31. Oktober 2023 2 Likes

„Pluto“, der größte Roboter auf Erden

Netflix fulminante Adaption von Naoki Urasawas Hommage an „Astro Boy“

Lesezeit: 3 min.

Hörner. Sie sind das Markenzeichen eines Killers. Drapiert an den Köpfen seiner Opfer verdeutlichen sie seinen Triumph. Dabei hat er es nicht nur auf Menschen abgesehen, er macht auch Jagd auf die sieben höchstentwickelten Roboter der Welt – wissenschaftliche Meisterwerke wie Gesicht, Europols Ermittlungsroboter. Ist der Täter wie er oder doch ein Mensch? Alsbald findet sich Gesicht in einem Wettlauf gegen die Zeit wieder, den er eigentlich nicht gewinnen kann.

Wie ehrt man eine Ikone der Mangahistorie? Starzeichner Naoki Urasawa („20th Century Boys“, „Monster“) nahm den offiziellen Geburtstag von Astro Boy im April 2003 zum Anlass, dem ewig junggebliebenen Helden seinen Respekt zu zollen. Basis dafür: die Geschichte „Der größte Roboter auf Erden“. Osamu Tezukas Roboterjunge trifft hier auf den Kampfandroiden Pluto. Es ist ein ungleiches Duell, Zwerg gegen Riese, David gegen Goliath – und ein für Astro Boy äußerst prägendes Ereignis. Urasawa konzentriert sich in seiner Hommage „Pluto“ aber nicht allein auf diesen ungleichen Kampf. Er verpackt sie stattdessen in einen acht Bände umfassenden Science-Fiction-Thriller über Menschen und Roboter, Krieg und Frieden, Liebe und Hass.

Bis „Pluto“ eine Anime-Adaption erhielt, verging jedoch etwas Zeit. 2017 gab es die ersten Meldungen über eine Produktion, seit Oktober 2023 ist diese nun auf Netflix zu sehen – 20 Jahre nachdem das erste Kapitel im Mangamagazin „Big Comic Original“ erschien. Hat sich das Warten gelohnt? Und ob! Die acht Folgen auf Netflix sind für Anime- und Science-Fiction-Fans gleichermaßen ein Fest. CGI-Hintergründe, Animation und kleine Ausschnitte aus dem Manga verschmelzen zu einem opulenten Trickfilmmeisterwerk – passende Musik inbegriffen. Dabei hält sich Regisseur Toshio Kawaguchi fast schon minutiös an die Vorlage. Zwar gibt es – wie bei vielen Verfilmungen – auch hier die eine oder andere Abweichung vom Manga. Diese dürften aber nur denjenigen auffallen, die vor Kurzem noch einmal die hierzulande bei Carlsen erschienenen Comics gelesen haben.

Ob Manga oder Anime, „Pluto“ ist eine actionreiche, mitreißende und faszinierende Parabel auf das, was den Menschen zum Menschen macht – und was ihm vom Roboter unterscheidet. Denn sowohl die Mordserie und Gesichts Ermittlungen als auch der sich andeutende Showdown zwischen Pluto und Astro Boy, der hier Atom heißt, bilden nur den Rahmen für eine geradezu philosophische Betrachtung des Menschseins.

In der Welt der Zukunft verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, sind Roboter wie Gesicht, Atom und dessen Schwester Uran kaum noch von einem „echten“ Lebewesen zu unterscheiden. Gerade die beiden Geschwister verleiten Hominiden wie auch Ihresgleichen zu Fehleinschätzungen. Wann wird der Roboter zum Menschen, wann der Mensch zum Roboter? Für viele liegt der Unterschied in etwas scheinbar zutiefst Menschlichem: Gefühle. Eine Maschine – sei ihre künstliche Intelligenz noch so hoch entwickelt – könne nie wahre Liebe, unendliche Trauer oder abgrundtiefen Hass spüren. Und dennoch können Atom, Uran und die anderen vor Freude oder Kummer weinen.

Im Mittelpunkt der acht Bände beziehungsweise Folgen steht aber auch ein traumatisierendes Ereignis: der 39. Zentralasiatische Krieg, der aus vielerlei Gründen an den realen zweiten Irakkrieg erinnert. Hier macht das Roboter-Septett Erfahrungen, die Menschen vergeblich versuchen zu verdrängen oder zu vergessen. Erinnerungen löschen? Selbst für eine KI gibt es Grenzen. Es sind die Begebenheiten, Entscheidungen und Tragödien von damals, die eine unheilvolle Ereigniskette in Gang setzen, an dessen Ende – wie in Tezukas Original – für einen Roboterjungen nichts mehr so sein wird wie es einst war.

„Pluto“ ist eine gelungene Adaption von Urasawas gleichnamigen Manga. Dichte Atmosphäre, hervorragender Soundtrack und Animationen auf Top-Niveau machen den Anime zu einem Highlight des Jahres. Die Serie setzt dabei nicht nur eigene Akzente, sondern transportiert auch eine Botschaft, die momentan aktueller erscheint denn je: Hass bringt immer nur weiteren Hass hervor. Leider gibt es in der Realität keinen größten Roboter auf Erden, der diesen Kreislauf für kurze Zeit durchbrechen könnte.

Pluto • Japan 2023 • Regie: Toshio Kawaguchi • Seit 26. Oktober auf Netflix

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