„G.O.D.S.“ von Jonathan Hickman & Valerio Schiti
Ein Marvel-Comic zwischen „Dr. Strange“, „Infinity Gauntlet“ und „Sandman“
US-Autor Jonathan Hickman gehört seit Jahren zu den großen Stars der amerikanischen Comic-Szene, der italienische Künstler Valerio Schiti seinerseits zu Marvels vorderen Blockbuster-Zeichnern. Nachdem die beiden in den 2010ern und der Ära Marvel NOW! bereits an „New Avengers“ zusammengearbeitet haben, sieht ihre zweite Strecke als Kreativteam einer Serie gerade ihr Finale. Aber der Reihe nach. Im Sommer 2023 erschienen in diversen Marvel-Serien zunächst mehrere One-Pager als Teaser auf Hickmans und Schitis neues Projekt „G.O.D.S.“, das schließlich im Oktober letzten Jahres startete und jetzt im Juni seine vorerst letzte US-Nummer sieht, bevor im August auch schon das amerikanische „G.O.D.S.“-Tradepaperback rauskommt.
Hickman hat vor einigen Jahren die Welten der Fantastic Four und der Avengers auf den Kopf gestellt, das Marvel-Multiversum mit dem Crossover-Event „Secret Wars“ gar neu gestartet und Miles Morales so in die Marvel-Hauptwelt Erde-616 geholt. Zudem schrieb er eigenständige SF-Comic-Serien wie „East of West“, „Decorum“ und „Black Monday Murders“. Als er vor fünf Jahren (parallel zu seinen Substack-Plänen um ein eigenes SF-Comic-Universum) nach einem Break zu Marvel zurückkehrte, hatte er zwei Story-Bibeln voller Ideen und Plots im Gepäck: Ein ab Herbst 2019 umgesetztes Konzept für den großen Krakoa-Revamp der X-Men als Mutanten-Weltmacht, dessen Epoche dieser Tage ebenfalls zu einem Ende gekommen ist; und eben ein Paper für eine Neubetrachtung der magisch-kosmischen Entitäten des Marvel-Universums. Letztere wurde die Panel-Serie „G.O.D.S.“ mit Valerio Schiti, der davor u. a. „Thor“, „Guardians of the Galaxy“, „Tony Stark: Iron Man“ und Events wie „Empyre“ oder „AXE: Tag der Entscheidung“ (über die Avengers, X-Men und Eternals, daher das AXE) illustriert hat.
Fantastische neue Champions
Obwohl Mister Hickman und Signore Schiti also schon mit allen möglichen Ikonen aus dem Haus der Ideen gearbeitet haben, stehen diese in „G.O.D.S.“ keineswegs im Mittelpunkt. Viel mehr gelingt den beiden Kreativen das Kunststück, auf Anhieb ein paar brandneue Figuren in den Marvel-Kosmos zwischen Magie und Science-Fiction zu integrieren und sofort in den Vordergrund ihres Titels zu rücken. Denn „G.O.D.S.“ dreht sich primär um Wyn, den zaubernden Champion der kosmischen Macht namens The-Powers-That-Be, und Wyns Ex-Frau Aiko, die mit magisch-wissenschaftlichem Interesse und diversen Kollegen The-Natural-Order-of-Things dient. Ihre Abenteuer, ihre Konkurrenz, ihre Kämpfte, ihre Irrungen, ihre Heldentaten, ihre Dramen sind das Herz von „G.O.D.S.“ – obwohl auch Dr. Strange, die Fantastic Four, Black Panther und andere bekannte Marvel-Charaktere mitmischen, aber eben bloß als Nebenfiguren. Die von Hickman wohlüberlegt konzipierte, von Schiti fancy gestaltete Bühne gehört Wyn, Aiko, Wyns tech-versiertem Assistenten Dimitri und Aikos zaubernder Wunderkind-Auserwählten Mia, und wie sie durch eine Welt der übernatürlichen Avatare, Manifestationen, Gefahren navigieren.
Zu Beginn von „G.O.D.S.“ muss in einem extralangen Auftaktkapitel mit vereinten Kräften von Zauberkundigen und Superheroes ein Babylon-Ereignis samt eines bösen Magiers abgewehrt werden. Später werden im Raumanzug Signale aus fremden Welten erforscht, uralte Dämonen konfrontiert und kosmisch-göttliche Marvel-Entitäten wie Oblivion und Living Tribunal getroffen: Ein unberechenbarer, packender, erfrischender Genre-Mix aus Fantasy, Science-Fiction, Urban Fantasy und Marvel-Superhelden-Action – in der interdisziplinarischen Hinsicht eine alte Marvel-Tradition, allerdings tierisch aufgemöbelt.
Die Grundlagen dafür schufen einst Stan Lee, Jack Kirby, Steve Ditko, Marie Severin, Jim Starlin, J. M. DeMatteis, Alan Kupperberg und andere Kreative, die über die Jahre Marvels Verkörperungen kosmischer Konzepte erschaffen haben, darunter auch der endlose Eternity oder der dubiose In-Betweener (zuletzt wurden die kosmisch-konzeptuellen Giganten in „Silver Surfer“ von Dan Slott und Mike Allred so gut und interessant eingesetzt). Ab Ende der 1980er kam dann Neil Gaiman mit seiner „Sandman“-Saga, seinen Ewigen um Sandman, Death, Despair und Destiny, wenngleich drüben im DC-Universum, witzigerweise ebenfalls von alten Jack-Kirby-Stoffen ausgehend.
