15. April 2022

Die KI und der „System Error“

Solveig Engels Science-Fiction-Debüt ist endlich erschienen

Lesezeit: 3 min.

Ein Leben in Frieden und Sicherheit, wer träumt davon nicht? Der Umweg zur Utopie führt über die Verbrechensbekämpfung. Doch was wäre, wenn man Verbrechen verhindern könnte, bevor sie geschehen? Diese Aufgabe erledigt eine KI: Cyb. Doch jede Utopie hat ihren Preis.

Solveig Engel: System ErrorWillkommen in der nahen Zukunft, willkommen in der Welt von Solveig Engels „System Error“ (im Shop). Wenige Jahre nach der Einführung von Cyb ist die totale Überwachung kein Schreckensszenario mehr, sondern Realität. Richtig im Alltag angekommen ist das noch nicht. Zu bequem ist das Leben mit Smartphone, Smartwatch und Smartspeaker, mit Verkehrsüberwachungskameras und Rauchmeldern, die sogar Bild und Ton des Brandherds liefern. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, hinterfragen den Status quo nur selten. Wer hat schon was zu verbergen? Und es wird doch sowieso nur dann ausgewertet, was auf ein Verbrechen hindeutet! Die Kriminalitätsstatistik gibt – wenig überraschend – allen Befürwortern recht: Nie in seiner Geschichte war Deutschland ein sichererer Ort.

Totale Überwachung? Precrime-Technologie? Keine Sorge: Auch wenn es den Anschein hat, ist Solveig Engels Science Fiction-Debüt kein zweiter „Minority Report“ oder ein neues „Drohnenland“ – aber eine interessante Mischung aus beidem. Vor allem wählt sie andere Hauptfiguren als Philip K. Dick und Tom Hillenbrand. Im Mittelpunkt ihrer Geschichte steht daher nicht die Exekutive. Es sind nicht die Polizeibeamten, die auf Anraten allwissender Mutanten oder IT-Systeme ermitteln oder in die Fänge des Systems geraten. Stattdessen erzählt die promovierte Physikerin die Geschichte aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven: die des charismatischen Erfinders, die des ahnungslosen Opfers und die des skrupellosen Geschäftsmanns.

Dr. Micah Marow ist all das, was manch ein realer IT-CEO gern wäre: ein Informatik-Genie, ein charismatischer Weltverbesserer, ein liebevoller Utopist. Aus dem ehemaligen schüchternen Studenten ist ein Multimillionär und Miteigentümer einer der mächtigsten Firmen des Landes geworden. Micah hat seit seinem Studium einen Traum verfolgt: den perfekten, vorurteilsfreien Code zu programmieren. Bei einer Talkshow begegnet er der Journalistin Lotta Schwarz, die ihn gehörig verwirrt. Sie behauptet, Cyb, der allmächtige Algorithmus, mache Fehler. Und eines der Opfer sei ihr Kollege Ravi Korrapati.

Ravi, investigativer Journalist, ist die zweite zentrale Figur in „System Error“. Cyb hat ihn zum ersten Fall auserkoren. Die Daten zeigen, dass er pädophil und rechtsextrem sein soll. Gerade noch rechtzeitig hat die Polizei ihn verhaftet, bevor er eine Bombe vor der Ausländerbehörde zünden konnte. Alle Beweise sprechen gegen ihn. Ist er schuldig oder unschuldig? Hat Cyb einen Fehler gemacht – oder wurde die KI ausgetrickst?

Während Micah mit Lotta im Hier und Jetzt den alten Fall neu aufrollt, erleben wir Ravis Geschichte als Rückblende. Es ist nicht der einzige Rückblick in die Vergangenheit. Denn da ist auch noch Kyle Kerner, der zweite Miteigentümer von Cyb-Systems. Während sich Micah um den Code kümmert, ist Kyle für die Finanzen zuständig. Und er weiß: Jedes Start-Up braucht einen finanzstarken Investor. Um von diesem so viel Geld wie möglich zu bekommen und dafür gleichzeitig nur wenige Firmenanteile abzugeben, überschreitet er mehr als eine Grenze.

Durch die unterschiedlichen Zeitebenen legt Solveig Engel nach und nach offen, wie Micah, Ravi und Kyle schicksalshaft miteinander verbunden sind. Sie gibt uns auch einen Einblick in die Programmierung und die Möglichkeiten einer KI. Nach der Lektüre ist klar: Den perfekten Code gibt es noch nicht, die vorurteilsfreie KI leider auch nicht, Manipulationen sind nicht unmöglich. „System Error“ mag Engels SF-Debüt sein, ihr erster Wissenschaftsthriller ist es nicht. Bereits in „Neondunkel. Jeder bekommt, was er verdient hat“ (epubli, 2018) hat sie hinter die Fassade des Wissenschaftsbetriebs geblickt. Und so wird man das Gefühl nicht los, dass „System Error“ gut recherchierte Einsichten in den – anscheinend doch nicht klischeefreien – Informatikbetrieb gibt. Am Ende bleibt dieses beklemmende Gefühl, dass der Roman weit aus mehr ist, als ein weiterer über Algorithmen, KI und die Macht der Daten, sondern ein Blick in eine gar nicht so ferne Zukunft.

Übrigens: „System Error“ ist nicht nur ein spannender SF-Roman, sondern auch einer über unsere Gesellschaft, über Macht, Machthunger, Meinungsmache – und die Menschen dahinter.

Solveig Engel: System Error • Wilhelm Heyne Verlag, München, 2022 • 384 Seiten • Erhältlich als Paperback und ebook • Preis des Paperbacks 15,00 € • im Shop 

[bookpreview] 978-3-453-32191-5

 

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