15. Mai 2010

Darf’s etwas mehr sein?

„Cargo“ – Ein grandios vermessener SF-Film aus der Schweiz

Lesezeit: 3 min.

Cargo beginnt mit massiven Zitaten. Die erste Einstellung zeigt ein Kornfeld, und natürlich kommt die Hand, die über die Ähren streicht. Hier gehört die Hand einer langhaarigen Frau, die ein strahlend weißes Kleid trägt, und neben Gladiator zuckt auch gleich Timotei durch den Kopf. Was möglicherweise durchaus so sein soll, denn am Ende entpuppt sich die kurze Sequenz als Werbespot für einen fremden, idyllischen Planeten: Rhea. Womit die Macher klug und optisch brillant zu einem Mix aus Blade Runner- und 2001-Zitat übergehen. Denn der Spot läuft auf einem riesigen Bildschirm, der im All schwebt, während sich die Kamera im Anflug auf eine gigantische Orbitalstadt befindet. Und »gigantisch« ist hier wirklich das richtige Wort, denn die Rede ist von Gigantomanie aus der Gründerzeit der Space Opera, sprich im Stile von E.E. Smith oder John W. Campbell. Je näher wir kommen, desto mehr begreifen wir, wie unfassbar groß diese elegante, verschachtelte, aus verschiedenen rotierenden Ringen aufgebaute Station ist. Und während der Soundtrack natürlich an Vangelis erinnert, schwebt die Kamera durch eines der Millionen leuchtenden Fenster und nähert sich der Hauptperson, einer jungen Ärztin namens Laura, die in wenigen Off-Sätzen die Prämisse erklärt: Die Erde ist nach mehreren Epidemien unbewohnbar geworden. Immer mehr Flüchtlinge kommen zur Station. Auf dem fernen Planeten Rhea ist eine Kolonie, auf der sich das Leben noch lohnt, doch der Flug dorthin ist teuer. Laura hat sich als Ärztin auf einem Cargo-Flug verdingt, um das nötige Geld zu verdienen. Acht Jahre soll die Reise dauern.

Man ist fünf Minuten im Film und ringt etwas nach Atem. So ambitioniert, so technisch brillant, so unglaublich vermessen hat kaum ein SF-Film der letzten zwanzig Jahre angefangen. Ivan Engler und Ralph Etter legen die Messlatte so hoch, dass sie eigentlich keine Chance haben – so hoch kann niemand springen. Aber sie wagen es trotzdem, und trotz aller Schwächen (vor allem im Storytelling), die man ihnen in den nächsten knapp zwei Stunden immer wieder ankreiden kann, ist man den beiden doch dankbar. Sie schaffen zwar keine eigene Vision, sondern eher ein Amalgam aus einem Dutzend bekannter Stoffe, aber das macht unterm Strich eher noch schmerzhafter bewusst, wie gut der SF-Film einmal war und wie jämmerlich jüngere, hochgehypte Streifen wie Avatar wirklich sind.

Nach dem überwältigenden Auftakt macht Cargo einen Schritt zurück und wird zum – technisch weiterhin auf hohem Niveau umgesetzten – Kammerspiel. Die Besatzung liegt im Kälteschlaf, nur einer ist wach und kümmert sich ums Nötigste. Während Lauras Schicht passieren merkwürdige Dinge im Frachtraum (den eigentlich niemand betreten darf) und sie weckt den Captain. Bei der Untersuchung der Fracht verunglückt er tödlich, und jetzt erst kommt die Geschichte in Gang, die im Zentrum des Films steht. War es wirklich ein Unfall? War es Mord? Ist außer der Besatzung noch jemand an Bord? Woraus besteht eigentlich die Fracht? Warum ist ein Sky Marshal mit an Bord? Ist es wirklich ein Sicherheitsbeamter? Was hat das alles mit Rhea zu tun?

Diese Geschichte ist kompliziert, sogar überfrachtet. Man bekommt das Gefühl, als hätten die Macher einfach alles hinein packen müssen, weil es vielleicht der erste und letzte Film ihres Lebens ist. Und unter diesen Umständen ist Selbstbeschränkung möglicherweise zu viel verlangt. So schütteln sie eine Wendung nach der anderen aus dem Ärmel, und da jede davon bekannt ist, ist man irgendwann etwas genervt. Okay, das haben sie auch gesehen. Ja, das mochten sie auch. Fein, wie wär’s mal mit etwas Neuem? Das alles zusammen macht Cargo unrund und mit zunehmender Länge immer schwerfälliger, zumal der Drang, immer mehr hineinpacken zu müssen, sich zum Ende hin sogar noch steigert. Sei’s drum, Cargo ist nicht die Neuerfindung des SF-Kinos, aber eine überfällige Rückbesinnung auf seine Stärken. Von hier aus würde es sich lohnen, zu neuen Ufern aufzubrechen. Und es wäre hochinteressant zu beobachten, was sich Engler und Etter darunter vorstellen.

Cargo • CH 2009 • Regie: Ivan Engler & Ralph Etter • Darsteller: Anna-Katharina Schwabroh, Martin Rapold, Regula Grauwiller, Yangzom Brauen

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