24. Juni 2015 4 Likes

Unser täglich Morgen gib uns heute

Über die Schwierigkeit, Zukunft ohne Epiphanie zu denken – Eine Kolumne von Sascha Mamczak

Lesezeit: 5 min.

Versteht der Islamische Staat den Islamischen Staat?

Wäre das eine ironische Frage, könnte man spontan antworten: Wer sonst? Es ist aber keine ironische, sondern eine gleichermaßen hermeneutische wie pragmatische Frage: Warum bemüht sich eine auf religiösem Fanatismus gegründete Terrororganisation, die sich im metaphysischen Endkampf mit ungläubigen Mächten (seien sie westlich oder östlich, schiitisch oder sunnitisch) wähnt, um die Errichtung staatlicher Strukturen? Welche Logik steckt darin, die Weltgemeinschaft mit Videos von Hinrichtungen und Zerstörungsorgien regelmäßig wissen zu lassen, dass man keinesfalls bereit ist, sich als Territorialstaat in ebendiese Gemeinschaft einzufügen, während man sich gleichzeitig um Altersvorsorge, Witwenrente und Ölexporte kümmert?

In extremer Form haben wir es hier mit einem Spannungsverhältnis zu tun, das alle Weltreligionen prägt, insbesondere die abrahamitischen Offenbarungsreligionen mit ihren Wiederkunftsversprechen, zu deren zahllosen Verästelungen auch der Islamische Staat gehört: Wenn Gott die menschliche Geschichte lenkt und der Tag des Einzugs der himmlischen Heerscharen längst festgelegt ist, warum sollten sich die Menschen dann um eine Zukunft bemühen, die nur für sie reserviert ist? Wie politisch – im ursprünglichen Sinne des Wortes: die Zusammenkunft einer menschlichen Gemeinschaft zur Gestaltung dieser Gemeinschaft – sollen gläubige Menschen sein, wenn das eigentliche Ziel der Geschichte, ihre Bestimmung und Vollendung, das Ende der politischen Welt, ja der Welt überhaupt ist?

Dieses Spannungsverhältnis, das sich als kurioser Plot-Point durch sämtliche Offenbarungstexte zieht, wurde, wie so viele andere auch, nie aufgelöst, sondern vertagt. Denn da das Ende der Welt zum jeweils vorhergesagten Zeitpunkt nicht eintreten wollte und sich die Menschen folglich irgendeine Art von Zukunft konstruieren mussten, hat man das Wiederkunftsdatum im christlichen Mittelalter mittels fantasmagorischer Zahlenakrobatik immer wieder hinausgeschoben, während sich kirchliche und weltliche Macht zum gegenseitigen Ruhm und Nutzen amalgamisierten. An die tausend Jahre lang prägte dieses ständige Hinausschieben die politische Geschichte als repetitive Ausführung eines Bestands von sehr wenigen Motiven: Herrschaftserringung, Herrschaftsverlust, dynastische Klärungsprozesse, territoriale und theologische Grenzverschiebungen. Es war, wenn man so will, die Zukunft vor der Zukunft, denn erst im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, als die „Geschichte“ erfunden wurde, persönliche Kalender die himmlischen Tafeln ersetzten, die Welt zu einem Planeten wurde und Kant einen von Gott unabhängigen Seinszusammenhang entwickelte, entstand das Bild einer offenen, formbaren und ganz und gar dem Menschen gehörenden Zukunft, das wir heute als universell und unerschütterlich betrachten. Zwar hat sich nicht in allen Weltregionen das Amalgam aus Glauben und Macht so gelockert wie im Europa nach der Aufklärung, aber auch anderswo hat sich ein überaus pragmatischer Umgang mit dem Zukunftsdilemma ergeben: Saudi-Arabien etwa hat nicht nur kein Problem damit, seinen Fundamentalwahhabismus mit den neuesten Errungenschaften der Technik zu vereinen, sondern es zementiert via königlichem Dekret auch den Weg in die Zukunft, ganz egal, ob Allah eine Zukunft überhaupt gestattet oder nicht. Die Religionen haben sich so in ihrer großen Mehrheit des metaphysischen Stresses entledigt, der sich aus den Schriften ergibt, und sich auf Fragen der Moral und Lebensführung konzentriert. Die Zukunft machen die Menschen unter sich aus.

