„Die wichtigste Nachricht“
Eine Geschichte von Dmitry Glukhovsky über die Macht – und die Absurdität – der Propaganda in Russland
Wie funktioniert die russische Propaganda eigentlich? Wie kann es sein, dass ihr so viele Menschen scheinbar erliegen? Um diese Fragen kreist nicht nur der aktuelle Roman Outpost – Der Aufbruch (im Shop) von Dmitry Glukhovsky: Während sich in Outpost die Propaganda wie eine Seuche unter den Menschen ausbreitet, findet er in seiner Story „Die wichtigste Nachricht“ (aus Geschichten aus der Heimat, im Shop) eine deutlich banalere Erklärung: Wer sich die Sendezeit mit dem russischen Präsidenten teilen will, muss einiges dafür aufbieten. Ob die Landung eines Raumschiffes in der Moskauer Innenstadt dafür ausreicht?
*
Die wichtigste Nachricht
Dann schon lieber Galeerensklave, dachte Sascha.
Der saure, alkoholschwangere Atem des Kameramanns und des Tonassistenten hatten die Fensterscheiben des klappernden Lada anlaufen lassen. Hätte man sie mit dem Ärmel freigerieben, wäre draußen der gelähmte, mit qualmenden Fahrzeugen zugestopft e Dritte Verkehrsring zu sehen gewesen, dazu die im Smog versinkenden Betonschleifen der Aus- und Auffahrten und – irgendwo in weiter Ferne – die Türme von Moskau City, deren Spitzen in den Wolken steckten.
Sascha aber stellte sich vor, er sei wieder acht Jahre alt, die Winterferien seien angebrochen und er fahre im Zug zur Großmutter ins winzige Dorf bei Scharja im Kostroma-Gebiet. Und dass jenseits des vernebelten Fensters nicht irgendein verfluchter Dreier-Schiguli ihm den Weg versperrte, nicht Abertausende von Blechkarossen aneinandergepappt waren, sondern sich der Blick öffnete auf eine verschneite Bahnstation zwischen ausladenden Tannenbäumen. Und dass der Zug sogleich anführe und die überzuckerten, schmucken Tannen erst allmählich und dann immer schneller in der Ferne verschwänden und dann die Zugbegleiterin vorbeikäme mit dem Tee in diesen typischen Gläsern mit den Metallhaltern und den länglichen Zuckerpäckchen, auf denen genau so ein Zug aufgemalt wäre, und darin säße ebenfalls ein Junge vor einem angelaufenen Fenster, das er sogleich freireiben würde, um erneut auf verschneite Tannen zu blicken und Tee zu trinken mit exakt denselben Zuckerpäckchen und immer so weiter und weiter …
Das Mobiltelefon klingelte.
Als Sascha die Nummer erkannte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Er holte tief Luft und ging ran.
»Was soll der Scheiß?«, jaulte der Chefredakteur im Hörer.
