Auf den Schultern von Giganten
Nintendos Fantasy-RPG „Xenoblade Chronicles 2“ ist ein echter Kaufgrund für die Switch
Zugegeben: Die ersten Ankündigungen eines neuen Xenoblade exklusiv für Nintendo Switch stießen zwar bei Fans der über die Jahre recht umfangreich gewordenen Reihe auf Wohlwollen, ließen aber ansonsten zunächst nicht erahnen, wie brillant das finale Ergebnis letztlich ausfallen könnte, das seit Anfang Dezember vorliegt. Um es gleich vorwegzunehmen: Eine buchstäblich weitere Fantasywelt als in Xenoblade Chronicles 2 hat es wohl bisher kaum auf Konsole geschafft. Dank berührender Story, extrem umfangreichem Content für locker 70 Spielstunden, gut ausbalancierten Figuren und einem insgesamt zeitgemäß komfortablen Handling (Schnellreise, übersichtliche Menüs, faire Rücksetzpunkte oder ein jederzeit selbstbestimmtes Spieltempo) überzeugt der Ableger auf ganzer Linie und markiert mit einigen Stilbrüchen innerhalb der Reihe sogar eine echte Neuorientierung.
Worin die besteht, lässt sich allerdings nur im Detail nachvollziehen, da die Xenoblade-Teile weder eine gemeinsame Geschichte noch ein gemeinsames Universum teilen, sondern hauptsächlich durch ihren atmosphärischen Grundton sowie einige philosophische Leitgedanken bzw. Referenzen von Schöpfer Tetsuya Takahashi zusammengehalten werden. Nicht umsonst tragen gleich mehrere Ableger von Xenosaga (als eine Art Schwester-Saga zu Xenoblade) Werktitel Friedrich Nietzsches im Namen. Nicht nur von solchen Monumentalphilosophien hat sich Chronicles 2 tendenziell entfernt und setzt viel mehr auf einen gerade visuell stets allgegenwärtigen Kontrast zwischen kleinem Individuum und Welt, der sich naturgemäß auch metaphorisch in der erzählten Geschichte widerspiegelt.
Deren Ausgangspunkt gestaltet sich wie in den meisten RPGs zunächst scheinbar undramatisch; bereitet allerdings bereits sehr fein die kommenden Ereignisse der (Kern-)Handlung vor. Wir schlüpfen in die Rolle des jungen Rex, der vor allem Schätze aus dem Wolkenmehr rund um einen gigantischen Turm birgt und sich so als Tiefseetaucher seinen Lebensunterhalt verdient. Typische RPG-Pointe dabei: Auf dem Turm soll einer alten Legende nach Elysium liegen, das als Geburtsort aller Lebewesen verehrt wird und um das sich zahllose Mythen ranken.
Doch die Zeiten, in denen Elysium Leben und Harmonie spendete, sind lange vorbei und so lebt Rex in einer ziemlich ungemütlichen, von Monstern mit bevölkerten Welt, in der er wie alle um sein Überleben kämpfen muss und Elysium nur mehr eine Art märchenhaftes Symbol für bessere Zeiten darstellt. Menschen und die sogenannten Nopons (seltsame, aber friedliche Wesen) leben in der Gegenwart auf großen Luftschiffen oder kurioserweise auf sich bewegenden Titanen mit erheblichen Größen- und damit Flächenunterschieden, was zu sehr unterschiedlichen Wohnmodellen zwischen kleinem Zimmer und halbem Kontinent führt.
Klingt surreal? Ist es auch! Denn tatsächlich erkunden wir mit Rex und seiner Party teils epische Gebiete, die sich auf den sich nach wie vor bewegenden Titanen befinden. Man möchte mit Blick auf einen berühmten Klassiker fast sagen: Das David-entert-Goliath-Prinzip von Shadow of Colossus wird in Xenoblade Chronicles 2 überspitzt weitergedacht und transformiert.
