21. November 2013

Von zeitloser Wucht

„Island of Lost Souls“ – Eine Ausgrabung der Criterion Collection

Lesezeit: 5 min.

Endlich ist er in einer von der amerikanischen Criterion Collection wieder einmal vorbildlich besorgten Edition (und in nur wenig späterer Veröffentlichung und ähnlich guter Qualität auch von der britischen »Masters-of-Cinema«-Reihe) greif-, sicht- und hörbar, dieser bemerkenswert selten gesehene beziehungsweise gezeigte Klassiker des frühen US-Horror-Tonfilms. Island of Lost Souls ist die erste filmische Adaption von H. G. Wells 1896 erstmals publiziertem Roman »The Island of Dr. Moreau«, der neben Mary Shelleys »Frankenstein« (1818), Robert Louis Stevensons Novelle »Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde« (1886) und Bram Stokers »Dracula« (1897) zu den großen initialzündenden, gewissermaßen protomodernen Erzählungen und Stoffen des sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts als populäres Kultursegment etablierenden Horror-Genres gehört.

Für die saubere und kompakte Regie zeichnet der uneitle Hollywood-Handwerker Erle C. Kenton verantwortlich. Die spektakulären und so organisch wuchernden wie dekorativ-abstrakten Szenenbilder, in denen sich Dschungelfauna und expressionistische Raumarchitektur aufs dialektisch Finsterschönste ineinander verflechten, stammen von dem großen Hans Dreier (der einen seiner drei Oscars in der Kategorie »Bestes Szenenbild« für die Arbeit an Billy Wilders Sunset Boulevard [1950] erhielt). Die insgesamt bedrohlich eng kadrierende, den Blick ständig mit pflanzlichen und sonstigen Wucherungen verhängende und dabei den filmischen Raum immer wieder überraschend nach hinten, vorne, links und rechts öffnende Kamera führt Karl Struss, der auch Murnaus Sunrise (1927) und Chaplins The Great Dictator (1940) fotografierte; dabei nutzt Struss in so beherrscht-effizienter wie erschöpfend-effektiver Weise so ziemlich sämtliche formalen Standards, die zum Inventar filmsprachlicher Horror-Ästhetik gehören – zur prinzipiellen Unübersichtlichkeit und Tiefe des vom Kameraauge etablierten Raumes treten plötzliche eigeschnittene Nahaufnahmen, die Fokussierung monströser Details sowie Blicke und Körper, die sich direkt in Richtung Kamera bewegen.

Man sieht die von Moreau per Vivisektion geschaffenen Tiermenschen zunächst vage im Dschungel herumhuschen, bis einer von ihnen seinen gequälten hybriden Schädel direkt vor der Nase des Publikums erhebt. Das Nicht-Menschliche bis Bestialische der bemitleidenswerten Kreaturen blitzt mitunter buchstäblich am Rande und daher umso erschreckender auf: als überraschend ins Zentrum des jeweiligen Bildes gesetzter Huf statt des implizit vorausgesetzten und erwarteten menschlichen Fußes, als für einen kurzen Moment von langen Haaren freigelegtes pelziges Ohr oder als Kopf, dessen falsche und verformte Physiognomie sich erst durch einen Dreh ins Profil erweist. Moreaus Geschöpfe – obwohl »neu gestaltete und geformte Tiere«, wie es in der Romanvorlage von Island of Lost Souls heißt (zitiert nach H. G. Wells: »Die Insel des Dr. Moreau«, München 2012, S. 96) – sind keine bizarr synthetisierten Monster aus höllischen Tiefen, sondern größtenteils menschlich und damit (in mal weniger, aber insgesamt mehr gelungener Arbeit des Maskenbildners Wally Westmore) gestaltgewordener Ausdruck sowohl des Kampfes zwischen als auch der Nähe von tierischer und menschlicher Natur. Und wenn der schwelende Konflikt zwischen dem Helden des Films, dem durch Schiffbruch auf die auf keiner Seekarte verzeichnete Insel gelangten Edward Parker, und seinem Antagonisten Moreau endgültig ausbricht, agieren beide Figuren in einer intensiven Schuss-Gegenschuss-Sequenz direkt und in bedrohlich steigender Annäherung mit der Kamera be­ziehungsweise dem Publikum.

