12. Mai 2017 3 Likes

Wenn die Welt in Flammen steht

Eine erste Leseprobe von Joe Hills brandheißem Bestsellerepos „Fireman“

Lesezeit: 13 min.

Viele Worte müssen über „Fireman“ (im Shop) nicht mehr verloren werden; wir haben Joe Hills jüngsten Roman in einer ausführlichen Review bereits vorgestellt. Dass „Fireman“ Hills Opus Magnum ist, daran dürfte kein Zweifel bestehen: Auf stattlichen 960 Seiten entfaltet er nicht nur ein spektakuläres Panorama des Untergangs sondern auch ein ebenso faszinierendes wie erschreckendes Porträt der amerikanischen Gesellschaft.

Wer sich zunächst noch einen Einblick in die Geschichte verschaffen möchte, findet hier eine erste Leseprobe des Romans, der seit dem 09.05.2017 im Handel erhältlich ist.

 

Prolog

FANAL

Wie jeder hatte auch Harper Grayson im Fernsehen schon viele brennende Menschen gesehen, doch das erste Mal, dass jemand direkt vor ihren Augen in Flammen aufging, war auf dem Pausenhof der Schule.

Die Schulen in Boston und einigen anderen Teilen von Massachusetts waren geschlossen, aber hier in New Hampshire ging der Unterricht weiter. Auch in New Hampshire waren bereits einige Fälle aufgetreten. Soweit Harper gehört hatte, wurde eine Gruppe Infizierter in einem Sicherheitstrakt des Concord Hospital festgehalten und von Ärzten in Schutzanzügen und Krankenschwestern mit griffbereiten Feuerlöschern behandelt.

Sie hielt gerade einem Erstklässler namens Raymond Bly ein Kühlkissen an die Wange, weil der im Sportunterricht einen Badmintonschläger ins Gesicht bekommen hatte. In jedem Frühjahr gab es ein oder zwei solcher Vorkommnisse, wenn Keillor, der Sportlehrer, die Schläger herausholte. Und stets gab er den Kindern den aufmunternden Rat, sie sollten sich nicht so anstellen und es ruhig auf ein paar ausgeschlagene Zähne ankommen lassen. Nur zu gerne wäre sie dabei gewesen, wenn er zur Abwechslung mal einen Badmintonschläger in die Eier bekam, um ihm anschließend zu sagen, er solle sich nicht so anstellen.

Raymond hatte nicht geweint, als er hereingekommen war, aber als er sich im Spiegel betrachtete, musste er doch die Zähne zusammenbeißen, weil sein Kinn zu zittern anfing. Das Auge war schwarz und lila verfärbt und fast ganz zugeschwollen, aber Harper wusste aus langjähriger Erfahrung, dass der Blick in den Spiegel den Kindern in der Regel mehr Angst machte als die Schmerzen.

Um ihn abzulenken, griff sie nach der Schachtel mit den Süßigkeiten für Notfälle, einer verbeulten Mary-Poppins-Frühstücksdose mit verrosteten Scharnieren und etlichen einzeln verpackten Schokoriegeln. Ein ziemlich großer Rettich und eine Kartoffel lagen auch darin – für besonders harte Fälle von Traurigkeit.

Sie warf einen Blick hinein, während Raymond sich das Kühlkissen an die Wange hielt.

»Hm«, sagte Harper. »Ich glaube, ich habe noch zwei Twix-Riegel, und einen davon könnte ich selbst gut gebrauchen.«

»Bekomme ich auch was Süßes?«, fragte Raymond mit belegter Stimme.

»Du bekommst was viel Besseres als was Süßes. Ich habe hier einen echt schmackhaften Rettich. Wenn du ganz tapfer bist, kannst du den kriegen, und ich nehme den Twix-Riegel.« Sie zeigte ihm den Inhalt der Frühstücksdose, damit er den Rettich sehen konnte.

»Igitt, ich will keinen Rettich!«

»Wie wäre es dann mit einer großen Kartoffel? Das hier ist eine Yukon Gold, die schmeckt sogar ein bisschen süß.«

»Bäh! Wollen wir nicht lieber Armdrücken machen? Wer gewinnt, kriegt das Twix. Ich habe schon mal meinen Vater beim Armdrücken besiegt.«

Harper pfiff drei Takte von »My Favorite Things« und tat so, als würde sie darüber nachdenken. Sie pfiff ganz gerne mal eine Musicalmelodie aus einem Film der 1960er-Jahre und stellte sich dabei vor, ein paar fröhlich zwitschernde Blauhäher und Rotkehlchen würden herbeiflatterten und sie musikalisch unterstützen. »Ich weiß nicht, ob du wirklich Armdrücken mit mir machen willst, Raymond. Ich bin nämlich ziemlich gut in Form.«

Sie schaute aus dem Fenster, um den Eindruck zu erwecken, sich die Sache gründlich überlegen zu müssen – und in diesem Moment sah sie, wie der Mann den Pausenhof überquerte.

