Die Stadt unter der Stadt
Der Moskauer Untergrund ist nicht nur in Dmitry Glukhovskys „Metro 2035“ ein rätselhafter Ort
Sie ist nicht das tiefste, aber sie gilt als die schönste: die Moskauer Untergrundbahn, Schauplatz der Metro-Romane von Dmitry Glukhovsky. Vom Glanz der Stationen, die wegen ihrer reichen Stuckverzierungen, Mosaiken, Glasfenster und ihrer Größe oft als „unterirdische Paläste“ bezeichnet werden, ist in Glukhovskys düsterer Zukunft im Jahr 2035 nur noch wenig übrig geblieben. Nach einem verheerenden Atomschlag leben die Menschen in den U-Bahn-Stationen, jede ein eigenes kleines Königreich. In drei Romanen, Metro 2033 (im Shop), Metro 2034 (im Shop)und dem kürzlich auf Deutsch erschienenen Metro 2035 (im Shop), muss ein junger Metrobewohner namens Artjom sich auf gefährliche Reisen durch die geheimnisvolle Stadt unter der Stadt machen, um das, was von der Menschheit übrig ist, zu retten.
Unter Moskaus Oberfläche liegt tatsächlich eine wahre Stadt, die auch die Metro, ihre Stationen, Wartungstunnel und Geisterbahnhöfe beinhaltet, um die sich zahllose urbane Legenden ranken. Die Linie 5 beispielsweise, die Ringlinie, die Artjom von einem kleinen Metro-Königreich zum anderen bringt, geht angeblich auf Stalin persönlich zurück. Als er den Bau der Metro seinen Stadtplanern besprach, stellte er seine Kaffeetasse auf den Blaupausen ab. Weil die Architekten fürchteten, den Genossen zu verärgern, bauten sie gemäß dem Kaffeerand eine Metrolinie, die bis heute auf den Übersichtsplänen braun eingezeichnet wird. Auf der Ringlinie verkehren Züge sowohl im als auch gegen den Uhrzeigersinn, sodass man schnell (allerdings dank des hohen Fahrgastaufkommens nicht sonderlich komfortabel) von A nach B kommt. Hier fahren auch immer wieder Sonderzüge, wie beispielsweise ein Literaturwagen, in dem auch schon Dmitry Glukhovsky aus Metro 2035 gelesen hat.
Der Zugang zu einem der größten Mysterien des Moskauer Untergrundes befindet sich angeblich innerhalb der Ringlinie, direkt unter dem Kreml: Hier hat die sagenumwobene Metro-2 ihren Anfang, die auch Artjom, Hunter und Melnik mehr als einmal gut zupass kommt. In der realen Welt wird sie neben, über und unter den regulären U-Bahn-Tunneln vermutet und soll von der Sowjetregierung im Kalten Krieg angelegt worden sein, um Regierungs- und Militärgebäude, die Privathäuser der Parteiführung, unterirdische Bunker und den Militärflughafen Wnukowo-2 miteinander zu verbinden. Weder das staatliche Unternehmen, das die Moskauer Metro betreibt, noch offizielle Stellen in der russischen Regierung haben diese Gerüchte bestätigt – aber sie haben sie auch nicht verneint. 1992 veröffentlichte Wladimir Gonik seinen Roman Преисподняя, Inferno, in dem er ein unterirdisches System aus riesigen Bunkern, die durch Tunnel miteinander verbunden sind, beschreibt. Gonik entdeckte in seiner Wohnung eine geheime Tür, die in unterirdische Gewölbe führt, und erkundete zwanzig Jahre lang illegal die Stadt unter der Stadt. Seine Entdeckungen ließ er in seinen Roman einfließen.
Doch was ist dran an den geheimen Tunneln? Tatsache ist, dass man sich in Moskau ab 1958 auf obersten Befehl hin eingrub. Die Sowjets ließen große Bunkeranlagen, komplett mit Krankenhäusern, Schulen, Wohn- und Arbeitsbereichen, errichten, in die man sich im Falle eines Atomkriegs flüchten wollte. Wie groß diese Anlagen sind, ist bis heute nicht bekannt; nur einer der Bunker wurde zum Teil zu einem Museum umgebaut. Die einzelnen Gebäude werden offenbar durch unterirdische Tunnel verbunden, die sowohl mit Autos als auch mit U-Bahn-Zügen befahren werden können. Wie viele solche Tunnel es geben soll, ist bis heute unklar, und offizielle Stellen schweigen sich nach wie vor darüber aus – was die ganze Sache umso interessanter macht.
