16. Oktober 2020

Science-Fiction, auf links gekrempelt

Dietmar Daths „Niegeschichte“ betrachtet das Genre aus subjektiver Perspektive

Lesezeit: 5 min.

Etwas ungläubig wiegt man den Klotz in der Hand. Dietmar Dath, der mit Neptunation einen Roman von 700 Seiten abgeliefert hat, legt 1.000 Seiten Genregeschichte nach – ein in jeder Hinsicht imponierendes Unterfangen. Und es stammt ja nicht von irgendwem – Dath hat seit 1995 zahlreiche Bücher veröffentlicht, von denen viele der Science-Fiction zuzurechnen sind. Welche Linien zieht jemand, der der literarischen Praxis verhaftet und dazu noch umfassend belesen ist, beim Rückblick auf über hundert Jahre Genregeschichte?

Würde man das Buch auf ein paar Namen zusammenstreichen – was ungerecht wäre, hier aber dennoch unternommen werden soll –, ließen sich Daths Hauptakteure wie folgt zusammenfassen: Mary Shelley als Urahnin, Verne, Wells und Laßwitz für die Vorphase, Gernsback, Campbell und Hamilton für die Gründerjahre, dann Asimov (im Shop), Clarke (im Shop), Heinlein (im Shop) und Jefremow für die Klassik, in der sich grundlegende Elemente – wie „Future History“ und „Worldbuilding“ – herauskristallisierten. Der nächste Schritt gehört dann der „New Wave“, jenem lockeren Verbund progressiver Autoren um Michael Moorcock und Harlan Ellison (im Shop), die sich auf einen Schulterschluss zwischen Genre, Experiment und moderner Literatur konzentrierten. Hier finden sich J. G. Ballard, Samuel R. Delany, Thomas M. Disch und – historisch nicht ganz korrekt, aber inhaltlich passend – Philip K. Dick wieder, denen eigene Unterkapitel gewidmet sind. Dath erkennt richtig, dass die ungeheure Popularität von Star Wars (im Shop) mit den tradierten Handlungsverläufen jedwede literarische Ambition relativiert. Es entspinnt sich ein unübersichtliches Feld, als dessen Hauptkonstanten überraschenderweise die Feministin Joanna Russ – „eine Autorin von außergewöhnlicher intellektueller Redlichkeit“ – und der Hard-SF-Autor Greg Egan (im Shop) – für Dath der wichtigste lebende Science-Fiction-Schaffende überhaupt – ausgemacht werden, flankiert von William Gibson, James Tiptree, Jr., Ted Chiang und Cixin Liu (im Shop). Doch das ist ein nur das Gerüst, an dem Dath zahlreiche Einzelbeobachtungen, Anekdoten und Reflexionen aufhängt.

Natürlich fällt es leicht, diese Auswahl zu kritisieren. Ballard bekommt nur zwei Buchseiten eingeräumt, während sich die Darstellung von Disch auf seine Gedichte beschränkt – und seine sarkastischen Romanmeisterwerke wie Camp Concentration (1968) und 334 (1972; dt. Angoulême) außen vor bleiben. Delany wird anhand von Dhalgren (1975) vorgestellt, aber so kryptisch, dass man außer Achselzucken nicht viel mitnimmt. Andere Autoren trifft es noch härter: John Brunner erfährt nur beiläufig Beachtung, weshalb seine großen Dystopien Stand on Zanzibar (1968; dt. Morgenwelt, im Shop) und The Sheep Look Up (1972; dt. Schafe blicken auf, im Shop) nicht vorkommen, zu Iain M. Banks (im Shop) – gewiss einem Geistesverwandten Daths – heißt es lapidar: „turmhoch herausragend“, doch eine Erläuterung bleibt aus. Ähnlich wird A. E. van Vogt (im Shop) erwähnt, der aber auch bloß ein Name bleibt, obwohl er etwa für P. K. Dick von großer Bedeutung war.

