30. Juni 2015 3 Likes

Verzückende Blutmusik

Wie Rhythmus und Sound die Bewohner des Blauen Planeten beherrschen

Lesezeit: 5 min.

Ein Außerirdischer, der die Menschen jahrhundertelang beobachtete, kehrt zu seinem Mutterschiff zurück. Als man ihn dort fragt, was ihm auf der Erde am merkwürdigsten vorkam, antwortet er: „Die Musik. Und was sie mit den Erdlingen anstellt.“

Natürlich kennt auch sein Alienvolk Musik. Doch bei ihnen klingt sie, als würde man rostige Schrauben drehen, und wird deshalb, wenn überhaupt, nur zur Abschreckung eingesetzt. Die Menschen hingegen schaffen schon seit ihren frühesten Anfängen komplexe Tonfolgen, die sie „Melodien“ nennen. Mit ihrer Stimme, mit Trommeln, auch mit hohlen Zylindern, in die sie hineinblasen – irgendwie verwenden sie alles, was zur Verfügung steht, um Töne in eine bestimmte Reihenfolge zu bekommen. Dies wäre vielleicht noch nichts Ungewöhnliches, denn auch die auf der Erde vorkommenden Vögel pfeifen und trillern Melodien.

Menschliche Musiker haben jedoch zwei entscheidende Elemente hinzugefügt: Rhythmus und Tonart. Schon der Begriff „Rhythmus“ ist den Vorgesetzten des Außerirdischen unbekannt, also muss er ihn näher erläutern. Es beginne damit, dass der Körper der Erdlinge ganz anders aufgebaut sei. Er besteht – so wie die ganze Planetenoberfläche - zum Großteil aus Flüssigkeit. Diese wird von inneren Organen durch lange Leitungsbahnen in alle Körperbereiche gepumpt – und zwar in bestimmten Intervallen. Diese Schübe können variieren, je nachdem in welchem Erregungszustand sich der Körper gerade befindet: schneller bei Alarmbereitschaft, langsamer in Ruhe. Interessant ist jedoch, dass es auch umgekehrt abläuft: Werden die Organe einem äußeren Reiz oder Rhythmus ausgesetzt, können sie sich diesem anpassen und der Flüssigkeitskreislauf im Körper verändert seine Intervalle. Dies hat wiederum originelle Auswirkungen auf das Verhalten …

„Aber was sind diese Tonarten?“, unterbrechen die Vorgesetzten den Spion. Nun, sagt er, hierbei handelt es sich um eine Erfindung, die so wohl nur bei den Menschen funktioniert: Sie haben herausgefunden, dass sie die verschiedenen von ihnen erzeugten Töne gewissermaßen in „Geschlechter“ unterteilen können, die sich durch bestimmte Tonfolgen auszeichnen und unterschiedliche Auswirkungen auf ihren Gemütszustand haben. Besonders zwei Tonarten haben es ihnen angetan, sie nennen sie „Dur“ und „Moll“. Wenn sie diese hören, beginnen sie - oft ohne es zu merken – mitzuschwingen. Ganz offensichtlich wird ihr ganzer Körper davon beeinflusst, vor allem wenn die Tonart mit bestimmten Rhythmen verbunden wird und eine länger andauernde Melodie erzeugt.

Auf die Frage, welchen Zweck das alles habe, zeigt der Kundschafter das Alien-Äquivalent eines Grinsens. „Es bestimmt ihr ganzes Leben“, erzählt er. „Ständig hören sie Musik: schon beim Erwachen, dann begleitend zur Körperpflege und Nahrungsaufnahme, auf dem Weg zu ihren seltsamen Tätigkeiten, während dieser Tätigkeiten, aber auch in der Freizeit, beim Besorgen von Dingen, im Fahrstuhl, in ihren Kirchen, natürlich auch während der Fortpflanzung und sogar abends beim Einschlafen.“

„Aber ständige Tonfolgen lenken doch ab“, wundert sich eines der Aliens. Ganz im Gegenteil, entgegnet der Spion, es helfe ihnen bei der Konzentration und bringe sie überhaupt erst in Stimmung. Menschen bräuchten offenbar Melodien und Rhythmen, um die Dinge erledigt zu bekommen. Und das ist noch nicht das Seltsamste, denn die Musik könne wie erwähnt auch ihr Verhalten beeinflussen: So würden sie bei „Dur“-Tonarten meist fröhlich und ausgelassen, bei „Moll“ feierlich, sentimental oder gar traurig.