Zu Beginn des Abenteuers kommt Rex im harten Alltagskampf um Ressourcen ein sehr lukrativer Bergungsauftrag äußerst gelegen. Dabei ahnt er zunächst nicht, was sein Schatz in Wahrheit ist, nämlich ein Mädchen namens Pyra, das sich im Tiefschlaf befindet. Ein paar kuriose Zufälle später verbinden sich die Seelen von Rex und seiner neuen Gefährtin wider Willen. Pyra bittet uns daraufhin, sie für die Rettung der Welt doch tatsächlich nach Elysium zu bringen und den Weltenretter in uns zu entdecken. Denn der Untergang ist nah und kann nur mithilfe sogenannter lebender Schwerter aufgehalten werden – wie praktisch, dass Pyra trotz zierlicher Gestalt tatsächlich ein ebensolches ist und sich entsprechend verwandeln kann, um Rex mit ihren Kräften zu unterstützen und ihm bei der Suche nach weiteren Klingen helfen kann.
Was storytechnisch zunächst nach ziemlich konventionell japanischer RPG-Kost klingt, entpuppt sich mit zunehmender Dauer als eines der feinsten, bei Nicht-Kennern der Reihe wahrscheinlich sogar unterschätztesten Rollenspiel-Erlebnisse der letzten Jahre. Das fängt wie schon angedeutet bei der Spielwelt an, die mit ihrer Weitläufigkeit und vor allem Lebendigkeit begeistert. Nicht nur, dass wir uns mit Rex gerade zu Beginn passend zum Konzept fast ein wenig verloren fühlen, ehe wir ein Gefühl für die Entfernungen erhalten; überall stoßen wir auf Leben, begegnen uns freundlich wie feindlich gesinnte Wesen, wobei uns erstere mit teils kleinen, einfühlend wie manchmal regelrecht mitreißend geskripteten Informationen über die Welt und die Hintergründe unsere Mission versorgen.
Dazu gesellt sich ein prägnanter, nicht unangenehm überzeichneter Anime-Look, der anstelle des eher erwachsenen Grafikansatzes des Vorgängers übernommen hat. Speziell in den Zwischensequenzen, in denen die zwischen Humor und Ernst elegant ausbalancierte Story vorangetrieben wird, erhalten die Figuren mithilfe des farbenfroh nuancierten Looks einen zusätzlichen Schuss Ausdruckskraft.
Was allerdings gerade im Zusammenhang mit der Präsentation besonders positiv überrascht, ist das recht konsequente Spiel mit Klischees. Typische Anime-Stereotype werden gerne auch mal ausgehebelt und daher dürfte nicht nur Pyras Entwicklung bei japanophilen Zockern für einige Aha-Momente sorgen. Insgesamt erweisen sich die Figuren als wesentlich vielschichtigere Charaktere als es etwa beim letzten Final Fantasy der Fall war, was zu einer insgesamt stimmigen Identifikation mit den Beteiligten beiträgt.
Wer sich über die epische Länge des Titels auf die Welt und ihre vielen Facetten einlässt, wird sich manchmal dabei ertappen, die Haupthandlung über mehrere Stunden schlicht vernachlässigt zu haben, da sich beispielsweise der typische RPG-Sammlertrieb nach Schätzen und neuen Waffen gut in die Grundstimmung integriert und nicht mit plumpem Abklappern von Kartenpunkten allzu offensichtlich banalisiert erscheint. Da wir etwa neben Pyra noch viele weitere Klingen-Wesen mit ihren spezifischen Fähigkeiten sammeln und unserer Party hinzufügen können, bleibt die Motivation beim Durchstreifen der Titanen wunderbar hoch. Es macht schließlich durchaus einen Unterschied, ob wir nur nach leblosen Ressourcen oder neuen Wesen mit unterschiedlichem Design suchen müssen.