»Wir stecken im Stau«, stotterte Sascha. »Nichts geht vorwärts.«
»Und das hast du nicht schon vorher gewusst? Ihr hättet halt früher losfahren müssen! Da vertraut man dir einmal im Leben eine Liveschalte von einem Top-Event an! Der Stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Unterausschusses für Kommunalwirtschaft gibt eine Pressekonferenz zur Reinigung der Straßen von gefallenem Laub! Und was machst du? Ich schwöre dir, wenn du nicht in fünfzehn Minuten in der Duma bist, bist du tot! Dann kannst du den Zuschauern bis an dein Lebensende was von irgendwelchen Staus erzählen! Und zwar ehrenamtlich, denn Geld siehst du für deine Arbeit nie wieder, kapiert?!«
»Aber …«
»Wenn du jetzt noch rumdiskutieren willst, kannst du gleich in dein Jaroslawl zurückfahren! Und die Reportage über die neugeborenen Eichhörnchenbabys bleibt dann der Höhepunkt deiner Karriere, hast du verstanden? In einer Viertelstunde bist du mit aufgebautem Ü-Wagen in Position und hängst am Satelliten, ist das klar?!«
»Ja, ist klar.«
Die Galeerensklaven damals hatten weniger Stress, dachte Sascha. Vor allem machten die sich keine Illusionen, irgendwann mal die Flucht zu ergreifen oder Aufseher zu werden oder sogar freie Bürger, denn die Zukunft war ihnen klar vorgezeichnet. Er dagegen …
Seit zwei Jahren arbeitete Sascha im Nachrichtenressort des Wichtigsten Kanals als Praktikant. Seine große Hoffnung war, dass ihm sein Arbeitgeber irgendwann mal ein menschenwürdiges Gehalt zahlen würde, ihn über echte Ereignisse berichten ließ, ja vielleicht sogar auf Dienstreise schickte. Und irgendwann würde er dann auch mal ein tolles Feature einreichen oder exklusives Material auftreiben oder eine tadellose Liveschalte vom Ort einer Flugzeugkatastrophe hinlegen, und dann würde man endlich auf ihn aufmerksam werden. Und ihn zum Sonderkorrespondenten machen. Und dann ins Ausland schicken, Studio Paris … oder New York! Und wenn er dann als gestandener Profi nach Moskau zurückkam, würde man ihn die Abendnachrichten moderieren lassen. Und ihm irgendwann sogar eine eigene politische Sendung geben! Natürlich, ohne echtes Exklusivmaterial, ohne diese eine Reportage, die das ganze Land und alle TV-Götter zu sehen bekamen, konnte es noch zwanzig, dreißig, vielleicht sogar vierzig Jahre dauern, bis es so weit war. Es sei denn, es geschah ein Wunder …
Sascha kniff die Augen fest zusammen und wünschte sich von ganzem Herzen ein Wunder herbei.
Das Telefon klingelte erneut.
Sascha erkannte die Nummer wieder und schluckte. Vielleicht besser nicht rangehen ? Nein, denn dann sah er sich schon auf dem Weg zurück nach Jaroslawl, zu den Eichhörnchen.
»Wo bist du?«, brüllte ihn der Chefredakteur an.
»Immer noch im Stau … erst hundert Meter weiter«, log Sascha.
»Entweder stehst du in zehn Minuten mit aufgeklappter Antenne vor der Duma, oder du kannst dir gleich dein Ticket nach Jaroslawl kaufen!«
Der Chefredakteur legte mit Schmackes auf.
Schicksalsergeben spähte Sascha aus dem Wagen auf den vollkommen reglosen Verkehr. Die Duma würde er weder in zehn noch in zwanzig Minuten noch in einer Stunde erreichen. Schade, dass Praktikanten beim Wichtigsten Kanal keine Zyankalikapseln zustanden – dies wäre der geeignete Augenblick gewesen, auf eine zu beißen.
Es sollte wohl einfach nicht sein. Er würde nie eine eigene Politiksendung moderieren, den Generalsekretär der Vereinten Nationen in New York interviewen, den Präsidenten auf Auslandsreisen begleiten – oder wenigstens nach Irkutsk zur Sitzung des Staatsrats fliegen. Überhaupt würde er jetzt nie mehr aus Moskau rauskommen, und hier würde er wahrscheinlich in den Kasematten des Wichtigsten Kanals versauern, an irgendeinen vorsintflutlichen PC gekettet und dazu verdonnert, für den Rest seiner Tage auf irgendwelchen Tasten herumzuhacken, ohne jemals wieder das Tageslicht zu sehen … Bis zur Rente. Bis er erblindete. Denn es war ja so: Von den Hunderten frisch geschlüpft er Praktikanten-Schildkrötenbabys, die in diesem Moment um die Wette auf den Ozean des Ruhms zukrochen, die endlosen Weiten der eigenen Karriere fest im Blick, würden nur einige wenige die rettende Brandungszone erreichen. Alle anderen … nun, auf den Schicksalen der anderen ruhte jener berühmte Fernsehturm, der nicht umsonst den Namen Ostankino, »Ort der Überreste«, trug.