Von ihrem Standpunkt aus hatte sie einen guten Blick auf die schwarze Asphaltfläche, die sich über dreißig Meter erstreckte und auf die hier und da mit Kreide Himmel-und-Hölle-Kästen gemalt waren. Dahinter kam ein Spielplatz mit den üblichen Spielgeräten: Schaukeln, Rutschen, eine Kletterwand und eine Reihe Metallröhren, gegen die man schlagen konnte, um Melodien zu erzeugen (Harper nannte das Gerät klammheimlich das Xylofon der Verdammten).

Die ersten beiden Stunden waren noch nicht zu Ende und weit und breit keine Schüler in Sicht. Dies war die einzige Zeit am Tag, wo von der Krankenstation aus keine schreienden, lachenden, tobenden und aufeinanderprallenden Kinder zu sehen waren. Nur der Mann war da. Er trug eine ausgebeulte grüne Armeejacke und eine weite braune Arbeitshose. Sein Gesicht lag im Schatten des Schirms einer schmuddeligen Baseballmütze. Mit gesenktem Kopf bog er um die Ecke des Gebäudes und lief diagonal über den Platz. Er taumelte und konnte anscheinend nicht in gerader Richtung laufen. Harper dachte zuerst, er sei betrunken. Dann bemerkte sie den Rauch, der aus seinen Ärmeln drang. Feiner, weißer Rauch quoll aus der Jacke, stieg von seinen Händen und aus dem Kragen auf und verfing sich in den langen braunen Haaren.

Er erreichte das Ende der Asphaltfläche und sprang hinunter auf den Spielplatzmulch. Er ging noch drei Schritte weiter und legte die rechte Hand an eine Sprosse der Holzleiter, die auf das Klettergerüst führte. Sogar aus dieser Entfernung konnte Harper das Ding auf seinem Handrücken erkennen, einen dunklen Streifen, der einem Tattoo ähnelte, aber auch goldene Flecken aufwies. Diese Flecken schimmerten wie Staubpartikel im Sonnenlicht.

Sie hatte Berichte darüber in den Nachrichten gehört, trotzdem konnte sie sich in diesem Moment keinen Reim auf das machen, was da vor ihren Augen geschah. Schokoriegel fielen aus der Mary-Poppins-Frühstücksdose und landeten klappernd auf dem Fußboden. Sie hörte es nicht und merkte nicht mal, dass sie die Dose schief hielt. Raymond sah zu, wie die Kartoffel mit einem satten Plumps auf den Boden klatschte, davonrollte und unter einem Sideboard verschwand.

Der Mann, der sich wie ein Betrunkener bewegte, krümmte den Rücken, begann zu zucken, warf den Kopf nach hinten, und aus seinem Hemd züngelten Flammen. Sie konnte einen kurzen Blick auf sein ausgemergeltes, verzerrtes Gesicht werfen, doch dann loderte sein Kopf auf wie eine Fackel. Er schlug sich mit der linken Hand gegen die Brust, während die andere noch immer die Leitersprosse umklammerte. Nun entzündete sich auch die rechte Hand und kokelte das Holz an. Sein Kopf kippte immer weiter nach hinten, er öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam nur schwarzer Rauch heraus.

Raymond sah Harpers Gesichtsausdruck und drehte den Kopf zur Seite, um aus dem Fenster zu schauen. Harper ließ die Frühstücksdose fallen und streckte die Hände nach dem Jungen aus. Sie legte eine Hand auf das Kältekissen, die andere an seinen Hinterkopf und drehte sein Gesicht vom Fenster weg.

»Nicht hingucken«, sagte sie und war selbst überrascht, wie ruhig sie klang.

»Was war das denn?«, fragte er.

Sie ließ seinen Kopf los und griff nach dem Seilzug der Jalousie. Draußen fiel der brennende Mann auf die Knie. Er senkte den Kopf, als wollte er gen Mekka beten. Die Flammen hüllten ihn jetzt vollständig ein, und er sah aus wie ein Haufen Lumpen, aus dem der rußige Rauch in den hellen kalten Aprilnachmittag aufstieg.

