29. November 2021 8 Likes

Zukunftsblöd

Was wir aus dem zweiten Corona-Winter lernen könnten (wenn wir denn etwas lernen wollen)

Lesezeit: 7 min.

Schlüsselerlebnisse heißen nicht nur so, sondern sie eignen sich auch tatsächlich dafür, etwas aufzusperren. Zum Beispiel eine soziale Situation.

Während meines Studiums saß ich Mitte der 1990er-Jahre einmal in einem Hauptseminar zum Thema „Grundpflichten im deutschen Grundgesetz“. Dazu muss man wissen, dass sich das deutsche Grundgesetz dadurch auszeichnet, dass es praktisch keine Grundpflichten, also grundlegende Pflichten des Einzelnen gegenüber dem Staat, etabliert. Unsere Verfassung, die im Wesentlichen eine Reaktion auf zwölf Jahre Nazi-Diktatur ist, besteht vor allem aus Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger, deren jeweilige Grenzen nur dort gezogen werden, wo andere Grundrechte berührt sind. Und so wandte sich das Seminar schon bald der Frage zu, ob es denn im Grundgesetz mehr Grundpflichten geben sollte. Etwa im umweltpolitischen Kontext: Ob es nicht vernünftig und angebracht ist, die Bürgerinnen und Bürger zu einem Verhalten zu verpflichten, das die eigenen Lebensgrundlagen erhält? Dazu gab es eine kontroverse Diskussion, an deren Ende einer meiner Kommilitonen den denkwürdigen Satz sagte: „Das ist ja alles schön und gut mit der Umwelt, aber es ist doch mein Leben, oder?“

Ein Schlüsselerlebnis – das ich damals allerdings noch nicht als solches erkannte, denn der Satz „Aber es ist doch mein Leben, oder?“ ist in einer Kultur wie der unseren, in der der Individualismus als die zentrale historische Errungenschaft betrachtet wird, erst einmal reichlich trivial. Und was den ökologischen Kontext betraf: Vor fünfundzwanzig Jahren war so etwas wie der Klimawandel noch ein reines Orchideenthema, und wir konnten das Seminar mit dem beruhigenden Gefühl beschließen, dass es so schlimm ja ohnehin nicht kommen würde.

Nun, leider kam es viel schlimmer. Fünfundzwanzig Jahre später steht die Menschheit vor der Frage, ob es überhaupt noch gelingen kann, das globale Ökosystem vor dem Kollaps zu bewahren, und als ich vor Kurzem las, dass in all den Jahren der Klimadebatte, also des unermüdlichen Warnens und Mahnens, Größe und Abgasverbrauch der Autos kontinuierlich zugenommen haben, musste ich an den Satz meines Kommilitonen denken. Denn statt dass die Gesellschaft die fundamentale Tatsache anerkennt, dass man die Natur nicht zur Disposition stellen kann, verstrickt sie sich in Grabenkämpfe um die individuelle Lebensführung: Warum sollte ich mir nicht das Auto kaufen, das mir gefällt? Wie kommen irgendwelche Umweltheinis dazu, mir den Flug auf die Malediven madig zu machen? Es ist doch mein Leben, oder?

Das alles ist umso deprimierender, wenn man sich klarmacht, dass die ökologische Krise in ihrem ganzen Ausmaß noch gar nicht in die Tiefenschichten der gesellschaftlichen Debatte eingesickert ist, dass die eigentliche Katastrophe, der sich mehr und mehr beschleunigende Verlust an biologischer Vielfalt, die breitere Öffentlichkeit noch kaum beschäftigt. (Wie es ein Wissenschaftler kürzlich auf den Punkt gebracht hat: „Beim Klima geht es darum, wie wir Menschen künftig auf der Erde leben. Der Erhalt der Arten entscheidet, ob wir leben.“) Zwar wird sich daran bald zwangsläufig etwas ändern, aber man kann sich schon gut vorstellen, mit welch stupiden Argumenten wir konfrontiert sein werden: Warum sollen irgendwelche Bienenvölker wichtiger sein als ich? Wieso soll ich mir von der Zierlichen Tellerschnecke oder dem Gemeinen Feldhamster den Spaß am Leben verderben lassen? Und so weiter.

Eine Ahnung davon, was da auf uns zukommt, vermittelt die aktuelle Corona-Situation, die man, so wirr sie auch erscheinen mag, problemlos mit dem Satz „Aber es ist doch mein Leben, oder?“ aufschlüsseln kann. Man muss wirklich kein Wissenschaftler oder keine Wissenschaftlerin sein, um zu verstehen, dass die dramatische Lage auf den deutschen Intensivstationen etwas mit der niedrigen Impfquote hierzulande zu tun hat. Dass die Impfung das Infektionsgeschehen stärker bremst, als es die Kontaktbeschränkungen im Herbst 2020 taten. Dass hohe Fallzahlen die Wahrscheinlichkeit neuer Virusvarianten erhöhen. Und dass es für einen Virus keinen Unterschied macht, ob spezifische Eindämmungsmaßnahmen gerade politisch opportun sind oder nicht. Viel klarer können Zusammenhänge eigentlich gar nicht sein, aber etlichen Leuten ist das völlig egal. Sie ziehen sich unter Berufung auf die persönliche Freiheit (oder auf die berühmte „höhere Einsicht“) in ihre private Blase zurück, bewaffnen sich mit Halb- oder Viertelinformationen aus obskuren Quellen und nehmen den Kampf gegen „die Politik“ oder „den Staat“ auf. In Wahrheit aber kämpfen sie gegen eine Gesellschaft, deren Teil sie selbst sind. Und gegen die Zukunft.