MCU meets Sandman
In „G.O.D.S.“ nutzt Jonathan Hickman das Beste aus der vorhandenen kosmischen Marvel-Mythologie, der abgefahrenen Welt von Dr. Strange und nicht zuletzt eben dem Spirit von „Sandman“ und „American Gods“. Dabei ist Hickmans Spaß an jeder Figur und jeder Seitem jedem Dialog spürbar. Obendrein erinnert das Ganze an seine historische Wissenschaftler-Geheimbundserie „S.H.I.E.L.D.“ bei Marvel, die Marvel-Comic-Unterhaltung mit wenig Marvel-Stereotypen bot. Mr. Hickman schreibt einmal mehr herausfordernd, jedoch auch cool und faszinierend – „G.O.D.S.“ ist ein Comic, der praktisch auf jeder Seite Jonathan Hickman sagt und dazu abwechselnd Warren Ellis oder Neil Gaiman flüstert. Und Valerio Schiti ist ein Zeichner, der allen Szenen, Unterhaltungen, Konzepten, Situationen, Verkörperungen, Gestalten, Einfällen gewachsen ist, und noch genug Luft hat, um aus Spaß einfach mal die Pilze aus „Super Mario Bros.“ durch eine unendliche Science-Fantasy-Bibliothek latschen zu lassen.
Als Comic-Serie wird „G.O.D.S.“ mit jedem Kapitel – jeder kleinen Story innerhalb der großen Geschichte – noch besser. Dank Hickmans gehaltvoller Erzählweise sammeln sich schnell eine Menge faszinierender Elemente und Aspekte an, zumal Hickman und Shiti mühelos, nahtlos zwischen Science-Fiction und Fantasy switchen können. Und wie bereits erwähnt, funktionieren die neu eingeführten Marvel-Charaktere auf Anhieb. Der charismatische Magier Wyn und die tragische Magie-Wissenschaftlerin Aiko sind wunderbare Figuren, die in „G.O.D.S.“ ebenbürtig zu z. B. Stephen Strange agieren, umgehend sehr gut und auf Augenhöhe mit ihm interagieren, obwohl Strange diesen neuen Charakteren 60 Jahre und allein 2000 Comic-Auftritte voraus hat. Muss man erst mal schaffen.
„G.O.D.S.“ glänzt als eine andersartige, ambitionierte, belohnende, bereichernde Marvel-Serie für Marvel-, Comic- und Genre-Fans, die mehr als Superhelden mögen – die das Schaffen von Jim Starlin, Neil Gaiman, Alan Moore, Grant Morrison und Warren Ellis schätzen, die Fantasy und Science-Fiction gleich schätzen und gerne vermischt sehen, und die von einem polarisierenden Maestro wie Jonathan Hickman, mit dem der Autor dieser Zeilen ehrlich gesagt nicht immer happy war, gedanklich ans Limit gebracht werden wollen.
Begeisternd, aber kein Bestseller
Hickmans und Schitis „G.O.D.S.“ entpuppt sich also als eine der interessantesten Marvel-Serien der letzten Jahre. „Sandman“ glänzt außerdem multimedial und damit mehr denn je, die Marvel-Ecke von Dr. Strange ist jetzt auch alles andere denn unbeliebt im MCU – und doch muss „G.O.D.S.“ Mitte Juni nun mit US-Heftnummer 8 eingestellt werden. Lag es an der extra-langen, aber auch extra-teuren ersten Ausgabe in Übersee? War es Marvel-Fans letztlich zu wenig Marvel? Hätte man den Gaiman-Faktor stärker bewerben müssen? Oder ist „G.O.D.S.“ schlichtweg in der schieren Masse an Veröffentlichungen untergegangen (selbst ich als lebenslanger Marvel-Fanboy und Panini-Redakteur vieler Marvel-Titel dachte erst, es sei ein Crossover-Event)? Sicherlich sind Marvel und Jonathan Hickman auch sehr erfolgsverwöhnt, müssen die Zahlen in Relation zu Hits wie dem X-Men-Relaunch, Hickmans sensationellem Neustart von „Ultimate Spider-Man“ und der angekündigten „Wolverine“-Bestseller-Miniserie von Hickman und Zeichner-Superstar Greg Capullo bestehen können.
Immerhin: Noch ist der Zauber von „G.O.D.S.“ nicht ganz verflogen. Vielleicht geht es 2025 wirklich mit einer neuen Nummer Eins und einer zweiten Staffel weiter, wie man im Reddit-Rabbit-Hole des Comic-Internets munkelt. Dass es in den USA nicht mal ein Hardcover der „ersten Season“ gibt, und bloß ein Paperback, dämpft die Magie der Hoffnung freilich gleich wieder. Überdies wurde Valerio Schiti zum neuen „Avengers“-Zeichner berufen.
So oder so ist schon jetzt jede vorhandene „G.O.D.S.“-Erzähleinheit extrem lesenswert. Ein angenehm forderndes, im guten Sinne leicht obskures, höchst fantastisches Marvel-Highlight zwischen „Dr. Strange“, „Infinity Gauntlet“ und „Sandman“, das noch so viel mehr hätte sein können, und vielleicht ja tatsächlich noch werden mag.
Wer gelegentlich Zweifel daran hat, ob selbst in einem gigantischen Franchise-Steinbruch wie dem Marvel-Comic-Kosmos noch frische, begeisternde Geschichten mit neuen Figuren und echter Comic-Magie geschaffen werden können, muss jedenfalls Jonathan Hickmans und Valerio Schitis „G.O.D.S.“ lesen.
Abb: © 2023, 2024 Marvel
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Christian Endres berichtet seit 2014 als Teil des Teams von diezukunft.de über Science-Fiction. Er schreibt sie aber auch selbst – im Mai 2024 ist bei Heyne sein SF-Roman „Wolfszone“ erschienen.
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