Die Jalousie sauste mit einem metallischen Scheppern herab und verwehrte ihnen den Blick – nur ein greller fiebriger Schimmer flackerte golden durch den Spalt seitlich der Sichtblende.

 

1

APRIL

Sie verließ die Schule erst, eine Stunde nachdem das letzte Kind nach Hause gegangen war, aber es war trotzdem noch recht früh. An den meisten Schultagen musste sie bis um fünf Uhr nachmittags dableiben, wegen der ungefähr fünfzig Kinder, die länger betreut wurden, weil ihre Eltern arbeiteten. Heute waren alle schon um drei Uhr verschwunden.

Nachdem sie das Licht in der Krankenstation ausgeschaltet hatte, stand sie am Fenster und schaute auf den Pausenhof. Vor dem Klettergerüst auf dem Spielplatz war ein schwarzer Fleck zu sehen, dort, wo die Feuerwehrleute versucht hatten, die verkohlten Überreste, die sich nicht abkratzen ließen, mit Wasser wegzuspritzen. Sie hatte eine Vorahnung, dass sie nie mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und nie mehr aus diesem Fenster schauen würde, und damit sollte sie recht behalten. Noch am selben Abend wurden sämtliche Schulen im ganzen Staat vorläufig geschlossen und sollten erst wieder geöffnet werden, wenn »die Krise« vorüber wäre. Wie sich herausstellte, ging »die Krise« nicht vorüber.

Harper hatte eigentlich erwartet, zu Hause allein zu sein, aber als sie ankam, war Jakob schon da. Er hatte den Fernseher eingeschaltet und telefonierte. Seinem Tonfall nach zu urteilen – er sprach ruhig, gleichmäßig und fast schon träge – wäre niemand darauf gekommen, dass er sich gerade aufregte. Man musste schon zusehen, wie er herumtigerte, um zu merken, wie aufgebracht er war.

»Nein, ich hab’s nicht mit eigenen Augen gesehen. Johnny Deepenau war dort unten mit einem der Reinigungsfahrzeuge, um den Dreck wegzuräumen, und er hat uns Bilder von seinem Handy geschickt. Es sah aus, als wäre drinnen eine Bombe explodiert. Wie bei einem Terroranschlag, wie … warte mal. Harp ist gerade gekommen.« Er nahm den Hörer herunter, hielt ihn vor seine Brust und sagte: »Du bist von hintenrum gekommen, stimmt’s? Durch die Stadt hättest du es niemals geschafft. Die haben alle Straßen von der North Church bis zur Bibliothek gesperrt. Die ganze Gegend wimmelt nur so von Polizisten und Angehörigen der Nationalgarde. Ein Bus ist in Flammen aufgegangen und gegen einen Telefonmast geprallt. Er war gerammelt voll mit Chinesen, die mit dieser Scheißkrankheit infiziert waren, mit diesem Dragonscale-Zeug.« Mit stockendem Atem stieß er einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf – als wäre er total genervt von diesen Leuten, die es wagten, an so einem schönen Tag mitten in Portsmouth einfach in Flammen aufzugehen. Dann wandte er sich ab und hielt sich den Hörer wieder ans Ohr. »Es geht ihr gut. Sie hat überhaupt nichts davon mitgekriegt. Jetzt ist sie hier, und ich werde ihr die Hölle heißmachen, falls sie glaubt, sie könne zurück zur Arbeit gehen.«

Harper setzte sich auf den Rand des Sofas und schaute zum Bildschirm. Der lokale Nachrichtensender zeigte gerade Ausschnitte aus einem Basketballspiel der Celtics, als wäre überhaupt nichts passiert. Isaiah Thomas reckte sich, ließ sich zurückfallen und warf den Ball beinahe aus der Mitte des Spielfelds. Zu diesem Zeitpunkt wusste es noch keiner, aber am Ende der folgenden Woche würde die Basketballsaison für immer enden. Schon im Sommer würden die meisten Spieler tot sein, entweder verbrannt oder durch Selbstmord.

Jakob lief weiter in seinen Riemensandalen herum.

»Was? Nein. Keiner ist ausgestiegen«, sagte er in den Hörer. »Und das klingt jetzt vielleicht hart, aber ich bin irgendwie auch froh darüber. So konnten sie wenigstens niemanden anstecken.« Er hörte kurz zu, lachte dann unvermittelt auf und sagte: »Genau, nach dem Motto: Wer hat denn diesen verkokelten Chinafraß bestellt, stimmt’s?«

Bei seinem Rundgang durchs Zimmer war er nun vor dem Bücherregal angekommen, wo er allerdings nichts zu tun hatte, weshalb er sich umdrehte und wieder zurückging. Als er kehrtmachte, warf er einen Blick auf Harper und bemerkte etwas, das ihn alarmierte.

