Hirnforschung, Schöpfungsgeschichte und Schildkrötenterrine
Phantastik-Comic-Neuheiten im August
Marc-Antoine Mathieu führt uns in die Gedankenwelt eines Wachkomapatienten, Julian Voloj und Erez Zadok zeichnen nach, wie übel dem Batman-Miturheber Bill Finger hinter den Verlagskulissen mitgespielt wurde, und die Teenage Mutant Ninja Turtles wurden bis auf den letzte Ronin dezimiert.
Marc-Antoine Mathieu: Deep Me
Der französische Comiczeichner Marc-Antoine Mathieu ist der Architekt und Erneuerer des Comics. Das gilt seit seinen 1990 begonnenen Erzählungen um die Figur Julius Corentin Acquefacques, Mathieus K, dem, wenn man so will, stets ein Element der Semiotik des Comics zum Verhängnis wird und ihn in ein kafkaeskes Szenario befördert. Acquefacques ruht schon seit einigen Jahren, aber das Spiel mit den Bausteinen des Comics ist weiterhin Mathieus Leidenschaft (weswegen sich seine stattdessen etwas plakativer auf Religions- bzw. Medienkritik setzenden Werke „Gott höchstselbst“ und „3 Sekunden“ auch nicht so recht ins Oeuvre fügen). In „Deep Me“ geht es um die Sprache. Es ist eine Erzählung in Dunkelheit, wir befinden uns im Kopf des Wachkomapatienten Adam und finden mit ihm heraus, was ihn in diese Lage versetzt hat. Er kann nichts sehen, nur hören, was um sein Bett herum gesprochen wird. Darum spielt sich der Großteil der Erzählung in schwarzen Panels mit Sprechblasen ab, deren Sprecher sich mithilfe der Fonts voneinander unterscheiden lassen. Das ist kein neues Erzählprinzip – Winsor McCay hat es in „Little Nemo in Slumberland“ bereits vorweggenommen (wie praktisch jede comicmediale erzählästhetische Idee), Uderzo und Goscinny haben es sehr lustig in „Asterix – Die große Überfahrt“ eingesetzt –, neu ist hingegen die epische Radikalität in Verbindung mit dem Zentralmotiv Angst: Angst vor der Verlust der Erinnerung und des Ichs, Angst vor der Unwissenheit, ob dieser Zustand ewig sein wird, Angst vor Schmerzen, weil das Ausmaß seines Bewusstseinszustands und Wahrnehmungsapparats medizinisch unerkannt bleiben, Angst vor der Einsamkeit, schließlich die Angst davor, dass er sich womöglich gar nicht in einem Krankenhaus befindet. Warum vernimmt Adam nach unzähligen Tagen das Knallen von Sektkorken? Mischt sich etwa Gelächter unter die Stimmen? Warum insistiert seine Freundin so unnachgiebig auf die Zugangsdaten zu seinem Bankkonto? Im Plottwist des letzten Drittels lenkt Mathieu die Story ins Gebiet der Science Fiction, was, so viel sei verraten, der Angst nichts an Intensität nimmt, im Gegenteil.
Marc-Antoine Mathieu: Deep Me • Reprodukt, Berlin 2023 • 120 Seiten • Hardcover • € 24,00
Julian Voloj, Erez Zadok: Bill Finger. Der wahre Schöpfer des Dunklen Ritters
Julian Voloj schrieb bereits die Comicbiografie „Joe Shuster – Der Vater der Superhelden“ über den titelgebenden Superman-Miterfinder. Nun folgt mit „Bill Finger – Der wahre Schöpfer des Dunklen Ritters“ der lange unterschlagene Urheber der lukrativsten Marke im DC-Programm. Bill Finger ist, das wissen wir heute, der Mit-Urheber von Batman; er entwickelte den Fledermaus-Look, praktisch alle relevanten Antagonisten, Konzepte und Hintergrundgeschichten und schrieb vom ersten Auftritt bis in die 1960er die wichtigsten Batman-Abenteuer. Aber im Gegensatz zu Zeichner Bob Kane, der sich als das strahlende Gesicht hinter dem Franchise über Jahrzehnte in Szene setzte und ein luxuriöses Leben führte (gleichwohl ihm fast 15 Jahre vom heimlich beschäftigten Ghost Artists Sheldon Moldoff zugespielt wurde), starb Finger 1974 verarmt und allein in seiner kleinen Wohnung in Manhattan.