Er fand sogar heraus, dass diese Musikabhängigkeit von den geistigen, politischen und kulturellen Führern der Menschen ganz bewusst benutzt wird, um große Massen zu beeinflussen. Bei ihren religiösen Feiern spielen sie etwa oft „Moll“-Musik, um die Zuhörer in eine spirituelle Stimmung zu versetzen. Sie beginnen dabei meist mit einer sich ins Dramatische steigernden Melodie, die den Körperorganen signalisiert, dass es jetzt beginnt. Dann folgen rhythmische, sich leicht zu merkende Tonfolgen, damit die Flüssigkeit in den Körpern gut mitschwingt. Zwischendurch wird die Musik ruhiger, getragener, der Puls in den Menschen verlangsamt sich und folgt dem Takt. Deren Rhythmus steigert sich jedoch wieder, reißt die Zuhörer mit, gibt ihnen ein Gefühl des Erhabenen, zieht sie in immer höhere Höhen und endet dann mit großem Effekt - worauf sie ganz glücksbeseelt ins Leere starren oder sich gegenseitig lächelnd zunicken. Und das funktioniert praktisch auf dem ganzen Planeten so. Als Beispiel spielt der Spion seinen Vorgesetzten die Neunte Symphonie von Beethoven vor, die besonders gern eingesetzt wird, um ein Gefühl der Einigkeit, aber auch Tröstung und Erhabenheit zu erzeugen.

„Unglaublich“, entfährt es dem Kommandeur des Raumschiffs. Ob denn alle Menschen zu solchen religiösen Feiern gehen - oder ob es Widerstandskämpfer gebe? „Mehr als achtzig Prozent der Erdbevölkerung bezeichnen sich als religiös“, antwortet der Kundschafter, denn er hat sich wirklich ausgiebig mit diesem seltsamen Volk beschäftigt. Doch auch die nicht- oder nur teilreligiösen Menschen können dem Primat ihrer Musik nicht entkommen. Wie schon gezeigt, hören sie den ganzen Tag Melodien, die sie aufmuntern, beruhigen oder auf andere Weise beeinflussen. Und manchmal treffen sie sich zu großen Veranstaltungen, die auf den ersten Blick völlig unreligiös wirken. Man nennt sie „Rock- und Pop-Konzerte“. Dort geschieht allerdings das Gleiche: Freischaffende Musiker, die von ihnen oft angebetet – ja vergöttert – werden, erzeugen Melodien, die in Tonart und Ablauf verblüffend an religiöse Kompositionen erinnern. Er zeigt zur Veranschaulichung einen kurzen Film, den er von der Erde mitbrachte.

„Natürlich geschieht dann in den Körpern des Publikums das gleiche wie beim Kirchenbesuch“, sagt er. Die Menschen schwingen feierlich mit, pulsieren im Rhythmus der Musikinstrumente, werden euphorisch, ja ekstatisch, sie springen und tanzen ganz ähnlich wie in spiritueller Trance, um am Ende völlig ausgelaugt, aber glücklich nach einer „Zugabe“ zu rufen. Dem Spion fiel auf, dass sie damit unbewusst einen uralten Zweck verfolgen.

„Und welcher wäre das?“

„Katharsis“, antwortet er und erklärt: Es handelt sich dabei um die menschliche Vorstellung, dass das Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen zu einer Art „Reinigung“ und damit Reduktion der Konflikte führt. Man kann zum Beispiel so lange auf einen Sandsack schlagen, bis es einem besser geht. Oder man hört laute Musik, am besten in einer Gruppe, bis das Blut in den Adern ekstatisch pulsiert. Der menschliche Drang nach Katharsis scheint dem Wunsch nach Erlösung zu entstammen: Sie fühlen, dass mit ihrem Leben und ihrer Umwelt etwas nicht in Ordnung ist, und sehnen sich danach, durch „Reinigung“ in ein Paradies zu gelangen. Nach diesem transzendenten Erlebnis, das die „Blutmusik“ ihnen verspricht (aber nie einlöst), suchen sie in jedem Gottesdienst, in jedem Konzert, bei jedem politischen oder militärischen Aufmarsch. Und das wird auch in Zukunft so sein. Solange sie Melodien hören können, sind sie glücklich.

„Wir könnten sie also beherrschen“, fragt der Kommandeur, „indem wir ihnen einfach … die richtige Musik vorspielen?“

„Tun wir das nicht längst?“, gibt der Spion erstaunt zurück.
 

(PS: Den Begriff „Blutmusik“ habe ich von Greg Bears gleichnamigen visionärem Buch geklaut; die Idee, Musik als Katharsis näher zu betrachten, Andrian Kreye von der Süddeutschen Zeitung.)
 

Uwe Neuhold ist Autor und bildender Künstler, der sich insbesondere mit naturwissenschaftlichen Themen befasst.

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