-
»Heilige Scheiße!«, rief da auf einmal der Fahrer und stieg auf die Bremse. »Heilige Scheiße!«
Sascha fuhr auf.
»Was ist?«
»Heilige Scheiße!«
Mehr brachte der Fahrer nicht hervor.
»Was denn?«
Hektisch begann Sascha an der quietschenden Kurbel zu drehen, um das Seitenfenster zu öffnen.
»Ja leck mich doch …«, krächzte der Kameramann, der gerade aufwachte.
»Heilige Scheiße!«, stieß jetzt auch der Tonassistent hervor und starrte aus dem Wagen.
»Was ist denn, Herrgott noch mal?!«
Die Kurbel verkantete sich, Sascha stieß die Tür auf und stürzte auf den Asphalt hinaus.
Hier brodelte bereits eine unruhige Menge – niemand saß mehr im Auto. All die feststeckenden Fahrzeuge hatten mit einem Mal bunte Knospen getrieben, ihre Türen nach allen Seiten geöffnet, und Zehntausende Menschen waren zwischen ihnen ausgeschwärmt. Sie alle richteten ihre Blicke nach oben und nahmen etwas mit ihren Mobiltelefonen auf.
»Heilige Scheiße!«, ertönte es von überall aus der Menge.
»O mein Gott!«, flüsterte Sascha.
Direkt über ihm, als hätte jemand ein ganzes Stadtviertel aus dem Boden gerissen und in die Luft gehoben, hing am staubigen Moskauer Himmel, umspielt von hellen Lichtstrahlen – eine fliegende Untertasse! Sie war so völlig anders als alles Irdische und entsprach doch so sehr unseren irdischen Vorstellungen, dass kein Zweifel bestand: Ja, das war eines.
Ein außerirdisches Raumschiff.
Gemächlich und vollkommen geräuschlos sank es immer weiter herab und verdeckte nun schon den halben Himmel. Auf seiner Unterseite flossen Lichtströme hin und her und formten rätselhaft e Zeichen, sogar der unfassbar riesige Rumpf des Objekts selbst schien in seltsamen Wellen zu pulsieren, als wäre seine Form in ständiger Veränderung begriffen. Sogleich wurde offensichtlich, wie unbarmherzig falsch all jene lagen, die UFOs für geheime Entwicklungen der vaterländischen Rüstungsindustrie hielten. Die vaterländische Rüstungsindustrie war von der Entwicklung eines solchen Apparats Hunderttausende Jahre entfernt.
Das Raumschiff kam immer näher. Es schien direkt auf Saschas Kopf, besser gesagt auf dem ganzen Dritten Ring landen zu wollen, wodurch es die jahrelange, fruchtbare Arbeit des Moskauer Oberbürgermeisters und anderer Baulöwen in einem einzigen Augenblick vernichten würde.
Die Menschen ringsum begannen nervös zu tuscheln, waren jedoch nicht bereit, ihre Autos im Stich zu lassen. Die meisten von ihnen schienen den heldenhaften Entschluss gefasst zu haben, bis zum bitteren Ende bei
ihren Fahrzeugen auszuharren.
Sascha starrte wie gebannt auf das UFO. In diesem Moment steckte der Kameramann seinen Kopf aus dem Fenster des Autos und fragte gleichgültig: »Sag mal, soll ich dir was davon aufnehmen?«
Es traf Sascha wie ein Blitz. Da war sie, die Gelegenheit. Seine einmalige Chance. Das Wunder.
Er rannte zu dem Übertragungswagen, einem Kleinbus mit Satellitenantenne, der direkt hinter ihnen im Stau stand, und hämmerte wild gegen die Tür, auf der das Logo des Wichtigsten Kanals prangte: ein großes W in einem elegant geschwungenen Kreis.
