Dystopische Croisette
Science-Fiction in Cannes
Filmfestivals sind stets besondere Phasen, in denen man für einige Tage in eine Blase eintaucht, in der das Leben fast nur noch aus Filmen besteht. Das Nonplusultra ist ohne Frage Cannes, immer noch das bedeutendste Filmfestival der Welt, wo jedes Jahr im Mai tausende Journalisten, PR-Experten, Filmverleiher und Verkäufer und so ziemlich jeder andere einfallen, der irgendwas mit Film zu tun hat. Für 12 Tage verwandelt sich ein eher beschauliches, wenn auch reiches Strandbad in einen Rummelplatz, werden mondäne Partys gefeiert, Filme gesehen und verkauft.
Und während sich die Cineasten oben im riesigen Festivalpalais an neuen Filmen der bekanntesten Autorenfilmer delektieren, werden passenderweise unten im Keller Filme verkauft, die oft kaum den Weg in heimische Videotheken finden. Hier erfreuen sich alte Actionhaudegen wie Dolph Lundgren oder Steven Seagal noch großer Beliebtheit und preisen mit ihren Muskelmassen originell betitelte Filme wie „Don’t kill it“ oder „Cyborg Nemesis“ an, über deren Inhalt kaum mehr zu erfahren ist als die Titel versprechen. Was sich hinter der indischen Produktion „The Monk who Fucked a Limousine“ verbirgt, will man dagegen lieber nicht wissen…
Beliebtes Spiel von Trash-Schmieden wie Asylum oder Halycon ist nach wie vor das Spiel mit der Verwechselung: Titel wie „Starship Rising“, „Shark Lake“ oder „The Mummy Resurrected“ lehnen sich an bekannte Vorbilder an und versprechen schon auf dem Poster reißerischen Action-Thrill, der dann bekanntermaßen mangels Budget und Talent in aller Regel nicht eingelöst wird.
Wo dagegen viel Geld drinsteckt verraten schließlich auch die riesigen Plakate, die die Croisette säumen und für Großproduktionen werben: wie „Mad Max“ – der gleich am zweiten Festivaltag seine vielbejubelte internationale Premiere erlebte – „Inside Out“ und nicht zuletzt Arnold Schwarzeneggers Rückkehr zu dem Franchise, das ihn endgültig berühmt machte: „Terminator: Genisys“. Solch einen Film in Cannes zu sehen ist eher unwahrscheinlich, doch gleich zwei der besten Wettbewerbsbeiträge bedienten sich interessanter Science-Fiction Motive, wenngleich auf die eher sittsame Arthouse-Variante.
Der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke wirft im dritten Akt seines epischen „Mountains May Depart“ einen Blick in die Welt von 2025, nachdem er zuvor 1999 und 2014 von einer Dreiecksbeziehung erzählt hatte. Diese spielgelte die dramatischen Entwicklungen und Verwerfungen innerhalb der chinesischen Gesellschaft, die sich in rasantem Tempo vom kommunistischen System zu einem gelenkten Kapitalismus entwickelt hat. Den damit einhergehenden Verlust an Traditionen und Werten beklagt Jia und imaginiert, das 2025 die Chinesen, die es sich leisten können, längst ihre Heimat verlassen haben und im Ausland leben. Hier ist das ein leicht futuristisch wirkendes Australien, das so klinisch rein wirkt, wie es das durch Umweltbelastung zunehmend verschmutzte China wohl nie mehr sein wird.
Noch interessanter ist die Welt, die der Grieche Yorgos Lanthimos in „The Lobster“ (u.a. mit Colin Farrell und Rachel Weisz) entwirft: Er imaginiert eine Welt, in der es verboten ist, Single zu sein. Wer hier von seinem Partner verlassen wird, muss in eine Art Hotel ziehen, wo er oder sie 45 Tage Zeit hat, unter den anderen Singles einen neuen Partner zu finden. Gelingt dies, wird das neue Paar wieder in die Gesellschaft integriert, scheitert der Versuch, wird man in ein Tier seiner Wahl verwandelt.
Ein ebenso bizarres, wie brillantes Konzept einer dystopischen Welt, deren Rahmenbedingungen Lanthimos kaum mehr als andeutet. Wie jeder richtig gute Genrefilm benutzt er seinen Ausgangspunkt für Reflektionen über die Gegenwart, in diesem Fall das moderne Dating-Verhalten, das zunehmend per Internet stattfindet. Nach Lieblingsbeschäftigung, Haarfarbe, Beruf und ähnlichen Faktoren werden da oft Partnervorschläge gemacht, ein Konzept, das in „The Lobster“ auf die Spitze getrieben wird: Hier reicht eine Übereinstimmung wie Hinken, ein schönes Lächeln oder einfach nur Fehlsichtigkeit dazu aus, um als perfektes Match zu gelten.
So absurd wie tragisch ist dieses Konzept und erzählt doch so viel über die Art und Weise, wie fast jeder Mensch der Gegenwart erhebliche Teile seiner Entscheidungungsfreiheit und damit seines freien Willens, an Algorithmen abgegeben hat. Wenn man beim nächsten Besuch bei einer Dating-Seite, oder auch nur bei Amazon oder einer News-Seite das Angebot bekommt, zu lesen, sehen, kaufen was Gleichgesinnte gemocht haben, wird man vielleicht daran denken, wie viel seiner persönlichen Freiheit man dadurch aufgibt.
Solch einen Film im Wettbewerb von Cannes zu sehen (und demnächst auch im deutschen Kino) ist besonders schön, auch wenn Yorgos Lanthimos Arthouse-Dystopie „The Lobster“ wohl kaum etwas am Ruf von eher mainstreamiger, aber dennoch intelligenter Science-Fiction ändern wird.
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