Angeblich gibt es vier geheime Metro-Linien, die bis heute gewartet werden. Drei davon werden in einem Bericht des US-Verteidigungsministeriums von 1991 erwähnt. Die Linie 1, auch als D-6 bezeichnet, wurde diesem zufolge 1967 in Betrieb genommen und führt vom Kreml unter der Lenin-Bibliothek und den Sperlingsbergen nach Ramenki (neben dem Gelände der Moskauer Universität gelegen), wo sich eine unterirdische Bunkerstadt befindet, die rund 20 000 Menschen versorgen kann. Von dort aus führt die Linie weiter zu den Akademien von FSB und Generalstab, um am Regierungsflughafen Wnukowo-2 zu enden. Die zweite Linie führt vom Kreml aus nach Süden zum Regierungspensionat Bor und weiter zur Kommandozentrale der Luftabwehr – fast 60 Kilometer. Linie drei beginnt wohl ebenfalls am Kreml und läuft dann unter der Lubjanka nach Nordwesten zu einem Kommandobunker. Ob die Linie vier existiert, ist ungewiss; im Haushaltsplan der russischen Regierung von 1997 tauchen Pläne auf, die eine Verbindung zu einem Bunker an der Rubljowskoje Chaussee (neben dem Wohnhaus Boris Jelzins) bis zum Sanatoriums- und Bunkerkomplex in Barwicha zeigen. Angeblich wurde diese Linie nie gebaut, weil man für den Bau auf amerikanische Fördergelder angewiesen war – und den Geldgebern gefielen die Pläne wohl nicht.
Die Beweise für die Existenz zumindest bestimmter Teilabschnitte der Metro-2 finden sich, so die Unterstützer der Metro-2-Theorie, unterirdisch wie an der Oberfläche. Die parallel verlaufende Streckenführung von der Arbatskaja über die Stationen Kiewskaja und Smolenskaja ist angeblich der geheimen U-Bahn geschuldet, die man kurzerhand ins bestehende Netz eingegliedert hatte, um beim Ausbau zu sparen. Die Metro-2 soll auch daran schuld sein, dass der Bahnhof Worobjowy Gory auf einer Brücke errichtet werden musste, weil die geheimen Tunnel dort unter der Moskwa hindurch führen und nicht öffentlich genutzt werden sollten. Immer wieder entdecken Fahrgäste an bestimmten Stationen oder in Tunneln abzweigende Gleise, die die Metro mit ihrem geheimen Gegenstück verbinden. An der Oberfläche finden sich viele abgedeckte Lüftungsschächte, die den Streckenverlauf der Metro-2 markieren sollen. Und die heute veralteten Züge, allesamt mit Sonderausstattung, die die Funktionäre in Sicherheit bringen sollten, müssen regelmäßig gewartet und überholt werden – von ganz normalen Metro-Mitarbeitern, die darüber wohl nicht immer Stillschweigen bewahren.
Seit 1990 versucht die Gruppe um Vadim Mikhailov, die sich „Diggers of the Underground Planet“ nennt, dem Moskauer Untergrund gewissermaßen auf den Grund zu gehen. Mikhailov interessiert sich nicht nur für die geheime Metro, sondern auch für alle anderen unterirdischen Ebenen, die bis ins Mittelalter zurückreichen. Neben der Metro-2 gehört vor allem die verschollene Bibliothek von Iwan dem Schrecklichen zu den Schätzen, die die Digger in den Untergrund locken. Ihre Exkursionen sind allerdings nicht legal, auch wenn sie hin und wieder mit den Behörden zusammenarbeiten. Sie halfen im Oktober 2002 bei der Befreiung der Geiseln im Dubrovka Theater, und ein Jahr später entdeckten sie 250 Kilogramm radioaktiven Materials in beschädigten Behältern direkt unter der Universität, das anschließend von den Behörden abtransportiert wurde. Mikhailovs Ziel ist es, den Untergrund zu einer Touristenattraktion zu machen, aber bisher hat er damit wenig Erfolg, nicht zuletzt, weil die Stadt Moskau die dafür notwendigen finanziellen Mittel nicht aufbringen will. Was sich also im Untergrund neben der Metro-2, ganzen Kolonien illegaler Einwanderer, alten KGB-Horchposten, Bunkern und unterirdischen Flüssen noch befindet, wird noch eine ganze Weile reine Spekulation bleiben. Es sieht jedenfalls so aus, als würde auf Artjom und seine Kollegen aus dem Metro-Universum (im Shop) noch einiges im Dunkeln lauern.
Dmitry Glukhovsky: Metro 2035 • Roman • Aus dem Russischen von M. David Drevs • Wilhelm Heyne Verlag, München 2016 ∙ 784 Seiten ∙ E-Book-Preis: € 11,99 ∙ in unserem Shop
Mehr Informationen rund um die Moskauer Metro finden Sie auf metro.ru. Titelbild: Tunnel an der Station WDNCh © Aleksandr Popov
Kommentare