»Wir gehen auf Sendung!«, schrie er die verschlafenen Techniker an. »Sofort alles fertig machen für eine Liveschalte! Verbindung zum Satelliten!«
Die Sendetechniker warfen einen Blick aus dem Wagen, bekreuzigten sich und begannen hektisch die Schutzhülle von der Satellitenantenne zu entfernen. Sascha warf einen Blick auf seine Uhr: Bis zu den Abendnachrichten um neun, wenn das ganze Land wie hypnotisiert vor dem Fernseher sitzen würde, waren es fünf Minuten. Er zog sein Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer des Chefredakteurs.
»Bist du schon da?«
Es klang misstrauisch.
»Nein! Beim Sawjolowoer Bahnhof!«, antwortete Sascha, und um weiteren Fragen zuvorzukommen, haspelte er direkt weiter: »Hier landet gerade ein UFO! Ein UFO! Direkt auf dem Dritten Ring!«
»Ehrlich?«, kiekste der Chefredakteur.
»Pfadfinderehrenwort! Ich lasse gerade den Ü-Wagen fertig machen! Bis zu den Neun-Uhr-Nachrichten steht die Schalte! Aufnahmen von einer fliegenden Untertasse! Wir sind die Ersten! Exklusiv!«
»Wenn du meinst …« Die Stimme des Chefredakteurs klang unentschlossen. »Ist das Ding denn auch wirklich echt?«
»Absolut! Ich schwör’s dir, bei meiner Arbeit!«
»Na gut, was soll’s! Wir bringen das!«, rief der Chefredakteur und ordnete sogleich an: »Überleg dir inzwischen, wie du die Story am besten rüberbringst. Mach die Kamera fertig und halte dich bereit, wir schauen einfach, wo wir dich im Ablauf unterbringen …«
Sascha salutierte militärisch und spurtete zu seinem Aufnahmeteam zurück.
Der Kameramann, eigentlich ein Dauersäufer, verlegte inzwischen mit erstaunlichem Geschick die Kabel zwischen seiner Kamera, die auch schon auf einem Stativ befestigt war, und dem Ü-Wagen. Der Tonassistent kramte in seiner Gerätetasche nach einem passenden Mikrofon.
»Eine fliegende Untertasse hängt über dem Sawjolowoer Bahnhof in Moskau in der Luft …«, murmelte Sascha vor sich hin. »Vor wenigen Augenblicken ist in Moskau neben dem Sawjolowoer Bahnhof ein UFO gelandet … Unser Kamerateam vom Wichtigsten Kanal war als Erstes vor Ort … Mein Name ist Alexander Ogurzow, und ich habe soeben … wir haben soeben … vergleichbar mit der Größe eines ganzen Stadtviertels … des Luschniki-Stadions … des Moskauer Kremls … Soeben …«
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In etwa der Höhe eines dreißigstöckigen Hochhauses hielt das außerirdische Raumschiff plötzlich inne. Sein gewaltiger Leib öffnete sich und stieß etwas hervor, das sich am ehesten als leuchtendes, halb durchsichtiges Ei bezeichnen ließ. Das Ei sank in Spiralen herab und wurde schnell immer größer. Eine Minute später landete direkt vor Sascha auf dem heruntergekommenen Asphalt des Dritten Rings eine leuchtende Kapsel mit einer verschwommenen Silhouette darin.
Ein Alien ! O mein Gott …
Der erste dokumentierte Kontakt mit einem Vertreter einer außerirdischen Zivilisation … und das live im Wichtigsten Kanal!
Die Kapsel zerfiel lautlos in zwei Hälft en. Das Geschöpf, das daraus hervortrat, war nicht besonders groß: Sein massiger Kopf mit den riesigen schwarzen, ölig glänzenden Augen saß direkt auf dem schmächtigen Rumpf.
»Heilige Scheiße!«, flüsterte die Menge andächtig.
Der Außerirdische ließ zweifelnd seinen Blick über die zurückweichenden Erdbewohner schweifen. Offenbar suchte er nach Anzeichen intelligenten Lebens.
