5. Februar 2018 5 Likes

Die Stimme einer neuen Generation

Eine erste Leseprobe von Naomi Aldermans preisgekröntem Roman „Die Gabe“

Lesezeit: 8 min.

Ausgezeichnet mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction, Top Ten der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher 2017 von Barack Obama – die Lobeshymnen für Naomi Aldermans Roman „Die Gabe“ (im Shop) reißen nicht ab. Und das völlig zu recht. Die britische Autorin hat mit ihrer Geschichte, in der Mädchen und Frauen plötzlich mit den Händen Stromschläge verteilen können und die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen völlig auf den Kopf gestellt werden, eine eindringliche Zukunftsvision entworfen. Eine Zukunftsvision, mit der sie unserer Gegenwart einen schonungslosen Spiegel vor Augen hält und Mädchen und Frauen eine neue Stimme verleiht. „Die Gabe“ erscheint am 12. Februar 2018 endlich auf Deutsch, und natürlich wollen wir Ihnen eine erste Leseprobe nicht vorenthalten.

 

Roxy

Die Männer sperren Roxy währenddessen in einen Schrank. Sie wissen jedoch nicht, dass ihre Mum sie schon oft darin eingeschlossen hat, wenn sie unartig gewesen war. Nur für ein paar Minuten, bis sie sich beruhigt hat. Dennoch hat sie insgesamt bisher einige Stunden darin verbracht und in dieser Zeit die Schrauben des Schlosses mit ihrem Fingernagel oder einer Büroklammer gelockert. Sie hätte das Schloss daher jederzeit abmontieren können. Doch dann hätte ihre Mum einen Riegel an der Außenseite angebracht. Es reicht ihr, in der Dunkelheit zu sitzen und zu wissen, dass sie sich befreien könnte, wenn sie unbedingt wollte. Dieses Wissen ist genauso gut wie tatsächliche Freiheit.

Deshalb denken die Einbrecher, sie hätten sie ordentlich weggesperrt. Doch sie befreit sich und sieht daher alles mit an.

Die Männer kommen um halb zehn Uhr abends. Roxy hätte bei ihren Cousins sein sollen; seit Wochen war es vereinbart gewesen, doch sie hatte ihrer Mutter vorgeworfen, nicht die richtigen Strumpfhosen von Primark mitgebracht zu haben, weshalb ihre Mum den Abend kurzerhand abgeblasen hatte. Als ob es Roxy so wichtig gewesen wäre, zu ihren blöden Cousins zu gehen.

Als die Typen die Tür eintreten und sie sehen, wie sie auf dem Sofa neben ihrer Mum schmollt, ruft einer: »Verdammt, das Mädchen ist hier.« Sie sind zu zweit, ein Mann ist größer und hat ein rattenhaft schmales Gesicht, der andere ist kleiner, mit einem breiten Kiefer. Sie hat die beiden noch nie gesehen.

Der Kleinere packt ihre Mum an der Kehle, der Größere verfolgt Roxy, die rasch aufgesprungen war, durch die Küche. Sie hat es fast durch die Hintertür geschafft, als er sich in ihren Oberschenkel krallt. Sie fällt nach vorne, und er packt ihre Hüfte. Sie tritt wild um sich und brüllt »Hau ab, lass mich los!«, und als er ihr eine Hand über den Mund legt, beißt sie ihn so fest, dass sie Blut schmeckt. Er flucht, lässt sie jedoch nicht los und trägt sie trotz ihres Widerstandes durchs Wohnzimmer. Der Kleinere hat ihre Mum gegen den Kamin gedrängt. Roxy spürt, wie etwas sich in ihr aufbaut, auch wenn sie nicht weiß, was es ist. Ein Gefühl in ihren Fingerspitzen, ein Prickeln in ihren Daumen.

Sie beginnt zu schreien. Ihre Mum ruft immer wieder: »Tut ja meiner Roxy nichts, wehe, ihr tut ihr etwas, ihr habt ja keine Ahnung, mit wem ihr es zu tun habt, das wird euch noch leidtun, ihr werdet euch wünschen, ihr wärt nie geboren. Ihr Vater ist Bernie Monke, verdammt noch mal.«

Der Kleinere lacht. »Zufällig haben wir eine Nachricht für ihren Dad!«

Der Größere schiebt Roxy so schnell in den Schrank unter der Treppe, dass diese kaum weiß, wie ihr geschieht, bis es dunkel um sie wird und sie den süßlich-dumpfen Geruch des Staubsaugers wahrnimmt. Ihre Mum beginnt zu schreien.