Denn der scheinbar triviale Satz „Aber es ist doch mein Leben, oder?“ erzählt mehr über die Zukunft als irgendeine Propagandameldung aus dem Silicon Valley. „Zukunft“ ist nicht das Metaverse oder eine Gigafactory, sondern die Art und Weise, wie wir einmal miteinander in dieser Welt leben werden. Oder leben wollen. Oder gezwungen sind zu leben. Jede auch nur halbwegs seriöse Zukunftsdebatte kommt an der Frage, wie weit ein „Ich“ bereit ist, sich als Teil von etwas – eines Gemeinwesens, eines Naturzusammenhangs, eines Planeten – zu verstehen, nicht vorbei. Und wenn viele „Ichs“ der Ansicht sind, dass maximale Individualisierung in allen nur denkbaren Lebenslagen das angemessene Verhalten ist, dann hat die Zukunft ein Problem.

Man könnte ein solches Verhalten „zukunftsblöd“ nennen. Zugegebenermaßen ein ziemlich banaler Begriff, aber die Sache selbst ist auch ziemlich banal, denn eigentlich sollte es dem letzten Reichsbürger im hintersten alpenländischen Tal einleuchten, dass er seine Freiheiten nur leben kann, weil sie von einer kollektiven Anstrengung garantiert werden. Ohne öffentliche, mithin staatliche Ordnung wäre kein Individuum für längere Zeit überlebensfähig; es müsste sich in den Schutz von Familienverbänden zurückziehen, die jeglichen Individualismus ersticken. Mit anderen Worten: In bestimmten Situationen erzeugt maximale Individualisierung die Voraussetzungen für ihre künftige Einschränkung oder im schlimmsten Fall Abschaffung.

Zukunftsblöd ist man folglich, wenn man mit dem Argument „Aber es ist doch mein Leben, oder?“ dazu beiträgt, eine künftige Gegenwart zu erzeugen, in der sich niemand mehr für dieses Argument interessiert. Zukunftsblöd ist man, wenn man meint, dass die Erde nichts anderes als eine große Bühne für das persönliche Lebensstück ist. Zukunftsblöd ist man, wenn man Gesellschaft und Politik absichtsvoll verwechselt. Zukunftsblöd ist man, wenn man künftigen Generationen die Freiheit raubt und sich dabei auf die Freiheit beruft. Zukunftsblöd ist man, wenn man denkt, man könnte sich aus der ökologischen Krise herauskonsumieren. Zukunftsblöd ist man, wenn man sich im Einklang mit sich selbst wähnt und nicht merkt, dass man genau das tut, was andere von einem wollen …

Herrje. Das ist jetzt schon eine ziemlich lange Liste, und es wäre nicht weiter schwer, sie noch zu verlängern. Sind wir also womöglich alle zukunftsblöd?

Nein, denn auch das könnten wir in diesem Corona-Winter lernen, wenn wir denn etwas lernen wollen: Eine Minderheit kann mit ihrem Selbstmitleid, ihrem Narzissmus und ihrem Verschwörungsgefasel eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft nehmen. Auch in der ökologischen Krise (einmal davon abgesehen, dass die derzeitige Pandemie ein Teil dieser Krise ist) ist es nicht die Mehrheit, die meint, man sollte das soziopathologische „Ich will aber“ oder „Ich will aber nicht“ über die Bewahrung der globalen Biosphäre stellen. Im Gegenteil: Wir – also ganz viele von uns, Sie bestimmt und ich ja auch – wollen, dass die globale Biosphäre bewahrt wird, aber der Umstand, dass wir überhaupt erst in dieses Schlamassel geraten sind, zeigt, dass, wie Charles Taylor es formuliert, „in unserer Kultur ein gewaltiger Irrtum wirksam ist“, der Irrtum nämlich, dass Erkennen etwas auf Vermittlung, auf Repräsentation angewiesenes ist. In Wahrheit aber stehen wir mit der Welt verkörpert in Kontakt. In Wahrheit sind wir alle gesellschaftliche, planetare, weltgebundene Akteure, aber dass hier Erkenntnis und Handeln zwangsläufig zwei Seiten derselben Medaille sind, ist für die meisten von uns eine nur schwer zu überwindende Hürde.

Einige werden diese Hürde nie überwinden. Sie sehen in „der Welt“ schlicht eine Zumutung, halten schon die Diskussion darüber, inwiefern sie an der Welt Anteil haben, für einen Angriff auf ihr persönliches Leben und merken dabei gar nicht, dass sie die Zukunft, vor der sie warnen, selbst erzeugen. Ich habe es inzwischen aufgegeben, mich mit solchen Leuten auseinanderzusetzen, und ich sehe auch keinen Sinn darin, materielle oder geistige Ressourcen dafür aufzuwenden, sie „mitzunehmen“. Denn sie sind, wie gesagt, eine Minderheit, und im Fall von SARS-CoV-2 wird man das hierzulande wohl nur mit einer Impfpflicht regeln können, sonst wird der Winter des Jahres 2022 dem des Jahres 2021 ähneln, der auf groteske Weise dem des Jahres 2020 ähnelt.

Was alle anderen betrifft – also uns, Sie, mich –, so ist die gesellschaftliche Debatte bisher noch nicht an dem Punkt angekommen, über den wir vor fünfundzwanzig Jahren in besagtem Hauptseminar gestritten haben. Keine große Partei will ein „umweltverträgliches Leben“ im Grundgesetz festschreiben und verpflichtend machen. Und eigentlich will ich auch in keinem Staat leben, in dem eine Regierung ausbuchstabiert, was „umweltverträglich“ genau heißt oder nicht heißt. Aber ich weiß auch, dass wir drauf und dran sind, einen solchen Staat zu erzeugen.

Blöd, oder?

 

Sascha Mamczak ist Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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