Todesmutig ging Sascha auf das Wesen zu und hielt das Mikrofon mit dem W in dem elegant geschwungenen Kreis vor sich. Der Kameramann folgte ihm auf dem Fuße und richtete sein Objektiv auf den Außerirdischen.
»Ein Interview, bitte!«, hauchte Sascha.
Der Außerirdische öffnete seinen Mund und stieß ein seltsames Gezwitscher aus, das außerhalb des für den Menschen hörbaren Spektrums begann und auch wieder endete. Dann blickte er Sascha abwartend an. Bis zum Beginn der Nachrichten blieben noch zwei Minuten.
»Herzlich willkommen in Russland!«, sagte Sascha vorsichtig.
Das Wesen neigte den Kopf zur Seite, schien einen Augenblick nachzudenken und begann dann mit menschlicher Stimme zu sprechen.
»Ich grüße Sie !«, kam es klar und deutlich und mit lupenreinem Moskauer Akzent. »Wir kommen in Frieden aus einer benachbarten Galaxie. Die Erde ist der einzige Planet mit intelligentem Leben, den wir mit unseren Raumschiff en erreichen können. Alle zehntausend Jahre besuchen wir euren Planeten und versuchen, mit eurer Zivilisation in Kontakt zu treten. Die künstlich erzeugte Raumkrümmung, dank derer wir diese Entfernung überbrücken können, ist mit gewaltigem Energieaufwand verbunden. Es dauert zehntausend Jahre, um die dafür notwendigen Energiereserven zu akkumulieren.«
»Heilige Scheiße!«, raschelte es in der Menge.
»Bedauerlicherweise«, fuhr das Wesen ungerührt fort, »war die Menschheit bei unserem letzten Besuch noch nicht für die Aufnahme von Beziehungen zwischen unseren Welten bereit, da sie noch nicht das erforderliche Entwicklungsstadium erreicht hatte. Dieses Mal scheinen wir mehr Glück zu haben …«
»Hast du alles drauf?«, zischte Sascha dem Kameramann zu, während er dem Alien weiterhin lächelnd zunickte.
»Ich glaub, irgendwie hat’s die Kassette gefressen«, antwortete der Kameramann.
»Wir wollen Ihnen eine wichtige Botschaft übergeben …«, fuhr der Außerirdische fort.
Sascha beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.
»Ich bin vom Wichtigsten Kanal. Wie wär’s, wenn Sie live zur Bevölkerung Russlands sprechen … praktisch zur ganzen Welt … in ein paar Minuten ? Dann kommt Ihre Botschaft sofort bei allen an!«
»Im Augenblick verwenden wir sämtliche Generatoren unseres Planeten ausschließlich dafür, die künstliche Raumkrümmung für unseren Rückflug aufrechtzuerhalten. Uns bleiben weniger als vierzig Minuten.«
»Schaffen wir!«, sagte Sascha im Brustton der Überzeugung und rief dem Kameramann zu: »Sergej, geh auf Live-Übertragung!«
Der Tonassistent umwickelte Sascha mit den nötigen Kabeln, klemmte ihm einen Kopfhörer ins Ohr und ein Ansteckmikro ans Jackett und hielt dem Alien an einem Galgen ein Mikrofon mit dem W-Logo hin. Der inzwischen vollends nüchterne Kameramann kontrollierte das Signal und zeigte mit dem Daumen nach oben.
»Okay, Satellitenverbindung steht, Studio empfängt unser Signal!«, meldete einer der Techniker aus dem Ü-Wagen in Saschas Ohr.
»Wir wären so weit! Könnt ihr uns sehen?«, fragte Sascha beim Studio nach und behielt dabei den Außerirdischen im Auge, doch dieser wartete geduldig neben ihm, ohne sich zu regen.
»Heilige Scheiße!«, kam es aus dem Studio zurück.
Die übrigen Ausrufe der Begeisterung gingen jedoch bereits in der dramatischen Auftaktmelodie der Abendnachrichten unter.