Aber kommt Zukunftsdenken wirklich ganz ohne Metaphysik aus? Sind es wirklich nur Radikale – die, wie Stéphane Charbonnier, kurz bevor er am 7. Januar in Paris ermordet wurde, schrieb, „die Bibel oder den Koran wie eine Ikea-Anleitung lesen“ –, für die es keinen Unterschied zwischen Geschichte und Erlösung gibt? Immerhin speisen sich Religion und Zukunftsschau aus derselben Quelle: der originär menschlichen Fähigkeit, sich in die Zukunft zu versetzen und dort nach irgendeiner Art von Trost zu suchen. Jedes Gebet ist ein Wechsel auf die Zukunft, jede Beschwörung ein prognostischer Akt, jeder religiöser Gedankenbau ein Gespräch mit dem Kommenden. Mit dem Menschen hat die Evolution, in der die Zukunft (das war die größte Entdeckung Darwins) gar nicht vorgesehen ist, ein Wesen hervorgebracht, das sich mental in die Zeit erstreckt, um sich selbst zu transzendieren.

Diese ständige geistige Vorwärtsbewegung, die keine Grenzen kennt, hat in den Jahrhunderten nach der Aufklärung das gezeitigt, was Voegelin „politische Religionen“ nannte und Camus in „Der Mensch in der Revolte“ in Grund und Boden analysierte: totalitäre Ideologien, die sich die Zukunft nicht nur unterwerfen, sondern vollständig aneignen wollten. Sie hat aber auch das hervorgebracht, was wir Utopie, Zukunftsroman oder aktuell Science-Fiction nennen: Geschichten, die von den „Wundern der Zukunft“ erzählen. Geschichten, die – auch die Utopie ist ja eine Variation der christlichen Hoffnungsidee – die Epiphanie säkularisiert und in weiten Teilen technisiert haben, aber immer noch von einer Epiphanie berichten: von einem kommenden, die Welt und den Menschen fundamental verändernden Ereignis, dem wir staunend, bangend, hoffend entgegenblicken.

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass es eines Tages ein von allen Erdenbewohnern geteiltes, durch und durch rationales Bild von der Zukunft geben wird – wir werden wohl immer etwas mehr glauben als wir wissen –, und ich bin auch nicht sicher, ob man sich solch ein durch und durch rationales, technokratisches Bild wirklich wünschen sollte (man sollte den spirituellen Pessimismus der Religionen als Absicherung gegen Vollkommenheitsideologien nicht geringschätzen). Aber problematisch wird es dann, wenn es gar kein rationales, gemeinsames Bild von der Zukunft, von einer guten Zukunft, mehr gibt – eine Situation, in der sich die Menschheit zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts befindet: Wir kämpfen, wirtschaften, leben einfach weiter in der Hoffnung, dass sich die Dinge „irgendwann“ zum Besseren wenden. Wir haben – der Befund gilt für den Westen ebenso wie für alle anderen Himmelsrichtungen – kein gesellschaftliches, kein politisches Zukunftsbild jenseits des Marktes, und in dieser Situation wird das vertagte, also eigentlich zu den Akten gelegte Spannungsverhältnis zwischen Zukunftskonstruktion und Gottesergebenheit wieder tagesaktuell, entstehen Staaten, die gar keine sind und keine sein wollen und doch die Weltagenda bestimmen. Dass die Zukunft etwas ist, dem wir nicht staunend, bangend, hoffend entgegenzublicken brauchen, sondern etwas, das wir uns vorstellen, vor allem aber, jenseits des Marktes, erarbeiten müssen, ist im polit-eschatologischen Konzept des Islamischen Staates nicht vorgesehen. Es findet sich allerdings nur in den wenigsten Konzepten, die unser Zukunftsdenken prägen. Bei Goethe steht das so: „Man geht nie weiter, als wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht.“

Anders gesagt: Diese Zukunft heißt Praxis.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.