Schließlich kommt die außergewöhnliche Gestaltung der Tonspur hinzu. In diesem Film gibt es nicht nur kein Wort, sondern auch keinen einzigen Ton zu viel; musikalische Untermalung zwecks Dramatisierung kommt so gut wie gar nicht zum Einsatz. Stattdessen herrscht eine lediglich von handlungsortgemäßen Minimalgeräuschen unterfütterte permanente Stille, in die immer wieder grauenhafte Töne einbrechen. Bei diesen Tönen handelt es sich hauptsächlich um die Schreie der von Moreau in seinem »Haus des Schmerzes« genannten Labors gefolterten, da bei lebendigem Leib und ohne Betäubung operierten Tiermenschen.

Spätestens ab hier unterscheidet sich Island of Lost Souls massiv von den anderen amerikanischen Horrorklassikern seiner Zeit. Wenn Moreau seinen entsetzten Gast über Natur und Zweck der Experimente, wegen denen der Doktor immerhin aus seinem Heimatland England flüchten musste, aufklärt und seine Ausführungen in der (durchaus berechen- und erwartbaren) Frage »Do you know what it means to feel like God?« gipfeln lässt, spricht hieraus keineswegs die Stimme der von vertretbar ausgereiztem Fortschrittsethos in Hybris umgeschlagene Viktor-Frankenstein-Verwandtschaft, sondern die schiere und von keinerlei Erkenntnisinteresse mehr in Bahnen gedrängte Lust am Quälen lebenden Fleisches. Moreau ist kein fanatischer Wissenschaftler, sondern ein fanatischer Folterer, ein Vivisekteur, und der Film handelt weniger von der Amoral der Wissenschaft als vielmehr von Folter, Schmerz und Qualen, in geschmackvollem Ernst und einer Konsequenz, die das Werk – in Symbiose mit seinen formalen Vorzügen – gegen jeden Anflug von in solchen Fällen allzeit und überall lauernder B-Movie-Haftigkeit schützen.

Bezüglich dieser sehr speziellen Balance zwischen derbem Schund und nihilistischem Tiefgang sowie der anrührenden Bemühung, mit der Rhetorik des Monströsen eine Botschaft des Humanen zu vermitteln, ist Island of Lost Souls am ehesten mit Tod Brownings im selben Jahr produzierten Film Freaks zu vergleichen. Dabei adaptiert Regisseur Kenton sehr werkgetreu den statt gepflegtem Grusel brachialen Horror von Wells’ Roman, in welchem Dr. Moreau schon der Heiligen Inquisition als »Hauptziel kunstgerechtes Foltern« (S. 98) unterstellt und sein Tun auf die grausame Formel bringt: »Ich wollte – das war das Einzige, was ich wollte – die äußerste Grenze der Gestaltungsmöglichkeit in einer lebenden Form finden.« (S. 101)

Eben hierin findet sich die Motivation des leidenschaftlichen Folterers artikuliert, zusätzlich ins Metapoetische künstlerischen Horrors gewendet. Moreaus filmische Emanation ist die Erscheinung des unglaublichen Charles Laughton, der den soeben zitierten Satz zwar nicht spricht, aber dessen Inhalt mit jeder noch so winzigen mimischen und körperlichen Geste zum Ausdruck bringt und die Figur – mit ihren geschmeidigen Bewegungen, dem hocheleganten Auftreten, der Teetrinkerei, dem Peitschenknallen, der eiseskalten diabolischen Sexualität und der völlig in sich ruhenden, aristokratischen Erhabenheit – sichtlich als Ästheten anlegt. Laughton allein würde den Film zusammenhalten, der das absolut nicht nötig hat, aber sich angemessen um den unumstrittenen Star heruminszeniert.

Es gehört nicht zu den geringsten Leistungen dieses schauerlichen, das in sogenannte Zivilisationen sauber integrierbare unsägliche Leid des Kreatürlichen verhandelnden Melodramas, dass die finale Rache der Schöpfungen an ihrem Schöpfer – die Tiermenschen drehen den Spieß um und zerstückeln den schrecklich schreienden Moreau mit Skalpellen – für einen unangenehm ambivalenten Abgang sorgt. Mag auch jemand wie Bela Lugosi (in der Rolle des haarigen Oberpredigers der Hybriden-Gemeinde) den Film ein wenig aus der Bahn werfen – Island of Lost Souls ist vorzüglich gealtert, nichts weniger als eines der großen Meisterwerke filmischen Horrors, und hat kaum etwas von seiner zeitlosen Wucht eingebüßt.

Island of Lost Souls • USA 1932 · Regie: Erle C. Kenton · Darsteller: Charles Laughton, Bela Lugosi, Richard Arlen, Leila Hyams, Kathleen Burke

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