»Liebe Erdenbürger!«, begann der Außerirdische.
»Schsch …«, fuhr Sascha dazwischen. »Augenblick noch … Wir sind noch nicht dran!«
»Guten Abend zu den Wichtigsten Nachrichten!«, meldete sich die Moderatorin aus Ostankino. »Mein Name ist Jekaterina Alexejewa. Die wichtigste Meldung des Tages …«
Sascha schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus und versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen … Das war es, sein Toulon! Oder sein Waterloo …
»Der Vorsitzende der russischen Regierung ist heute persönlich in Pikaljowo eingetroffen«, fuhr die Moderatorin fort, »um für die angespannte Lage in der Stadt eine Lösung zu finden. Mit einem Bericht aus Pikaljowo unser Korrespondent Andrej Petrow.«
»Tut mir leid, Mann!«, ließ sich das Studio in Saschas Ohr vernehmen. »Der Premier, du verstehst schon … Du kommst jetzt im Ablauf eins weiter hinten. Also, halte dich bereit!«
»… erklärte der Premierminister«, sagte der Korrespondent aus Pikaljowo, hinter den sieben Bergen. »Er traf sich mit Vertretern der Gewerkschaft der Zementwerke. Diese versicherten ihm, die Aktion sei nicht politisch motiviert und richte sich ausschließlich gegen die uneinsichtige Führung der Unternehmen und die leichtfertigen Oligarchen, die …«
»Gleich, gleich.« Sascha zwinkerte dem Alien beruhigend zu. »Der Premier, Sie verstehen schon …«
»… bemerkte der Chef des Ministerkabinetts«, fuhr Petrow fort. »Im Verlauf der Sitzung, bei der einige uneinsichtige Unternehmenseigner persönlich anwesend waren, kam es zu einer spontanen erzieherischen Maßnahme. Hier ein kurzer Ausschnitt …«
»Bringt mir doch mal einen Monitor her«, bat Sascha die Techniker. Offenbar hatte sich in Pikaljowo tatsächlich etwas Außergewöhnliches zugetragen.
Auf dem Bildschirm erschien das entschlossene Gesicht des Premierministers und gleich darauf die blasse Miene eines schuldbewussten Oligarchen.
»Hosen runter, Artjom Borissowitsch«, sagte der Premier kalt und schnalzte mit dem Offiziersgürtel.
»Geht das nicht auch ohne Zuschauer?«, stammelte der Oligarch.
»Ganz im Gegenteil«, fuhr der Premier ungerührt fort. »Das Land muss wissen, wer seine Helden sind.«
»Krass«, kommentierte Sascha wohlwollend.
»Krass«, flüsterte die Menge, die sich rings um den Monitor versammelt hatte, ebenso wohlwollend.
»Au!«, machte der Oligarch. »Au! Au! Au!«
»Nun zu weiteren Nachrichten«, leitete Jekaterina Alexejewa mit charmantem Lächeln über.
Sascha räusperte sich und zwinkerte dem Außerirdischen
aufmunternd zu. Auch dieser gab sich daraufhin so etwas wie einen Ruck.
»Der russische Präsident traf sich heute mit Matrosen der Ostseeflotte. Aus Kronstadt unser Korrespondent Anton Werschbizki.«
»Tut mir leid, Mann«, knackste das Studio in Saschas Ohr. »Der Präsident, du verstehst schon!«
»Der Präsident.« Sascha warf einen Blick auf den Außerirdischen und breitete die Arme aus. »Unser Allerheiligstes …«
Der Außerirdische öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, brachte aber nur ein kurzes, unverständliches Zwitschern heraus.