Der Comic dokumentiert u. a. die Skrupellosigkeiten Kanes, um Fingers Autorenschaft zu bagatellisieren, und es ist den jahrelangen Bemühungen des Finger-Biografen Marc Nobleman zu verdanken, dass Finger seit 2016 in Batman-Publikationen, -Filmen und -Spielen neben Kane kreditiert wird. Fingers Enkelin Athena, von Nobleman ausfindig gemacht und unterstützt, wagte den Prozess gegen den Megakonzern Warner und gewann.
Volojs Comicbiografie zeichnet Noblemans akribische Recherchearbeit nach (was auch für Historiker sehr lehrreich ist) und verknüpft selbige in zwei weiteren Erzählsträngen mit Bill und Athena Fingers Leben. Ein Verbrechensbekämpfer als thematischer Gegenstand schreit förmlich nach Analogien, und so sind manche Sequenzen in Batman-ikonografischem Stil – etwa wenn sich Bob Kane im Pinguin-Look als alleiniger Batman-Schöpfer ausruft – wohl dazu da, Noblemans Gerechtigkeitssinn ästhetisch zu duplizieren. In Zusammenhang mit Bob Kanes Täuschung der Öffentlichkeit und manipulativen Selbstinszenierungen auf Fingers Kosten mildern sie jedoch die angebrachte Empörung. Das erinnert an die hektische Hulu-Dokumentation „Batman & Bill“ (2017), die den Fall Finger mit Nobleman im Mittelpunkt ähnlich aufrollt und Voloj viel Material lieferte. Darin gibt es zwar mehr Informationen, aber kein formales Vertrauen in die Rezipient*innen.
Julian Voloj, Erez Zadok: Bill Finger. Der wahre Schöpfer des Dunklen Ritters • Carlsen, Hamburg 2023 • 136 Seiten • Hardcover • € 24,00
Kevin Eastman, Peter Laird u. a.: Teenage Mutant Ninja Turtles – The Last Ronin
Seth Rogen bringt die Turtles als Animationsfilm in für heutige Sehgewohnheiten vermutlich bereits mutiger Ästhetik wieder in die Kinos und der Splitter Verlag die Comics in die Buchläden. Und man hat, buchstäblich, Großes vor. Der letzte Versuch, die Turtles auf dem deutschsprachigen Markt in Buchform zu lancieren, endete 2016 nach zehn (mit einer Ausnahme) 100seitigen SC-Ausgaben mit einem vorzeitigen Serienabbruch bei Panini. Splitter wird dieses Material wieder verfügbar machen, und noch weitaus mehr: Geplant ist ist die vollständige Übersetzung der US-amerikanischen, zurzeit 15 Bände umfassenden IDW Collection, die den gesamten, 2011 gestarteten und weiterhin fortlaufenden IDW-Run enthält, samt aller Spin-offs, in chronologischer Reihenfolge und in Form 400 Seiten dicker Hardcover-Brocken. Diese Edition beginnt im Dezember und wird im dreimonatlichen Turnus fortgesetzt. Zum Vorglühen lädt aber nun schon „The Last Ronin“, eine parallel zur US-Veröffentlichung erscheinende, also ganz aktuelle und auf ins Turtles-Verse Uneingeweihte zugeschnittene Story, in der der letzte lebende Turtle in einer klapperschlangig postapokalyptischen Welt den Okami gibt, seine gemeuchelten Brüder zu rächen. Grimmig wie Millers erster „Dark Knight“, nur ohne satirische Hochstimmung. Statt der monotonen Begeisterungsskala, die der sich allein durch seine Prominenz fürs Vorwort legitimierende Regisseur Robert Rodriguez abspult, hätte man sich lieber ein paar comic-historische Überlegungen gewünscht, aber es gibt freilich Schlimmeres, als Freude in die Welt zu setzen.
