Sabine Hossenfelder: „Mehr als nur Atome“

Es sagt schon viel über die Qualität eines Sachbuches (oder besser über dessen Autorin) aus, wenn es unmittelbar nach Erscheinen auf der Spiegel-Bestsellerliste landet und nichts mit Finanzen, Kulinarik oder der Suche nach „dem“ Glück zu tun hat. So geschehen jüngst mal wieder im Falle der Physikerin Sabine Hossenfelder, die bereits zuvor u.a. mit ihrem bestechend kritischen Buch Das hässliche Universum. Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt oder ihrem eigenen YouTube-Kanal daran arbeitete, ihren LeserInnen Potenziale wie Grenzen physikalischer Welterklärung besonders anschaulich näherzubringen.

Hossenfelders neuestes Werk Mehr als nur Atome (im Shop) lädt nun vor allem dazu ein, sich einigen der größten Fragen der Menschheit zu widmen. Dabei achtet die Autorin darauf, LeserInnen nicht mit falschen Erwartungen zu ködern, sondern Wissenschaft stets streng beispielsweise von religiös-spirituellen Erzählungen oder auch falschen Annahmen innerhalb ihrer eigenen Profession abzugrenzen.

Auf rund 270 Seiten erfahren wir etwa, was dran ist an Vorstellungen wie der Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens, des Wissens und des freien Willens, ob es möglich sein könnte, selbst ein ganzes Universum zu erschaffen, ob menschliches Bewusstsein berechenbar sein könnte oder die Frage nach dem temporalen Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart (auch mit Blick auf den Alterungsprozess oder gar die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod).

Neben den Kapiteln, in denen Hossenfelder sehr unterhalt- bis einfühlsam, wenn auch nur mit wachem Geist bis ins letzte Detail verständlich all diesen Komplexen mithilfe der Grundlagen der Physik nachgeht und sich kritisch mit so manchen allzu wissenschaftsfernen Auswüchsen im Umgang mit existenziellen Fragen auseinandersetzt, kommen auch KollegInnen wie David Deutsch oder Zeeya Merali ausführlich zu Wort. Die Interviews lockern den Aufbau des Buchs zusätzlich auf, schließlich wird in diesen Passagen der wissenschaftliche Austausch unterschiedlicher Ansichten und Folgerungen mustergültig vorgeführt und somit genau mitreflektiert, wie wissenschaftliche Diskussionskultur interessante Perspektiven schafft.

Besonders hervorzuheben ist neben Hossenfelders Klarheit über die Ziele ihrer Darstellung insbesondere ihr damit verbundenes Verständnis für abweichende Meinungen. Wer, so Hossenfelder, an bestimmte Vorstellungen wie multiple Welten oder eine Art Matrix glauben will, kann dies ruhig beibehalten – es hat allerdings nur wenig mit Wissenschaftlichkeit zu tun und muss auch so behandelt werden. Gleichzeitig gesteht die Autorin aber ebenso ein, dass es Bereiche gibt, die zwar auf den ersten Blick aus dem heutigen Forschungsstand heraus unrealistisch klingen, jedoch – bei strenger Einhaltung physikalischen Denkens – nicht unbedingt unmöglich sind bzw. bleiben müssen (man denke hier etwa an die bereits zitierte Kreation eines eigenen Universums).

Als weitere Qualität dieses ordentlich illustrierten und mit einem sehr hilfreichen Glossar ausgestatteten Werks sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Hossenfelder Laien mehrere Brücken baut, ihren spannenden Ausführungen ein jeweiliges Fazit abzugewinnen. Jedem Kapitel ist eine Art Resümee beigefügt, welches in knapper Form Bilanz zieht und LeserInnen in jedem Fall mit dem Gefühl entlässt, eine Erkenntnis oder zumindest einen Anstoß erhalten zu haben. Überraschende Zusammenhänge sind auf diesem Weg ebenso garantiert wie griffige Erklärungen dafür, warum Naturwissenschaften wie die Physik und Mathematik nach wie vor gerade für die großen Fragen der Menschheit auch außerhalb konkreter technischer Innovationen so bedeutsam und intellektuell stimulierend sind.

Wer sich auf Mehr als nur Atome einlässt, bekommt (und das ist mit Blick auf viele sehr simple Erklärungsbücher ein nie zu unterschätzender Glücksfall) kein billiges Angeberfutter für die nächste Party, sondern einen vielfältigen, jederzeit (selbst-)kritischen und nie aufgeblasenen Einblick in unsere sicher unaufhörliche Suche nach Weltverständnis. Daran, dass dieser Wissensdurst hoffentlich nicht vergeht, hat eine großartige Vermittlerin wie Sabine Hossenfelder dankenswerterweise ihren Anteil.

Sabine Hossenfelder: Mehr als nur Atome • Sachbuch • Aus dem Englischen von Monika Niehaus-Osterloh, Bernd Schuh • Siedler, München 2023 • Erhältlich als Hardcover und eBook • Preis des Hardcovers: € 26,00 • im Shop