»… der zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist«, erläuterte Werschbizki derweil. »Die Begegnung fand auf ebenjenem Appellplatz statt, den einst auch Zar Nikolaus II. besuchte. Die Wohnverhältnisse der Matrosen in Kronstadt haben sich seither deutlich verbessert. Und der Präsident versprach heute, weitere Wohnungen für die Familien der Marineoffiziere errichten zu lassen.«
»Die Ostseeflotte war und ist für die russische Staatlichkeit von besonderer Bedeutung«, sagte der Präsident. »Und dies gilt auch in Zukunft , für alle Zeiten. Heute überreichen wir daher die Schlüssel zu ihren neuen Wohnungen an …«
»Schaffen wir das noch?«, fragte der Außerirdische Sascha.
»Natürlich!«, antwortete dieser bestimmt.
»Der Präsident gab persönlich die erste Salve aus dem Hauptgeschütz des Zerstörers Besuderschny auf ein Manöverziel ab, das erfolgreich zerstört wurde. Anschließend kommentierte der Oberbefehlshaber die jüngsten Tests der neuen Bulawa-Rakete mit den Worten …«
»Hör mal«, funkte das Studio dazwischen. »Da ist jetzt noch ein Beitrag mit dem Präsidenten eingeschoben worden, hab noch etwas Geduld, ja? Muss leider sein. Du kommst dann später dran.«
Quer über die Unterseite des Raumschiff s zogen rote Feuerstreifen. Der Außerirdische wurde jetzt sichtlich nervös.
»Noch am selben Nachmittag besuchte der Präsident eine der Petersburger Schulen«, ergänzte Jekaterina Alexejewa lächelnd. »Dort traf er sich mit Erstklässlern, die sich noch am Anfang ihres Weges in die unendliche Welt des Wissens befinden. Der Präsident versprach, alle russischen Schulen zu hundert Prozent mit Schulbüchern auszustatten, und brachte seine Besorgnis angesichts des Fehlens einheitlicher Standards im Fach Geschichte zum Ausdruck. Er erklärte, die Lehrmaterialien der Schulen müssten besonders streng kontrolliert werden, um völlig auszuschließen, dass die Kinder in Kontakt mit Geschichtslehrbüchern kommen, die unter dem Einfluss einer gewissen Ideologie geschrieben wurden. Lehrbücher müssten von unvoreingenommenen Experten erstellt werden, so der Präsident weiter, die ihr Fachgebiet mit großer Professionalität beherrschen. Es müsse verhindert werden, dass Revisionisten die Herzen unserer Kinder erobern. Man dürfe die Heldentaten des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg keinesfalls mit den Verbrechen des Hitler-Regimes gleichsetzen.«
»Genau!«, brach es aus Sascha heraus.
»Genau!«, grollte die Menge zustimmend.
»Genau!«, sprach der Außerirdische automatisch nach, besann sich dann aber und erschrak.
»Die Zeit verrinnt«, sagte er zu Sascha. »Wir schaffen das nicht mehr. Unsere Energiereserven gehen zur Neige. Schon bald müssen wir wieder nach Hause fliegen!«
»Das hier ist jeden Augenblick zu Ende, und dann sind wir ganz sicher dran!« Sascha legte die Handflächen vor der Brust zusammen. »Nur noch ein klein bisschen Geduld!«
»Irgendwie kriegt der Präsident heute aber mehr Sendezeit als der Premier«, sagte der Kameramann nachdenklich.
»Ein wenig einseitig ist das schon«, stimmte jemand aus der Menge schüchtern zu.
»Das richten die sicher gleich«, kommentierte der Tonassistent nickend.
»Es bräuchte schon noch mal was über den Premier«, sagte jemand anders in der Menge. »Irgendwie ist da jetzt eine Lücke …«
Sascha winkte ab.
»Nein, zuerst kommen wir.«
»Ogurzow ! Du bist dran !«, verkündete das Studio aufgeregt. »Soundcheck! Sag was, damit wir dich einpegeln können.«
»Eins, zwei, drei«, stammelte Sascha. »Ein außerplanetares Raumschiff , so groß wie der Kreml, ist heute auf dem Dritten Verkehrsring gelandet … die Außerirdischen versichern, dass … Aber hören wir doch, was … Live im Wichtigsten Kanal … Erstmals.«
»Okay, das reicht!«
Jekaterina Alexejewas Brauen verzogen sich zu einem spitzen Dach.
