3. September 2021 2 Likes

Dmitry Glukhovskys „Outpost – Der Posten“

Eine erste Leseprobe aus der neuen Dystopie des russischen Bestsellerautors

Lesezeit: 4 min.

Am 11. Oktober erscheint Outpost – Der Posten (im Shop), der Auftakt zur neuen Russland-Dystopie von Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky (Die Metro-Trilogie, im Shop). Nach dem Bürgerkrieg in Russland ist das Land verseucht, die Städte liegen in Trümmern, und was östlich der Wolga ist, weiß niemand so genau. Jegor lebt in Jaroslawl, dem östlichsten Außenposten des neuen russischen Reiches, und er ist wild entschlossen, herauszufinden, was von der alten Welt noch übrig ist …

 

————-

 

»Was ist denn da, auf der anderen Seite der Brücke?«

Diese Frage stellt Jegor zum tausendsten Mal, und warum auch nicht, die Antwort fällt schließlich jedes Mal anders aus.

Die riesige Brücke ragt in grünen Dunst hinein, einen dichten giftigen Nebel, und löst sich langsam darin auf, bis sie knapp zwanzig Meter vom Ufer entfernt ganz aus dem Sichtfeld verschwindet. Der Wind nimmt hin und wieder Anlauf, um den Nebel zu vertreiben, aber er schafft es nicht.

Der grüne Vorhang hebt sich nur leicht und legt den Blick frei auf die immer gleichen rostigen Gleise, rostigen Balken, das rostige Fachwerk, bewachsen mit etwas, das wie rotbraunes Seegras aussieht, aber keins ist; etwas, das im Wind schaukelt und bei Windstille.

Der Nebel lässt sich nicht vertreiben, weil er vom Wasser aufsteigt. Es ist der Atem des schwerfälligen, schaumbedeckten, kranken Flusses.

Der Fluss selbst ist nicht zu sehen, erst irgendwo im Dunkel tauchen die Betonpfeiler der Brücke hinein. Aber zu hören ist er durch den Nebel hindurch deutlich – sein Schmatzen, Schlürfen, Glucksen. Als wäre er lebendig – aber das täuscht. Dort unten gibt es kein Leben. Und gerät doch einmal etwas Lebendiges hinein, lebt es nicht lange. Holzboote verkohlen, Schlauchboote werfen Blasen und platzen. Wer hier wohnt, geht selbst dann nicht zu nah ans Wasser, wenn man ihm die Pistole auf die Brust setzt. Und überhaupt, was heißt hier Wasser …?

Der Fluss ist selbst mit stahlverstärkten Frachtkähnen nicht schiffbar. Wer einmal stromabwärts gefahren war, kehrte nicht mehr zurück. Auch aus der anderen Richtung hat sich der Brücke noch nie jemand genähert.

Deshalb braucht der Fluss auch keinen Namen mehr: Er heißt einfach nur Fluss.

Aber früher nannte man ihn »Wolga«.

Jegor lässt nicht locker. »Also, was?«

»Na, was schon … Städte, wahrscheinlich. Genauso leer wie unser Jaroslawl. Das weißt du doch selbst, was fragst du überhaupt?«

»Ich? Ich weiß gar nichts. Du bist doch der, der alles weiß, Sergej Petrowitsch.«

»Halt dich ja von der Brücke fern, klar? Sonst reiß ich dir den Kopf ab!«

»Geht klar, Sergej Petrowitsch. Du bist hier der Kommandant! Und ich nur ein Trottel mit Gitarre. Ich muss ja auch gar nichts wissen. Aber die Frage ist doch, wieso dich das nicht interessiert! Du sollst doch das Imperium an seiner Ostgrenze verteidigen!«

Polkan wirft Jegor einen finsteren Blick zu. Reibt sich die Glatze. Schiebt das Teeglas im silbernen Halter, in den ein Eisenbahnmotiv eingraviert ist, zur Seite.

»Ich weiß genug, du Klugscheißer, kapiert?«, knurrt er. »Die verfluchte Eisenbahn reicht von Moskau bis ans andere Ende der Welt. Aber sie könnte genauso gut hier bei uns zu Ende sein, so lange, wie sich niemand mehr von drüben hat blicken lassen. Jeder hat seine Aufgabe, klar? Jeder hat seinen Posten!«

Polkan trommelt mit den Fingern auf dem Tisch, sucht verbissen nach einer Beschäftigung, einem Vorwand, um Jegor aus seinem Dienstzimmer zu schmeißen. Der Politikunterricht ist vorbei, noch bevor er angefangen hat.

Jegor schlägt einen Waffenstillstand vor. »Gib mir die Gitarre wieder, und ich bin sofort weg.«

»Ich geb dir gleich was anderes, kapiert?! Geh und lern Geschichte, danach hast du Kampftraining. Heute Abend können wir dann über die Gitarre reden! Däumchen drehen will er, verdammt noch mal, anstatt zu lernen! Reichsgeografie pauken sollst du! Zermarterst dir den Kopf über die andere Seite, dabei will nicht mal rein, was auf dieser los ist!«

Aber was ist schon auf dieser Seite los?

Leere Häuser, leere Straßen. Leere Karossen der stehen gelassenen Autos. Knochen, die niemandem gehören, vereinzelt und in Häufchen. Wilde Hunde.

Leben gibt es kaum noch. Höchstens bei den Wachtposten, wo die Menschen in ihren Bahnhofsfestungen hocken, sich an die Eisenbahn klammern, sich verschanzen.

Polkans Posten befindet sich am äußersten Punkt. Die Garnison hat den Befehl, die östlichen Zufahrtswege zu bewachen, also beschützt die Garnison pflichtgemäß die Brücke. Ob vor Aufständischen, Umherziehenden oder Tieren – das kann nicht mal mehr Polkan sagen.

In den Geschichtsbüchern, aus denen Jegor lernen soll, geht es immer nur bergauf: Prosperität, Gerechtigkeit, der Anbruch einer neuen Ära. Aber wann diese Ära den Bach hinuntergeht, steht nicht mehr in den Büchern. Da muss er Polkan glauben, der sagt, das Volk habe gewütet und Verräter hätten das Land leer geplündert; die Hauptstadt sei so ausgeblutet gewesen, dass sie die wegbröckelnden Gebiete nicht mehr halten konnte. Schließlich habe Moskau entlang der verseuchten, giftigen Wolga eine Grenze gezogen, am hiesigen Ufer den Wachtposten aufgestellt, das andere Ufer vergessen und sich um seine Angelegenheiten gekümmert. Und Angelegenheiten gab es mehr als genug.

Was Russland gewesen war, wurde zu Moskowien.

Mehr musste Jegor nicht wissen.

 

Dmitry Glukhovsky: Outpost – Der Posten • Roman • Aus dem Russischen von Jennie Seitz und Maria Rajer • Heyne, München 2021 • als HC und E-Book erhältlich • Preis des E-Books: € 15,99 • ab 11.10.2021 in unserem Shop erhältlich

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