Alles bleibt im Fluss
„Cyberabad“ von Ian McDonald
Eines der erstaunlichen Dinge an diesem Buch ist, dass es bereits um 2004 geschrieben wurde und erst jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt – denn es blickt auf derart scharfsichtige und intelligente Weise in die Zukunft, dass seine geringe Bekanntheit regelrecht verwundert. Der 1960 geborene Autor, aufgewachsen als Sohn einer irischen Mutter und eines schottischen Vaters, zeigt auch in diesem Werk sein großes Talent, sich mit ethnischen und religiösen Konfliktzonen außerhalb der westlichen Welt auf sehr humanistische Weise zu befassen und in äußerst spannende Geschichten zu verweben. Sein Herz schlägt dabei stets auf Seiten der Unterdrückten und Ausgestoßenen, egal ob es sich um außerirdische Flüchtlinge oder afrikanische Underdogs handelt – oder wie hier um die Millionen indischen Slumbewohner auf der Suche nach einem besseren Leben.
Der im Jahr 2047 angesiedelte Roman entwirft ein unglaublich buntes, lautes, vielschichtiges Szenario einer südasiatischen Zukunft, das sich extrem real anfühlt – so als könnten wir es bereits ertasten, wenn wir die Hände ausstrecken. Hundert Jahre nach Erringung der Unabhängigkeit hat sich Indien in mehrere Teilstaaten aufgespalten, die mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen haben: Die globale Erwärmung bringt Trockenheit, geänderte Meeresströmungen führen zum Ausbleiben des Monsuns, lebenswichtiges Trinkwasser fehlt allerorten. Mitten in dieser bedrückenden, gewaltbereiten Welt lässt McDonald alte Traditionen und modernste Technologien aufeinanderprallen, indem er insgesamt zehn verschiedenen Protagonisten auf ihrem Kampf um ein menschenwürdiges Fortkommen folgt: Ein »Krishna-Cop« jagt nach außer Kontrolle geratenen Künstlichen Intelligenzen; zwei Verbrecher liefern (nicht freiwillig gespendetes) organisches Material an Gentechnik-Firmen; ein ehrgeiziger Diplomat versucht die Fehler der kriegslüsternen Premierministerin zu korrigieren und gelangt in eine verhängnisvolle Affäre mit einem Exemplar hochgezüchteter, geschlechtsneutraler Menschen …
Immer wieder wird hierbei die Leidensfähigkeit der Protagonisten ausgelotet, schwankt deren Beschreibung zwischen Mitgefühl und Abscheu, kaum eine menschliche Regung auslassend. Das Panorama an Handlungsträgern, Statisten und Settings ist so berauschend, dass man die überfüllten Straßen mit ihren Gerüchen und Klängen ständig wahrzunehmen glaubt – wie ein Tourist, dessen Eindrücke so lange nur an der Oberfläche kratzen, bis er bereit ist, seine Vorsicht aufzugeben und tiefer einzudringen. Unterstützt wird diese beinahe schon sinnliche Leseerfahrung durch gekonnt eingestreute Ethnologismen und Idiome (für die hilfreicherweise am Ende ein Glossar angehängt wurde). Der Autor erweist sich hierbei im Umgang mit fremden Sprachen als zugleich ernsthafter und »liebevoller« als etwa Paolo Bacigalupi in dessen »Biokrieg«: Jener greift zwar ebenfalls die literarisch und inhaltlich hochinteressanten Möglichkeiten der asiatischen Kultur auf, bleibt jedoch sprachlich an der Oberfläche haften und wirft fremde Wörter auf relativ kühle, rein auf den Effekt zielende Weise in die Handlung ein. Bei McDonald hingegen klingt es (auch wenn das nur Show sein mag), als hätte er jahrelange Feldforschung vor Ort betrieben und eine Zeit lang in verschiedensten gesellschaftlichen Schichten gelebt.
»Cyberabad« (im Shop ansehen) bringt auch auf den Punkt, worin der besondere Reiz an einer in Asien angesiedelten Science Fiction liegt: Im Gegensatz zu Europa und den USA, wo mittlerweile schon allein der Gedanke an revolutionäre Technologien ein Gefahrenpotenzial zu bergen scheint und der umfassenden »political correctness« im Wege steht, lassen sich die weniger reguliert aufstrebenden Gesellschaften des indischen Subkontinents in atemberaubender Schnelligkeit und mit einer auf uns verblüffend wirkenden Verspieltheit und Sorglosigkeit auf neue Techniksysteme ein. Wo noch kaum Gewerkschaften und NGOs die Bevölkerung vor möglicherweise schädlichen Auswirkungen schützen, blüht ein Panoptikum von Chancen und Missbräuchen, erhalten abstruse SF-Visionen eine erschreckende Glaubwürdigkeit. Ob es sich um Organdiebstahl, illegale Genzüchtungen oder vom Großteil der Bevölkerung wie Götter verehrte, virtuelle Darsteller von digitalen Soap-Operas handelt – in Südasien scheint schon heute und mehr noch in den nächsten Jahrzehnten alles möglich zu sein.
Und Ian McDonald steht wie ein Flussfischer mitten drin, wirft sein Netz aus und beobachtet anschließend auf kluge Weise seinen Fang, spielt damit herum und arrangiert die Bestandteile zu einer ganz eigenen Vision, wie wir sie auf diese Weise noch nicht kannten. Wie sehr er sich hierbei in neue Denkweisen einlässt, illustriert auch der Umstand, dass er sich dabei intensiv mit Sprache auseinandersetzt, sie dekonstruiert und neu formuliert. Jene Fremdartigkeit, mit der er uns etwa in seinem »Chaga-Zyklus« vertraut machte, gestaltet er hier weiter und entwirft – für die Kommunikation zwischen den »Neuts« genannten Geschlechtslosen – Ansätze zu einem eigenen, neuen Sprachsystem: Da Sprache immer auch vom Körper geformt wird, verzichtet der Autor in den die Neuts betreffenden Passagen und Dialogen konsequenterweise auf geschlechtsbezogene Artikel, Personenangaben und Possessivpronomen, so werden etwa »er« und »sie« zu »ys«, und statt »sein« oder »ihr« heißt es »sys«. Hat man sich beim Lesen erst mal daran gewöhnt, öffnet sich durch diesen literarischen Kniff ein gänzlich neuer Kosmos des Einfühlens in andersartige Wesen. Auch wenn »Cyberabad« durch seine extreme Fülle und Komplexität besonders eingangs schwer zu lesen ist und eine gehörige Portion Konzentration verlangt, hat es schon allein durch diese Beschäftigung mit Sprache der SF einen neuen Aspekt gegeben und bekam völlig zurecht – nach Nominierungen für den Hugo Award und den Arthur C. Clarke Award – den BSFA Award zugesprochen. Für mich persönlich ist »Cyberabad« das Science-Fiction-Buch des Jahres und sollte auch von Nicht-SF-Fans unbedingt gelesen werden.
Ian McDonald: Cyberabad · Roman · Aus dem Englischen von Bernhard Kempen · Wilhelm Heyne Verlag, München 2012 · 798 Seiten · € 9,49 (E-Book – im Shop ansehen)
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