»Und nun eine erstaunliche Meldung aus Moskau …«
Sascha nickte dem Außerirdischen zu und sagte:
»Also dann, lass mich nicht hängen!«
»Moment … Verzeihung, soeben erhalten wir topaktuelle Bilder von der jüngsten Sitzung der russischen Regierung. Der Chef des Ministerkabinetts hat kurz nach den Ereignissen in Pikaljowo von seinen Untergebenen eine sofortige Reaktion gefordert …«
»Hab ich’s doch gesagt, dass sie das mit einer zusätzlichen Nachricht über den Premier ausgleichen werden!«, rief der Kameramann triumphierend.
»Ja, so ist es schon besser«, seufzte die Menge erleichtert.
Das noch immer über ihnen in der Luft hängende Raumschiff gab plötzlich einen langen, posaunenartigen Ton von sich, von dem sämtliche Fensterscheiben zu klirren begannen und man Gänsehaut bekam.
»Wir können nicht mehr warten«, sagte der Außerirdische niedergeschlagen. »Sonst ist die künstliche Raumkrümmung nicht mehr zu halten. Nur noch fünf Minuten.«
»Wie die Zeit verflogen ist«, sagte der Kameramann nachdenklich.
»Tja, man kann sich einfach nicht losreißen«, pflichtete ihm der Tonassistent bei.
»Wartet!«, flüsterte Sascha dem Alien erregt zu. »Das mussten die jetzt noch bringen, zum Ausgleich … Das verstehen Sie doch?«
Der Außerirdische machte einen Schritt auf seine Transportkapsel zu, doch dann hielt er inne und kehrte mit nervösem Gezwitscher zu Sascha zurück.
»Ihr wisst ja gar nicht, was wir um euretwillen riskieren«, sprach er. »Ich begreift nicht, was hier auf dem Spiel steht … Zehntausend Jahre!«
»Jetzt bringt uns schon endlich!«, flehte Sascha das Studio an. »Die sind doch gleich wieder weg! Sonst geht ihnen die Energie aus!«
»Haben wir mitbekommen«, bekam er zur Antwort. »Aber was sollen wir machen?«
»Damit ist unsere Sendung am Ende«, verkündete Jekaterina Alexejewa plötzlich. »Das waren die Wichtigsten Nachrichten, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Im Anschluss: neue Folgen der beliebten Serie Die Rache der Melkerin, oder das Recht auf Liebe.«
»Sorry, Alter, dein Thema hat einfach nicht mehr in die Sendung gepasst«, meldete sich plötzlich der Chefredakteur in Saschas Ohr. »Es kamen halt lauter wichtige Meldungen dazwischen, das verstehst du doch! Aber vielleicht können deine grünen Männchen ja noch bis zur Mitternachtsausgabe bleiben, was meinst du?«
Sascha war außerstande, ihm zu antworten. Tränenüberströmt sah er der schimmernden Kapsel nach, als diese zu dem intergalaktischen Giganten hinaufflog. Dann setzte sich dieser vollkommen lautlos in Bewegung, schoss mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in die Höhe und verschwand schließlich ganz aus dem bleischweren Moskauer Himmel, nur fort von der sündigen Erde, zurück zu seinem unendlich weit entfernten Heimatstern.
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»Morgen hätte ich einen prima Einsatz für dich«, sagte der Chefredakteur in die Stille hinein und räusperte sich. »Mit dem Premier ins Kugellagerwerk. Wie wär’s?«
»Mit dem Premier? Wirklich?« Sascha wischte sich mit dem Ärmel den Rotz ab und lächelte verzagt. »Das ist ja fantastisch!«
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Diese und weitere Erzählungen finden Sie in: Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat • Erzählungen • Aus dem Russischen von David Drevs, Christiane Pöhlmann und Franziska Zwerg • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • ca. 460 Seiten • Hardcover • 24,– (im Shop)
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