1. Dezember 2022 2 Likes

„Medusa“: Neondurchtränkter Female-Empowerment-Trip aus Brasilien

Jesus liebt Dich … nicht wirklich

Lesezeit: 3 min.

Ein Beginn in bester Horrorfilmmanier: Es ist Nacht und die Straße nur mäßig beleuchtet. Eine junge Frau geht einsam ihren Weg. Mit einem Mal tauchen sechs weitere Frauen auf, die weiße, gesichtslose Masken anziehen und ihr folgen. Filme wie „The Strangers“ (2008) oder „The Purge“ (2013) kommen einem unweigerlich in denn Sinn und in der Tat gibt es eine thematische Überschneidung zu letzterem, allerdings biegt die brasilianische Regisseurin Anita da Silveira in eine andere Richtung ab. Jedenfalls fühlt sich die einsame Frau bedroht, läuft schneller, ihre Verfolgerinnen passen sich der Geschwindigkeit an, fangen an, sie zu beschimpfen. Plötzlich rennt die Frau los, doch das tut die geheimnisvolle Gruppe hinter ihr ebenfalls, sie erwischt ihr Opfer, wirft es zu Boden, verprügelt und zwingt es vor mitfilmenden Smartphones zur Selbstanklage und zum Versprechen, fortan nach strengen, christlichen Gesetzen zu leben.

Medusa“ spielt in einer unbestimmten Zukunft, in dem das Land unter großem Einfluss der Kirche steht. Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine Clique junger Frauen, aus gutem Hause, die einer Religionsgemeinschaft angehört und ihre nächtlichen, anonymen Bekehrungsstreifzüge erfolgreich auf Social Media auswertet. Tagsüber beschäftigen sie sich mit ihrem Aussehen, denn gutes Aussehen ist in dieser patriarchalischen Welt alles, und singen als zuckerwattiger Girlie-Chor im 60er-Jahre-Stil Loblieder auf Jesus zwischen den Worten des attraktiven Predigers, der von allen angehimmelt wird.

Mariana ist Teil dieser Gruppe, fängt aber, als sie bei einem Überfall verletzt und wegen einer zurückbleibenden Narbe im Gesichts ausgegrenzt wird, allmählich an, ihre Überzeugungen zu überdenken und nimmt eine neue Stelle in einer psychiatrischen Klinik an, die sie mit einer ganz anderen Welt, als der ihr bisher bekannten Schickimicki-Blase konfrontiert. In dieser Klinik werden die abgestellt, die nicht in die normierte Gesellschaft passen. Hier soll auch Melissa liegen, die einst als sexuell aktivstes Mitglied der Gemeinde galt und dafür zur Strafe von einer Frau mit einer weißen Maske das Gesicht angezündet bekam. Durch das – so wird behauptet – reinigende Feuer wurde Melissa zu einer Art Heiligen und die Geschichte zum Gründungsmythos der fundamentalistischen Prügelladies …

„Medusa“ zeichnet zwar ein satirisch leicht überspitzes Bild einer möglichen Zukunft, liegt aber leider so nahe am Puls der Zeit, dass man dem Film fast schon vorwerfen muss, lediglich die Realität abzubilden. Das betrifft nicht nur die religiöse Radikalisierung, die in Herkunftsland Brasilien und in den USA ein großes Thema ist, sondern im Kern eine allgemeine Verengung der Weltwahrnehmung, die sich auch auf vielen anderen Gebieten findet. Wenn die Frauen versuchen ihre Opfer mit Gewalt zu „sozialisieren“, ihnen ihren, natürlich einzig richtige, Lebensentwurf zu oktroyieren und sich dafür im Internet feiern lassen, über die vielen, vielen Likes jubelieren, fühlt man sich an die vorherrschende gesellschaftliche, daueraggressive, von Internet und Einschaltquoten angetriebene Diskurslosigkeit erinnert. Sei es jetzt auf – aktuell ja ein glühend heiß loderndes Höllenloch – Twitter oder beim allabendlichen Gekläffe in den Talkshows oder wo auch immer, es versucht ja ständig irgendjemand den anderen auf Linie zu bringen und erhofft sich für seine Bemühungen Pluspunkte. In „Medusa“ gibt’s halt nicht nur verbale Schellen, sondern tatsächlich aufs Maul.

Leider aber ist das nur ein Aspekt ganz am Rande. Es ist schade, dass der Film vom Anita Rocha da Silveira nicht noch deutlich mehr auf die Relation zwischen Religion, Internet und Radikalisierung eingeht, denn die feministische Agenda, die im Mittelpunkt steht, ist ehrenswert und wird dem Film viel Lob bringen, aber die Erkenntnis, dass Schönheit lange nicht alles ist und Frauen feministische Ansprüche nicht nur gegenüber Männern, sondern auch gegenüber Frauen durchsetzen sollten, sich neu definieren müssen, ist wichtig, aber nicht gerade bahnbrechend. Ein gut gespielter, ganz unterhaltsamer, visuell zwischen Dario Argento und Nicolas Winding Refn oszillierender, also wirklich schön anzuschauender Film, ist das allemal, nur würde man sich nach üppigen128 Minuten wünschen, dass nicht nur die Protagonistin um eine Erleuchtung reicher ist.

Medusa (Brasilien 2021) • Regie: Anita Rocha da Silveira • Darsteller: Mari Oliveira, Bruna Linzmeyer, Thiago Fragoso, Lara Tremouroux, Bruno G., Joana Madeiros, Arthur Santileone • ab 1. Dezember 2022 im Kino

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