Stellen wie diese verdeutlichen eins: Die Niegeschichte mag sich mit Science-Fiction auseinandersetzen, sie ist aber mehr als das. Als radikal subjektives Werk, das zu keinerlei Ausgewogenheit verpflichtet ist, handelt das Buch auch von seinem Autor, der als schreibendes Ich ständig präsent ist. Etwa, indem er sein eigenes Verhältnis zur Science-Fistion aufzeigt – ein frühes Erlebnis war die Entdeckung der Ellison-Erzählung „Jeffty ist fünf“ (im Shop) – oder eine Diskussionsrunde mit Freunden nachzeichnet. Hier findet sich natürlich auch der Prosaautor von Neptunation und anderen Büchern wieder. Und Dath ist ebenfalls ganz bei sich, wenn es um das dritte große Thema des Buchs geht, die marxistische Ästhetik, zu der er sich ausdrücklich bekennt. Dies wird für Gleichgesinnte eine gute Nachricht sein, alle anderen können den detailfreudigen Ausführungen immerhin Anregungen entnehmen – sofern diese aufgrund exzessiven Fremdwortgebrauchs, hinter dem sich Dath grundsätzlich gern versteckt, verständlich sind. Alternativ ist es natürlich weiterhin möglich, literarische Werke an sich zu betrachten und aus ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus zu erschließen.

Dath hat sein Buch mit „Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine“ untertitelt: „Man kann Science Fiction erstens als Kunst genießen, und man kann zweitens Dinge und Verhältnisse denken, die ohne sie ungedacht bleiben müssten.“ Ihn interessiert eindeutig der zweite Aspekt. SF ist für Dath ein Ideenkatapult, das zahlreiche faszinierende Einfälle mit hoher Geschwindigkeit in den Raum schleudert. Der ästhetische Aspekt wird dagegen tendenziell nachrangig, was vielleicht erklärt, warum ausgerechnet Cordwainer Smith (im Shop), einer der größten Stilisten des Genres, in dem Buch nur am Rande erwähnt wird und Ray Bradbury zwar vorkommt, aber nicht mit seinem träumerischen Hauptwerk The Martian Chronicles (1950; dt. Die Mars-Chroniken). Ein widerborstiger Exzentriker wie R. A. Lafferty, der sich mit marxistischem Instrumentarium kaum eingemeinden ließe, fällt bei Dath sicherheitshalber ganz unter den Tisch.

Trotz aller Kritik ist die Niegeschichte – die Historie von Geschichten, die nie Geschehenes erzählen – bemerkenswert. Was das Buch grundsätzlich unternimmt, ist eine Verortung des Genres im kulturellen Kanon des 20. und 21. Jahrhunderts. Hier hebt Dath den Blick deutlich über den Tellerrand, wenn er etwa auf die spielerischen Strategien der französischen Autorengruppe Oulipo verweist, die Rolle von W. S. Burroughs erwähnt oder Figuren wie Joseph Beuys, die surrealistische Filmemacherin Maya Deren oder den Lyriker Paul Valéry einbindet. (Das eng gedruckte Personenregister umfasst zwölf Seiten.) Es gibt keine Science-Fiction-Übersicht, die so stark auf Kunst und Kultur jenseits des Genres zurückgreift wie diese, und allein hierfür darf man Dath dankbar sein. Auf diese Weise transportiert er nicht weniger Ideen als die Bücher, mit denen er sich beschäftigt.

Außerdem unternimmt die Niegeschichte den Versuch, die wenig katalogisierten Bestände der Science-Fiction nach Gibsons Klassiker Neuromancer (1984) durchzusortieren. Ob die hierbei geäußerten Prioritäten Bestand haben, muss sich erst noch erweisen, aber das Vorhaben ist gleichermaßen wichtig wie überfällig. Schlussendlich hat die betonte Subjektivität, die das Buch an den Tag legt, auch den Vorzug, dass man den Band trotz seines Umfangs als unabgeschlossen betrachten kann; als ein „Work in Progress“, bei dem die blinden Flecken wie bei einem Blog möglicherweise eines Tages aufgefüllt werden. Ob es dazu kommt, muss zwar offen bleiben – aber die Perspektive allein ist bereits reizvoll.

Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine • Sachbuch • Matthes & Seitz • 942 S. • € 38,00 • E-Book • € 25,99

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