Kevin Eastman, Peter Laird, Esau & Isac Escorza u. a: Teenage Mutant Ninja Turtles – The Last Ronin • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 224 Seiten • Hardcover • € 35,00
Horrorschocker Grusel Gigant #8
Das Gros der Überreste der Kiosk-Comic-Heftchen-Kultur überlebt nur noch mithilfe von Plastikschrott als Kaufanreiz. Und der hausbackene Ton und Aufbau der „Gespenster Geschichten“, immerhin eine der langlebigsten Comicreihen Deutschlands, wäre heute heillos antiquiert. Dass man selbst heute nicht achtlos am Zeitschriftenregal vorbeigehen sollte, dafür sorgt Levin Kurio, One-Man-Show hinter dem Verlag Weissblech Comics, mit der wunderbaren Comic-Reihe „Horrorschocker“, ganz ohne Plastik und Biedermeier-Sound. Davon erschienen bereits 69 Ausgaben (nebst einem gefühlten Dutzend weiterer Reihen und Serien, die in Summe von einer richtig vitalen Pulp-Kultur zeugen). Für Späteinsteiger werden sie von den „Horrorschocker Grusel Giganten“ flankiert, spottbilligen Sammelbänden, die jeweils fünf Hefte umfassen. Die aktuelle Nummer 8 enthält die Ausgaben 36 bis 40. Eine Entdeckungsreise: immer rau und verspielt, nie ganz ernst, aber keinesfalls der nur höhnenden Parodie zugeneigt. Da stünde das Herz fürs Genre im Weg, so viel Ernst muss sein.
Horrorschocker Grusel Gigant #8 • Weissblech Verlag, Stolberg 2023 • 164 Seiten • Softcover • € 14,90
Cozmic #7
Die von René Moreau (ebenfalls Hrsg. des „Exodus“-Magazins) und Comiczeichner Michael Vogt herausgegebene Comicanthologie „Cozmic“ ist bei Ausgabe 7 angelangt. Man entwickelt sich also langsam zur Institution, und das sollte man in diesen Zeiten nicht als Selbstverständlichkeit abnicken. Eine andere Institution, das Independent-Comicmagazin „Jazam“, wurde erst kürzlich eingestellt. Kurz darauf gab der Independent-Verlag Zwerchfell bekannt, dass man keine neuen Bücher mehr veröffentlichen wird. Die Traditionsverlage Reprodukt und Edition Moderne konnten das Schlimmste dank erfolgreicher Crowdfunding-Aktionen noch abwenden. Hirnkost dokumentiert auf seiner Facebook-Seite anhand der täglichen Bestelleingänge, wie prekär das Verlegen mittlerweile geworden ist. Derweil setzt ein Barsortiment seit Monaten zahlreichen kleinen und mittelständischen (nicht nur Comic-)Verlagen mit verschleppten Rechnungszahlungen und gewaltigen Remissionslieferungen, die mitunter die Monatsumsätze übertreffen, heftig zu – schleichende Folgen der rapide gestiegenen Energie-, Druck- und Papierpreise, die Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöst hat, und Perspektiven, die im Branchenjubel, dass der Comicmarkt im Jahr 2022 erneut Rekordergebnisse verzeichnet habe, schnell übersehen werden. Aber nicht nur in Krisenzeiten sind Initiativen wie das „Cozmic“-Magazin unbedingt zu unterstützen; es ist überhaupt das einzige Forum für hiesige Comickünstler*innen, SF-Kurzgeschichten in gedruckter Form unterzubringen – in einem edlen HC-Buch in DIN A4-Überformat. Hier steckt die Liebe auch im Detail. In der neuen Ausgabe sind diesmal Storys von Simone Lejeune, Lauren und Markus Tuppurainen, Frauke Berger, Sascha Dörp, Kaydee Artistry, Jan Hoffmann, Ingo Lohse und Maximilian Meier dabei.
René Moreau, Michael Vogt (Hg.): Cozmic #7 • Atlantis Verlag, Stolberg 2023 • 100 Seiten • Hardcover • € 22,90
Abb. ganz oben aus „Teenage Mutant Ninja Turtles – The Last Ronin“, Splitter
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