Roxys Atem geht schnell. Sie hat furchtbare Angst, aber sie muss unbedingt zurück zu ihrer Mum. Mit dem Fingernagel dreht sie an einer der Schrauben am Türschloss. Ein, zwei, drei Umdrehungen, dann ist es geschafft. Ein Funke blitzt zwischen der Metallschraube und ihrer Hand auf. Statische Aufladung. Sie fühlt sich seltsam. Als könnte sie mit geschlossenen Augen sehen. Ein, zwei, drei Umdrehungen, auch die untere Schraube ist gelöst. Ihre Mum sagt flehend: »Bitte, bitte nicht. Wieso tut ihr das? Sie ist doch noch ein Kind. Sie ist nur ein Kind, um Himmels willen.«

Einer der Männer lacht. »Wie ein Kind hat sie für mich nicht ausgesehen.«

Ihre Mum kreischt auf, es klingt wie Metall, das zerquetscht wird.

Roxy versucht zu erraten, wo sich die Männer befinden. Einer ist bei ihrer Mum. Der andere … ist irgendwo links von ihr. Sie will sich leise aus dem Schrank schleichen, dem Größeren in die Kniekehlen treten, dann auf seinen Kopf. Danach heißt es zwei gegen einen. Wenn sie bewaffnet sind, haben sie es bisher nicht gesagt. Roxy hat schon früher gekämpft. Die Leute sagen Sachen über sie. Ihre Mum. Und ihren Dad.

Eins. Zwei. Drei. Ihre Mum schreit wieder. Roxy zieht das Schloss von der Tür und schlägt diese mit aller Kraft auf.

Sie hat Glück und erwischt den großen Mann von hinten. Er stolpert, fällt nach vorne, sie packt rasch seinen rechten Fuß, und der Angreifer stürzt schwer auf den Teppich. Ein Knacken, Blut schießt aus seiner Nase.

Der Kleinere drückt ihrer Mum ein Messer an den Hals. Die silberne Klinge zwinkert ihr lächelnd zu.

Die Augen ihrer Mutter weiten sich. »Lauf, Roxy«, sagt sie leise, doch Roxy hört es, als spräche die Stimme in ihrem Kopf. »Lauf. Lauf!«

In der Schule drückt sich Roxy nicht vor Prügeleien. Wenn man das tut, werden sie einem bis in alle Ewigkeit nachrufen: »Deine Mum ist eine Schlampe und dein Dad ein Gangster. Passt nur auf, sonst beklaut euch Roxy noch.« Man muss auf sie einprügeln, bis sie um Gnade winseln. Unter gar keinen Umständen läuft man weg.

Etwas geschieht. Das Blut hämmert in ihren Ohren. Ein kribbelndes Gefühl breitet sich über ihre Schultern aus, ihren Rücken, entlang des Schlüsselbeins. Es signalisiert ihr: Du kannst es. Du bist stark.

Sie springt über den ausgestreckt daliegenden Mann, der stöhnend sein Gesicht betastet. Sie wird ihre Mum aus dem Haus bringen. Sie müssen es nur bis auf die Straße schaffen. Da draußen sind sie sicher, es ist ja schließlich noch hell. Sie werden ihren Dad auftreiben, und er wird sich um alles kümmern. Nur ein paar Schritte. Sie schaffen das.

Der Kleinere tritt Roxys Mum hart in den Bauch. Sie krümmt sich vor Schmerzen, sinkt auf die Knie. Er bedroht Roxy mit dem Messer.

Der Große stöhnt: »Tony, vergiss nicht – nicht das Mädchen!«

Der Kleinere tritt seinem Kumpan ins Gesicht, und noch einmal, und noch einmal.

»Sag nicht. Meinen verdammten. Namen!«

Der Große verstummt. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Roxy weiß, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckt. Ihre Mutter schreit wieder: »Lauf weg! Lauf!« Roxy fühlt sich, als seien ihre Arme von Nadelstichen übersät. Wie nadelfeine Stiche aus Licht zieht es über ihr Rückgrat zu ihrem Schlüsselbein, von ihrer Kehle zu ihren Ellbogen, Handgelenken, Fingerspitzen. Ein Gefühl, als ob sie unter ihrer Haut glitzert.

Er streckt eine Hand nach ihr aus, das Messer fest in der anderen. Sie macht sich bereit, ihn zu treten oder zu stoßen, doch eine innere Stimme sagt ihr überraschenderweise, sie solle sein Handgelenk packen. Sie gehorcht und befreit irgendetwas tief in ihrer Brust, als ob sie das schon immer gekonnt hätte. Er versucht hektisch, sich von ihr loszureißen, doch zu spät.

Der Blitz ruht in ihrer Hand, und sie befiehlt ihm einzuschlagen.

