein. Es fuhr über eine Auffahrt auf eine Schnellstraße, auf der sie sich noch weiter von ihrem Ziel entfernen würde.

Ihr wurde mulmig. »Was ist hier los?«, sagte sie laut und ärgerte sich, dass Ben sie zu einem Auto überredet hatte, das keine manuelle Bedienung erlaubte. Sie drückte weiter auf der Konsole herum und hoffte, die Kontrolle über das Auto zurückzugewinnen und es zum Stehen zu bringen.

»Eingabe neues Ziel«, sagte leise eine Frauenstimme, in der Claire die Stimme des Bordcomputers erkannte. »Ihre Route wird neu berechnet. Zwei Stunden und dreißig Minuten bis zum Erreichen des Ziels.«

»Was?«, sagte Claire. »Halt! Wo bringen Sie mich hin?«

Als das Auto an einer Ampel stehen blieb, witterte sie eine Möglichkeit zu entkommen. Eilig löste sie den Gurt und drückte den Knopf, der die Tür öffnete. Sobald sie draußen wäre, würde sie sich sammeln und ihren Plan überdenken können. Wie auch immer sie dann weitermachte, sie durfte das Auto auf keinen Fall aus den Augen lassen. Doch die Tür öffnete sich nicht. Immer wieder drückte Claire dagegen, fester und fester, aber die Tür gab nicht nach. In ihrem Bauch spürte sie die Tritte ihres Babys.

»Keine Sorge, alles wird gut«, sagte sie immer wieder, als wollte sie sich und ihr Kind davon überzeugen, dass sie eine Lösung finden werde.

Durch das Türfenster fiel ihr Blick auf das Auto neben ihr, und sie fing an zu gestikulieren, um den Fahrer auf sich aufmerksam zu machen. Der war jedoch ganz in den Film vertieft, der auf dem Smart Screen in seiner Frontscheibe lief. Claire fuchtelte immer verzweifelter herum, bis er sie schließlich bemerkte. Er sah zu ihr herüber, doch einen Sekundenbruchteil später schalteten die Fenster von durchsichtig auf opak. Der Sichtschutz war aktiviert worden, und jetzt konnte kein Außenstehender mehr erkennen, wie verzweifelt sie war.

Panik überkam sie, als ihr klar wurde, was passiert war: Jemand anderes hatte die Kontrolle über ihr Auto übernommen.

»Guten Morgen, Claire«, kam eine männliche Stimme aus den Lautsprechern.

Unwillkürlich schrie Claire auf. Die Stimme klang ruhig und entspannt, fast freundlich, wirkte aber bedrohlich. »Sie dürften bemerkt haben, dass sich Ihr Fahrzeug nicht mehr unter Ihrer Kontrolle befindet«, sprach die Stimme weiter. »Ab sofort bestimme ich, wohin Ihre Fahrt geht.«

»Wer sind Sie?«, fragte Claire. »Was wollen Sie von mir?«

»Das spielt jetzt alles keine Rolle«, erwiderte die Stimme. »Im Augenblick gibt es nur eines, das Sie wissen sollten: In zwei Stunden und dreißig Minuten sind Sie höchstwahrscheinlich tot.«

 

John Marrs: »The Passengers – Du entscheidest über Leben und Tod« Roman Aus dem Englischen von Felix Mayer Wilhelm Heyne Verlag, München 2020 448 Seiten Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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