14. April 2022

George Orwell hat sich geirrt

Internet, Algorithmen und Co. könnten mehr Chance als Gefahr sein – wenn wir denn wollen

Lesezeit: 4 min.

Ich gebe es zu: Ich liebe düstere Zukunftsszenarien. In System Error, meinem neuen Roman, beschreibe ich die Entstehung eines Überwachungsstaates à la Orwell goes digital. Dystopien sind meine Welt. Menschliche Abgründe, totale Überwachung und allmächtige Algorithmen. Herrlich! Die Welt geht unter, mein Herz blüht auf. So bin ich – also die Autorin in mir.

Mein zweites Ich, mein wahres Selbst, wenn man so will, lässt sich von derart schrecklichen Bildern allerdings kaum beeindrucken. Es sieht auch noch im bedrohlichsten Gewitter einen rosaroten Streifen irgendwo am Horizont. Denn sein Herz tickt stur in dem ihm eigenen Takt, und der ist nun einmal unveränderlich optimistisch. So ist das wohl mit uns Autoren: Jeder von uns hat zwei Persönlichkeiten. Mindestens.

Betrachten wir doch einmal das allmächtige, allwissende Internet. Ja, auch ich bin längst aus meiner ländlichen Idylle aufgeschreckt und habe wie die meisten von uns, dummerweise nur einen Augenblick zu spät, verstanden, dass mein digitaler Fußabdruck längst eine unsterbliche Existenz begonnen hat. Selbst wenn ich jeden Content aus meinem eigenen Account entferne, bleibt mein Abdruck unendlich lange bestehen, und das nicht nur im Internet Archive. Mein Gesicht, mein Körper, meine Stimme – sie leben ewig, zumindest im Hintergrund fremder Fotos und Videos. Von Überwachungskameras und Finanztransaktionen, GPS-Tracking, Gesichtserkennung, Bewegungsmuster- und Stimmenabgleich sowie diesen seltsamen Zufällen, wenn kurz nach einem spontan versendeten Foto die passende Werbung hereindudelt, wage ich gar nicht erst zu sprechen. Ich weiß es. Ich kenne die Wahrheit. Unzählige Algorithmen sind geradezu übereifrig darum bemüht, alles über mich zu erfahren. Was ich tue, wohin ich gehe, mit wem ich mich treffe oder wessen Meinung ich teile – sie erforschen mit der Hingabe eines jungen Liebhabers meine geheimsten Wünsche, nur dass sie meine Daten dann nicht in ihrem Herzen bewahren, sondern sie abspeichern, auswerten und schamlos an jeden zahlungskräftigen Schurken verhökern, der auch nur vages Interesse bekundet hat. Mein vielbeschworener digitaler Fußabdruck ist längst zu einem plattgetretenen Trampelpfad mutiert. Das hat durchaus eine leicht beunruhigende Wirkung, selbst auf mein dem Rosa in der Welt verschriebenen Gemüt.

George Orwell hätte seine helle Freude. Da bin ich – und jetzt meine ich die Autorin in mir – ganz bei ihm. Wenn ich für die zermürbenden Stunden des Schreibens meine rosarote Optimistenbrille neben der Tastatur ablege und das Internet mit einem für einen Autoren sachdienlichen Pessimismus durchforsche, lauert hinter jeder Ecke Stoff für einen neuen Thriller. Eine schier unendliche Fülle aus schlechten Nachrichten, beängstigenden Studien und an Kreativität nicht zu überbietenden Verschwörungstheorien. Musste der gute George vor rund achtzig Jahren noch allein auf einer schottischen Insel hocken und düstere Zukunftsvisionen der eigenen Fantasie entlocken, öffne ich heute mit einem einzigen Mausklick die Büchse der Pandora, und aus meinem Browser sprudeln die Geschichten schneller, als meine Finger tippen können. Verstörende Bilder einer Zukunft zwischen Albtraum und Apokalypse. Da jauchzt die Autorenseele auf vor Freude. Denn, das wusste auch der liebe George, Dystopien will das Land. Zumindest in Romanen.

Aber sind sie wirklich unsere Zukunft? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn bei allem Pessimismus: Es gibt immer auch Chancen. Wer mir nicht glaubt, der sei an die Webseite 2050.earth des Softwareunternehmens Kaspersky verwiesen. Hier findet sich ein buntes Forum für alle, die Utopien wie Dystopien teilen möchten. Die meisten Likes bekommen übrigens die Optimisten unserer Zeit. Warum auch immer.

Vielleicht schickt jedes neue Zeitalter erst seine Pessimisten voraus, bevor die Optimisten die Zukunft in ihre eigenen Hände nehmen. Denn das ist doch der entscheidende Punkt: Als Prognose taugt George Orwells Roman 1984 nichts. Das Jahr 1984 kam und ging, und England mutierte nicht zu einem Überwachungsstaat. Zugegeben, und so viel muss ich nicht nur in diesen Wochen eingestehen, angesichts von Krieg und Zerstörung haben auch geborene Optimisten wie ich es zuweilen schwer. Gewalt und Ungerechtigkeit überschatten unser freies, gleichberechtigtes Leben und das Glück viel zu vieler unserer Mitmenschen, ob in Europa, Asien, Afrika oder Amerika. In manchen Teilen der Welt steigt die Überwachungskultur in besorgniserregendem Maße, in anderen ist nichts mehr sicher. Aber dennoch, und das ist die gute Nachricht, der Roman 1984 ist nicht Wirklichkeit geworden.

Deswegen bleibe ich weiter optimistisch. Ich kann nicht anders. Eine Welt ohne Hoffnung, darüber kann ich schreiben – aber leben will ich darin nicht. Also klammere ich mich an meinen Glauben an das Gute in den vernunftbegabten Menschen; daran, dass sich immer wieder Mutige finden, die ihre Stimme erheben, andere wachrütteln, Nachrichten – und zwar dank Internet – auch aus Kriegsgebieten und Ländern, in denen Menschen unterdrückt werden, versenden, helfen, sich organisieren und Machtmissbrauch bekämpfen, wo sie ihn sehen. Dann – wenn auch nur dann – bietet uns diese Welt mit ihren neuen Technologien einen Überfluss an Chancen und Möglichkeiten. Wenn wir uns bemühen, sie zum Guten zu nutzen, dann ist ein rosaroter Streifen erst der Anfang.

Foto © Emily Engel

Solveig Engel, Jahrgang 1974, ist promovierte Physikerin. Sie schrieb für verschiedene Tageszeitungen und Spektrum der Wissenschaft, ehe sie mit ihrem ersten Thriller Neondunkel 2018 auf der Leipziger Buchmesse mit dem Indie-Autor-Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Am 11. April 2022 erscheint ihr Near-Future-Thriller System Error bei Heyne. Solveig Engel lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Berlin.

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