»He, Baby, alles klar bei dir?«, fragte er.

Sie starrte ihn an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Das war eine erstaunlich komplizierte Frage, und sie musste zunächst eine Weile über die Antwort nachdenken.

»He, Danny? Ich muss jetzt Schluss machen. Ich muss mich mal kurz um Harper kümmern. Es war auf jeden Fall richtig, dass du losgegangen bist, um die Kinder abzuholen.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Ja, alles klar. Ich schicke euch dann die Bilder, aber ihr habt sie nicht von mir bekommen. Viele Grüße an Claudia, bis dann.«

Er beendete das Gespräch und schaute sie an. »Was ist denn los? Wieso bist du schon zu Hause?«

»Da war ein Mann bei uns auf dem Schulhof«, sagte Harper, und dann spürte sie diesen Kloß im Hals, als hätte der Schreck sich in etwas Greifbares verwandelt.

Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um sie.

»Ist ja gut«, sagte er. »Alles ist gut.«

Der Kloß in ihrem Hals löste sich, und sie konnte wieder sprechen. Sie versuchte es noch mal: »Er kam auf den Schulhof und taumelte herum wie ein Betrunkener. Dann fiel er hin und fing an zu brennen. Er ging in Flammen auf, als wäre er aus Stroh. Die Hälfte der Kinder in der Schule hat zugesehen. Man kann von fast allen Klassenzimmern auf den Schulhof gucken. Ich habe Stunden damit zugebracht, Kinder mit Schocksymptomen zu behandeln.«

»Warum hast du nichts gesagt? Dann hätte ich nicht so lange telefoniert.«

Sie drehte sich zu ihm um und lehnte ihren Kopf an seine Brust, während er sie umarmte.

»Es waren vierzig Kinder in der Aula, außerdem einige Lehrer und der Direktor. Manche weinten, andere zitterten, einige mussten sich übergeben, und ich fühlte mich, als würde ich alles drei auf einmal tun.«

»Das hast du aber nicht.«

»Nein, ich habe Tetrapacks mit Saft verteilt. Beruhigungsmittel und so was.«

»Du hast getan, was du tun konntest«, sagte er. »Du hast wer weiß wie vielen Kindern geholfen, das schlimmste Erlebnis ihres Lebens zu verkraften. Und weißt du was? Alle werden sich ihr ganzes Leben lang daran erinnern, was du für sie getan hast. Du warst zur Stelle, jetzt ist es vorbei, und du bist hier bei mir.«

Eine Weile saß sie ruhig und still in seiner Umarmung da und atmete den Duft nach Sandelholzparfüm und Kaffee ein.

»Wann ist es passiert?« Er ließ sie los und schaute sie aus seinen hellbraunen Augen an.

»Während der ersten Stunde.«

»Jetzt geht es auf drei Uhr zu. Hast du zu Mittag gegessen?«

»Hm, nein.«

»Ist dir schwindelig?«

»Hm-hm.«

»Dann solltest du was essen. Ich weiß nicht, was im Kühlschrank ist. Ich könnte uns auch was kommen lassen.«

Wer hat denn diesen verkokelten Chinafraß bestellt?, dachte Harper und hatte das Gefühl, das Zimmer um sie herum würde sich neigen wie ein Schiff bei Seegang. Sie richtete sich auf und lehnte sich zurück.

»Vielleicht erst mal ein bisschen Wasser«, sagte sie.

»Oder ein Glas Wein?«

»Noch besser.«

Er stand auf und ging zu dem kleinen Weinkühler auf dem Regal, in den sechs Flaschen passten. Er betrachtete prüfend eine Flasche, dann eine andere – welche Sorte Wein harmoniert am besten mit einer tödlichen Seuche? – und sagte: »Ich dachte, dieses Zeug gibt es nur in Ländern, wo die Luft total verschmutzt ist und die Flüsse nur noch Abwasserkloaken sind. China. Russland. Die ehemalige kommunistische Volksrepublik von Kackistan oder so.«

»Rachel Maddow hat gesagt, es hätte allein in Detroit schon über hundert solcher Vorfälle gegeben. Das war gestern Abend.«

