Tödliche Schwangerschaften
„Das Testament der Jessie Lamb“ von Jane Rogers
Science Fiction wird zwar oft als „Jugendliteratur“ belächelt, meiner Erfahrung nach wird sie jedoch von Jugendlichen kaum gelesen – abgesehen vielleicht von Battletech-Franchises und Douglas Adams’ Hitchhiker-Opus (im Shop). Noch seltener greifen Frauen zu Büchern, auf deren Covern Raumschiffe, Zukunftslabors oder Weltraumszenarien abgebildet sind. Hier gilt es für SF-Verlage, den Schatz einer großen potenziellen Zielgruppe zu heben, die sich momentan lieber Fantasy- und Vampirromanen zuwendet. Doch wie kann das gelingen? So banal es klingt: In den Büchern sollten einfach verstärkt Frauenthemen behandelt werden. Also keine aus Männerperspektive huldvoll geschilderten Weltraumkriegerinnen, sondern auch in heutigen Verhältnissen vorstellbare weibliche Schicksale mit glaubwürdigen Herausforderungen, auf spannende Weise in eine nahe Zukunft extrapoliert. Das schafften etwa Margaret Atwood mit „Der Report der Magd“, P. D. James mit „Im Land der leeren Häuser“ und natürlich immer wieder Ursula K. Le Guin (im Shop).
Und nun die britische Radio- und Fernsehautorin Jane Rogers, die mit ihrem ersten SF-Roman gleich den Arthur C. Clarke Award 2012 gewann: „Das Testament der Jessie Lamb“ (im Shop) setzte sich durch, weil es die obigen Kriterien beherzigt und es versteht, eine emotional anspruchsvolle Near-Future-Story zu vermitteln. Mit ihrer gerade noch zwischen Pubertät und sich entfaltender Weiblichkeit stehenden Protagonistin Jessie vereint sie zudem Themen, die Frauen und Jugendliche interessieren, mithin ein großes Publikum ansprechen.
Dabei klingt die Geschichte nicht gerade originell: Wie schon „Im Land der leeren Häuser“ greift auch dieses Buch Frauen (und mit ihnen die Gesellschaft) genau im Zentrum ihrer Weiblichkeit an: der Fähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen. Ein Virus führt dazu, dass Schwangerschaften tödlich verlaufen; schon nach wenigen Jahren wird klar, dass es sich bei dem sogenannten Muttertod-Syndrom (kurz: MTS) um eine globale Pandemie handelt und die Menschheit vor dem Aussterben stehen könnte. Rogers gewinnt hier an Kraft und Eindringlichkeit, indem sie das Geschehen konsequent aus der Perspektive von Jessie erzählt: Medienberichte über MTS ergänzen sich mit Gerüchten, ihr als Mediziner nah am Geschehen befindlicher Vater versorgt sie (und uns Leser) zudem mit wichtigen Hintergrundinformationen. So baut sich nach ein nach ein Szenario auf, das den Betroffenen nur wenige Optionen offen lässt: Nicht mehr schwanger werden oder den eigenen Tod riskieren.
Bis schließlich doch noch eine vielleicht rettende Alternative auftaucht, die jedoch schwere Opfer verlangt, erleben wir mit, wie Jessie sich von einer eher uninteressierten, ignoranten Jugendlichen zu einer mitfühlenden Frau entwickelt, deren Empathie schließlich so weit geht, dass sie sich – wie auch zahlreiche andere – zur Teilnahme an dem medizinischen Hoffnungsprogramm meldet. Allerdings nicht zur Freude ihrer Familie, und so wird der Handlungsstrang immer wieder von Einschüben unterbrochen, die die verzweifelten (und brutalen) Versuche ihres Vaters schildern, seine Tochter von der Selbstopferung abzuhalten. Ein guter erzählerischer Rhythmus verhindert, dass die Erzählung dadurch holprig oder langweilig wird; mit traumwandlerischer Sicherheit drängt Jessie und mit ihr die Geschichte auf den finalen Höhepunkt zu.
„Das Testament der Jessie Lamb“ ist eher kein Stoff für alteingesessene SF-Leser, da es doch zu viele altbekannte Versatzstücke aufweist und weder kulturell noch technologisch Neues vermittelt. Für Einsteiger und all jene, die psychologisch interessante, berührende Erzählungen schätzen, ist der Roman sehr zu empfehlen und findet hoffentlich eine große Leserschaft.
Jane Rogers: Das Testament der Jessie Lamb • Wilhelm Heyne Verlag, München 2013 • 382 Seiten · € 11,99 (im Shop)
Kommentare
Ein interessanter Ansatz, danke für den Hinweis!
Als Mutter und oftmals mitfühlende Leserin scheint das Thema für mich allerdings nicht so geeignet.
Ja, wirklich!
Besonders die Überlegung "sondern auch in heutigen Verhältnissen vorstellbare weibliche Schicksale mit glaubwürdigen Herausforderungen, auf spannende Weise in eine nahe Zukunft extrapoliert." wäre vielleicht auch mal eine Überlegung für so manchen SF-Autor wert.
Anna Mocikat hat mit "MUC" auch eine gute Vorlage für Frauen geliefert, die weibliche Protagonistin ist eine gute Vorreitern.
Wenn ich mir so die männliche Generation 45+ anschaue, kommen die meisten über die Motorrad Zeitung und Co nicht raus. Vielleicht sollte es für diese Leser vermehrt Comic und Graphic Novels über die Vierräder der Zukunft geben?
Danke für den Tipp, wollte "MUC" eh schon lange mal lesen und habe jetzt den nötigen Ansporn :-)
Und was die männliche Generation 45+ angeht: ich beobachte das leider ebenfalls, aber ist die echt schon so verloren?