21. Juli 2019 2 Likes

Wie aus Alice B. Sheldon „James Tiptree jr.“ wurde

Hans Frey beleuchtet eine der erstaunlichsten Autorinnen der Science-Fiction

Lesezeit: 3 min.

Es klingt wie ein Marketingcoup: Im Jahr 1976 kommt durch puren Zufall ans Tageslicht, dass sich hinter dem ebenso angesehenen wie öffentlichkeitsscheuen SF-Autor James Tiptree jr. eine Frau verbirgt. Die promovierte Psychologin Alice B. Sheldon hatte das Pseudonym seit 1968 verwendet, um ihre außergewöhnlichen Erzählungen veröffentlichen zu können – woran sich glücklicherweise auch nachfolgend wenig ändern sollte. Nun hat Hans Frey eine exzellente Monographie zu James Tiptree jr. vorgelegt, die Person wie Werk gleichermaßen würdigt. Das Buch kommt zur rechten Zeit, konnte doch der Septime Verlag sein weltweit einmaliges Unterfangen, der mehrfach preisgekrönten Autorin eine immerhin zehnbändige Werkausgabe zu widmen, im vergangenen Jahr abschließen.

Frey – der in der Reihe SF Personality bereits maßgebliche Werke zu Alfred Bester und J.G. Ballard vorgelegt hat – nähert sich Sheldon von mehreren Seiten. Er umreißt zunächst auf Basis der (ebenfalls bei Septime vorliegenden) Biographie von Julie Phillips das Leben der 1913 geborenen Alice Hastings Bradley, die sich mit einer spontanen Hochzeit aus der Welt ihrer überbehüteten Kindheit befreit, Affären hat, eine Abtreibung übersteht, zur U.S. Army geht und schließlich bei der Bildaufklärung im Pentagon landet. Dort heiratet sie ihren Vorgesetzten und wird zu Mrs. Sheldon, die – nachdem das wunderliche Intermezzo einer Kükenfarm nicht ohne Verlust überstanden ist – mit ihrem Mann zur CIA geht. Der bleibt dort siebzehn Jahre, sie hingegen nur drei. Nachdem eine Ehekrise überwunden werden konnte, nimmt sie ihr Studium der Psychologie wieder auf, an dessen Ende eine Doktorarbeit steht, um dann 1967 nochmals einen Kurswechsel zu vollziehen und als „James Tiptree jr.“ Science-Fiction zu veröffentlichen. Geschützt von ihrem Pseudonym, findet Sheldon hier endlich einen Raum, in dem sie sich verwirklichen kann und zudem noch Anerkennung von außen erhält. Die Aufdeckung ihrer Identität führt zwar zu einer Schaffenspause, aber nicht zum Abbruch ihrer Laufbahn. Diese endet erst 1987, als sie und ihr schwer erkrankter Ehemann den Freitod wählen; ein selbstbestimmter und daher durchaus passender Abschluss eines ungewöhnlichen Lebens.

Doch das biografische Gerüst ist nur die Basis, auf der Frey ein sorgfältig austariertes Psychogramm zeichnet, auch wenn es nicht ganz frei von Spekulation bleiben kann. Für ihn ist die psychisch instabile Sheldon „eine Ausnahmefrau mit einer verblüffend reichhaltigen Palette an großartigen, aber auch erschreckenden Eigenschaften, Fähigkeiten und Talenten. Diese warfen sie nieder, erhoben sie jedoch gleichzeitig.“ Hierbei war ihr die Zweitidentität als James Tiptree jr. offenbar eine große Hilfe. So konnte sie, die große Probleme mit gesellschaftlichen Konventionen hatte, andererseits aber auch nicht zur Provokation neigte, eine Entwicklung abseits der Rollenklischees ihrer Zeit vollziehen. Die lebenslang gelesene SF diente dabei als eine Art Resonanzboden, der quasi alles auffing, was in Alice Sheldon angelegt war. Dies betrifft insbesondere ihr Interesse am Neuen und Fremden, dem Kern ihres Werks, aber auch ihren Umgang mit Sexualität und Emanzipation – jener Aspekt, unter dem sie derzeit am meisten gewürdigt wird und wo sie mit ihrem spezifischen Blick und ihrer einfühlsamen Schreibweise Maßgebliches geleistet hat.

Frey bespricht dann kenntnisreich alle von Sheldons Erzählungen sowie ihre beiden Romane „Up the Walls of the World“ (1978, dt. „Die Feuerschneise“ bzw. „Die Mauern der Welt hoch“) sowie „Brightness Falls from the Air“ (1985, dt. „Helligkeit fällt vom Himmel“), geht erfreulicherweise aber auch auf Selbstzeugnisse und Lyrik ein; dadurch entsteht ein erhellendes Kompendium mit hohem Gebrauchswert, das immer wieder herangezogen werden kann. Dies liegt nicht zuletzt daran, weil Frey Vorzüge und Mängel auf Basis nachvollziehbarer Kriterien benennt, was eine vorzügliche Entscheidungshilfe bei der persönlichen Lektüreauswahl abgibt. Allerdings gehören Sheldons preisgekrönte Erzählungen – etwa „The Girl Who Was Plugged In“ (Hugo 1974); „Houston, Houston, Do You Read“ (Nebula 1976, Hugo & Jupiter 1977) und „Love Is the Plan the Plan Is Death“ (Nebula 1973) – ohnehin in den Kanon ambitionierter SF.

Interessant ist noch folgender Punkt: Obwohl Sheldons Arbeit mit ihrer Konzentration auf das Individuum, der gesellschaftskritischen Haltung und den literarischen Anspruch in die Nähe der New Wave gehört, weist Frey sehr richtig darauf hin, dass ihr Schreiben stark von typischen Genreelementen profitiert: Raumschiffe, Außerirdische, interstellare Reisen. Es ging ihr darum, der Science-Fiction inhaltlich wie stilistisch neue Dimensionen zu erschließen; ein komplettes Umkrempeln strebte sie nicht an. Umso überfälliger ist es, Sheldons Werk auf Basis von Freys Monografie neu zu entdecken.

 

Hans Frey: James Tipree jr. Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod • SF-Personality 27 • Memoranda bei Golkonda • 332 S. • € 19,90 E-Book • € 6,99

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