Auch das Kampfsystem fügt sich in den Kanon überzeugender Aspekte nahtlos ein. Zwar gestaltet es sich sehr komplex und fordert anfangs einige Zeit, um sich in den verschiedenen Ebenen zurecht zu finden. Hat man allerdings den Dreh einmal raus, kredenzt Xenoblade Chronicles 2 eines der vielschichtigsten wie gleichzeitig flexibelsten Systeme überhaupt. Denn jeder unserer Gefährten kann bis zu drei Klingen gleichzeitig mit sich führen und per simplen Knopfdruck zwischen ihnen wechseln. Damit lassen sich Kombos und mächtige Specialmoves ebenso durchziehen wie unzählige Feintunings bei der Auswahl verschiedener Komponenten und individueller Attribute, die wir entsprechend unserer Charakterentwicklung in den Schlachten gegen Standardgegner oder eindrucksvolle Bosse (wie unter anderem feindliche Klingenträger) einsetzen.
An dieser Stelle wollen wir nicht weiter ins Detail gehen, da die Komplexität der Kämpfe mit weiterer Feindifferenzierung wohl fast ein bisschen abschreckend wirkt. Aber gerade deshalb nochmal klar und deutlich: Komplex heißt nicht kompliziert und nach ein wenig Übung wird jeder Rollenspieler zu schätzen wissen, welche Möglichkeiten uns hier gerade im Zusammenspiel der Kombattanten an die Hand gegeben werden.
Technisch gibt es ebenfalls mehr Lob als Tadel. Natürlich kann die Switch nicht mit PS4 und Co mithalten, allerdings gibt es selbst in der portablen Variante bis auf kleinere Einbrüche der Bildrate und damit einhergehende Ruckler keine Probleme (und selbst dieses eine ist bei der Grafikpracht der Welt absolut verschmerzbar). Die Steuerung funktioniert stationär wie mobil einwandfrei und die Übersetzung bewegt sich auf sicherem Terrain.
Einziger weiterer Wermutstropfen: Die bis in verschiedene Dialekte besetzten englischen Synchronstimmen hätten die Macher präziser ihren Figuren anpassen oder vielleicht sogar ganz anders aussuchen können. Denn trotz vorhandenem Engagement wollen die meisten Voice-Actors nicht so recht entweder zum Alter oder der grundsätzlichen Konzeption ihrer Figur passen und so trüben sie die Stimmung eher ein anstatt sie kongenial zu unterstützen. Puristen laden daher vielleicht einfach die japanische Original-Tonspur und genießen die Texte via (deutscher) Inserts.
Fazit
Auch wenn es mit dem jüngsten Zelda-Ableger Breath of the Wild für Switch vielleicht das beste Rollenspiel der neuen Nintendo-Konsole schon gibt – Xenoblade Chronicles 2 steht diesem Übertitel in jeder Hinsicht kaum nach. Mit seiner frischer als erwarteten Story, seiner imposant inszenierten wie beeindruckend komponierten (Titanen-)Spielwelt und seinem langfristig unglaublich motivierenden Kampfsystem vereint die Titel alles, was ein moderner Genreklassiker braucht. Xenoblade ist nicht darauf aus, nur am Anfang und gegen Ende das RPG-Gaspedal ordentlich durchzudrücken, sondern füllt jede Spielstunde wahlweise mit seiner fesselnden Story oder einer bunten Mixtur an Nebenmissionen und Sammelaufgaben, ohne uns wie viele Genrekollegen mit dem sprichwörtlichen Holzhammer von einem Element zum anderen zu prügeln.
Wer ein im besten Sinne episches Erlebnis sucht, in das man sich richtig reinknien kann, ohne das Gefühl zu haben, speziell spielmechanisch wie desgntechnisch nur übliche JRPG-Standards verköstigt zu bekommen, kommt an diesem Meisterwerk eigentlich nicht vorbei. Und wer noch keine Switch sein eigen nennt: Allein schon Breath of the Wild und Xenoblade Chronicles 2 sind die Anschaffung der kleinen Hybridkonsole absolut wert!
Xenoblade Chronicles 2 • Monolith Soft/Nintendo • Fantasy-RPG
Abb. © Monolith Soft/Nintendo
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