»Das meine ich ja. Ich dachte, so was passiert nur an heruntergekommenen Orten wie Tschernobyl oder Detroit.« Der Korken knallte. »Ich verstehe nicht, wie jemand, der sich angesteckt hat, in einen Bus steigen kann. Oder in ein Flugzeug.«

»Vielleicht fürchten sie, in Quarantäne gesteckt zu werden. Viele haben Angst, sie könnten von ihren Angehörigen getrennt werden. Das ist für manche noch schlimmer als die Krankheit. Niemand möchte allein sterben.«

»Ja, klar, richtig. Warum alleine sterben, wenn man es in Gesellschaft tun kann? Es gibt bestimmt keinen größeren Liebesbeweis, als die anzustecken, die man gernhat.« Er brachte ihr ein Glas mit goldgelb schimmerndem Wein, der aussah wie ein Schluck destillierter Sonnenschein. »Wenn ich diese Krankheit hätte, würde ich lieber sterben, als dich anzustecken oder auch nur einem Risiko auszusetzen. Ich denke, in diesem Fall würde es mir nicht schwerfallen, meinem Leben ein Ende zu setzen. Dann könnte ich wenigstens sicher sein, andere Menschen davor bewahrt zu haben. Ich kann mir nichts Unverantwortlicheres vorstellen, als mit dieser Infektion herumzulaufen.« Er reichte ihr das Glas und streichelte dabei ihre Hand. Er hatte diese nette Angewohnheit, dieses spezielle Wissen, und das war wirklich das Beste an ihm: Er wusste immer intuitiv, wann es angebracht war, ihr eine Strähne aus dem Gesicht hinters Ohr zu streichen oder ihr den Nacken zu massieren. »Wie ansteckend ist das überhaupt? Es breitet sich aus wie Fußpilz, oder? So lange man sich also die Hände wäscht und nicht mit nackten Füßen durchs Fitnessstudio tapst, dürfte doch keine Gefahr bestehen, hm? Hey. Hey. Du bist diesem toten Kerl doch nicht etwa zu nah gekommen?«

»Nein.« Harper machte sich nicht die Mühe, die Nase ins Glas zu stecken, um das Bouquet des Weins zu riechen, wie Jakob es ihr beigebracht hatte, damals, als sie dreiundzwanzig und frisch verliebt gewesen war und ganz bestimmt besoffener von ihm, als sie es jemals von Wein sein könnte. Sie leerte ihr Glas in zwei Zügen.

Mit einem lauten Seufzer setzte er sich neben sie und schloss die Augen. »Gut. Das ist gut. Du hast leider diesen schrecklichen Drang, anderen zu helfen, Harper, was unter normalen Umständen in Ordnung ist, aber in manchen Situationen muss man eben zuerst an sich …«

Aber sie hörte gar nicht zu. Das leere Weinglas in der Hand, beugte sie sich gebannt über den Couchtisch. Auf dem Bildschirm war die Übertragung eines Hockeyspiels abgebrochen worden, und man sah jetzt einen älteren Moderator in einem grauen Anzug, der schüchtern durch seine Zweistärkenbrille blickte. Der Nachrichtenticker kündigte an: SONDERMELDUNG – AUSSICHTSTURM IN SEATTLE BRENNT.

»… schalten wir nach Seattle«, sagte der Sprecher. »Bitte beachten Sie, dass die folgende Übertragung drastische Bilder enthält. Falls Kinder in Ihrer Nähe sind, sollten sie nicht zuschauen.«

Bevor er seinen Spruch beendet hatte, blendete der Sender Aufnahmen der berühmten einhundertvierundachtzig Meter hohen Space Needle in Seattle ein, die in den klaren blauen Himmel ragte. Aus dem Inneren des Turms quoll schwarzer Rauch und behinderte die Sicht auf verschiedene Hubschrauber, die ihn umkreisten.

»O mein Gott«, sagte Jakob.

Ein Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose sprang aus einem offenen Fenster. Seine Haare brannten. Die Arme wirbelten herum wie Feuerräder, während er aus dem Bild stürzte. Wenige Sekunden später folgte eine Frau in einem dunklen Rock. Als sie sprang, hielt sie den Rock mit beiden Händen fest, als wollte sie verhindern, dass er hochflog und man ihre Unterwäsche sah.

Jakob griff nach Harpers Hand, umklammerte sie und drückte sie ganz fest.

»Was zum Teufel ist bloß los, Harper?«, fragte er. »Was zum Teufel ist das?«

 

Joe Hill: „Fireman“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Ronald Gutberlet ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 960 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

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