Etwas knistert und knackt, es riecht ein wenig nach Gewitter und verbranntem Haar. Unter ihrer Zunge schmeckt sie Bitterorange. Der kleinere Mann liegt plötzlich auf dem Boden und wimmert, ein hohes, summendes Geräusch. Seine Hand ballt sich zur Faust und öffnet sich wieder. Eine lange rote Narbe zieht sich vom Handgelenk den Arm hinauf. Sie ist sogar unter der dichten blonden Behaarung gut zu sehen: scharlachrot schlängelt sie sich wie Farnkraut nach oben, komplett mit Blättern, Ranken, Knospen und Zweigen. Ihre Mutter verfolgt alles schockstarr, mit weit aufgerissenem Mund. Tränen laufen ihr über die Wangen.

Roxy zerrt am Arm ihrer Mum, doch diese bewegt sich zu langsam. Immer wieder sagt sie: »Lauf weg! Lauf!« Roxy hat keine Ahnung, was sie da gerade getan hat, aber sie weiß, dass man, wenn man jemand Stärkeren zu Boden gebracht hat, sofort die Beine in die Hand nimmt. Doch ihre Mum ist zu langsam. Bevor Roxy sie hochziehen kann, sagt der kleinere Mann: »O nein, das wirst du nicht.«

Unsicher rappelt er sich auf und hinkt zur Tür. Eine Hand hängt leblos herab, die andere hält immer noch das Messer umklammert. Roxy erinnert sich an das Gefühl, als sie es getan hat – was auch immer das war. Sie zieht ihre Mum hinter sich.

»Was hast du denn da, Mädchen?«, fragt der Mann. Tony. Sie wird sich den Namen merken und ihn ihrem Dad sagen. »Eine Batterie?«

»Aus dem Weg«, sagt Roxy scharf. »Oder willst du es noch mal spüren?«

Tony tritt ein paar Schritte zurück. Mustert ihre Arme. Überprüft, ob sie etwas hinter dem Rücken versteckt. »Du hast es fallen gelassen, nicht wahr, Kleine?«

Sie erinnert sich an das Gefühl. Wie sich etwas in ihr befreit hat, die Explosion nach außen.

Sie tritt auf Tony zu. Er weicht nicht zurück. Sie macht noch einen Schritt. Er blickt auf seine leblose Hand, deren Finger noch zucken. Er schüttelt den Kopf. »Du hast gar keine Waffe.«

Mit dem Messer in der Hand bewegt er sich auf sie zu. Sie streckt den Arm aus, berührt den Rücken seiner Messerhand. Will es noch einmal freisetzen.

Nichts geschieht.

Er lacht. Hält das Messer mit den Zähnen fest und packt mit einer Hand ihre beiden Handgelenke.

Sie versucht es erneut. Nichts. Er zwingt sie auf die Knie.

»Bitte«, fleht ihre Mum leise. »Bitte nicht.«

Dann bekommt sie einen Schlag auf den Hinterkopf und wird ohnmächtig.

Als sie erwacht, steht die Welt auf dem Kopf. Sie sieht den Kamin, seine Holzumrandung, ihr Gesicht wird dagegen gedrückt. Ihr Kopf schmerzt, und ihr Mund ist im Teppich vergraben. Sie schmeckt Blut. Etwas tropft. Sie schließt die Augen, öffnet sie wieder und erkennt, dass weit mehr als ein paar Minuten vergangen sein müssen. Die Straße vor dem Fenster ist unbelebt, das Haus selbst kalt. Und zur Seite gedreht. Sie macht eine Bestandsaufnahme ihres Körpers. Ihre Beine liegen auf einem Stuhl, sie hängt mit Kopf und Oberkörper nach unten und wird in den Teppich und den Kamin gezwängt. Sie versucht, sich aufzurichten, doch das kostet zu viel Kraft, weshalb sie ihre Beine mit schlängelnden Bewegungen auf den Boden manövriert. Es tut weh, aber wenigstens muss sie sich nicht mehr verrenken.

Die Erinnerung kehrt in Bildblitzen zurück. Der Schmerz, die Quelle des Schmerzes, dieses Etwas, das sie getan hat. Dann ihre Mum. Sie richtet sich langsam auf, ihre Hände kleben. Und irgendetwas tropft immer noch. Der Teppich ist durchweicht, ein roter Fleck zieht sich um den Kamin. Da ist ihre Mum, ihr Kopf hängt über der Sofalehne. Auf ihrer Brust liegt ein Stück Papier, auf dem mit Filzstift eine Primel gezeichnet ist.

Roxy ist vierzehn. Sie ist eine der Jüngsten und eine der Ersten.

 

Naomi Alderman: „Die Gabe“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Sabine Thiele ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 464 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

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