Welches Geschlecht hat die Herrin der Radch?
Grammatik, Gender und Gesellschaft in der deutschen Übersetzung von Ann Leckies „Maschinen“-Trilogie
Sehr geehrte Leser!
Sind Sie der Ansicht, dass ich Sie mit dieser Anrede korrekt angesprochen habe? Oder fühlen Sie sich ausgeschlossen, weil Sie weiblichen Geschlechts sind und finden, dass ich mich nicht nur an die Leser, sondern auch an die Leserinnen unter Ihnen hätte wenden sollen? Diese Frage wird im Zuge des Gender-Mainstreaming und der Bemühungen zur Gleichstellung seit Jahren kontrovers und zum Teil leidenschaftlich debattiert.
Sprachwissenschaftler argumentieren, die Form »Leser« sei ein generisches Maskulinum. Das heißt, die Endung »-er« bezeichnet lediglich den Genus, also das grammatikalische Geschlecht, das nicht zwangsläufig mit dem Sexus, dem biologischen Geschlecht, identisch sein muss. Wenn die »Leser« angesprochen werden, ist das lediglich die sprachliche Grundform dieses Wortes, die selbstverständlich beide biologische Geschlechter einschließt.
Von feministischer Seite wird dagegen der Einwand vorgebracht, dass wir mit dem grammatikalischen Geschlecht natürlich auch das biologische assoziieren. Wenn von einem Arzt die Rede ist, denken wir automatisch an einen männlichen Mediziner und vergessen dabei, dass es ja auch Ärztinnen gibt. Das Problem mit dem generischen Maskulinum ist also, dass es das Männliche als Norm und das Weibliche sozusagen nur als Ausnahme kennzeichnet.
Politisch korrekt wäre es also, von »Lesern und Leserinnen« oder, um dem bislang benachteiligten Geschlecht entgegenzukommen, von »Leserinnen und Lesern« zu sprechen. Ein anderer Ansatz bemüht sich, nach Möglichkeit ganz auf geschlechtlich markierte Formen zu verzichten und sich stattdessen an die »Lesenden« zu wenden. Was jedoch bedeuten würde, dass man beispielsweise für den »Arzt« eine ganz neue Bezeichnung finden müsste.
Im Frühjahr 2013 wurde an der Universität Leipzig beschlossen, in allen offiziellen Texten das generische Feminium zu benutzen. Das heißt, von nun an ist dort nur noch von »Studentinnen« und »Professorinnen« die Rede, wobei selbstverständlich auch alle Personen männlichen Geschlechts mitgemeint sind. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich diese Regelung allgemein durchsetzen wird, aber es handelt sich zweifellos um einen provokanten und zum Nachdenken anregenden Beitrag zur Debatte. Wie fühlt es sich für die Männer an, wenn sie aufgrund ihres Geschlechts erst an nachfolgender Stelle oder gar als »Sonderfall« genannt werden?
Genau dieses Szenario spielt die amerikanische Autorin Ann Leckie in ihrer Maschinen-Trilogie (Imperial Radch) durch, bestehend aus dem mit mehreren Science-Fiction-Preisen ausgezeichneten Roman Die Maschinen (Ancillary Justice, im Shop) und den Folgebänden Die Mission (Ancillary Sword, im Shop) und Das Imperium (Ancillary Mercy). Das Besondere daran ist, dass dieser Umstand in weit höherem Ausmaß auf meine deutsche Übersetzung zutrifft, als es beim englischen Original der Fall ist.
Die Geschichte spielt in ferner Zukunft, und die Ich-Erzählerin entstammt einer außerirdischen Kultur, in der geschlechtliche Unterschiede so gut wie keine Rolle spielen. Ihre Muttersprache, das Radchaai, kennt überhaupt keine Genus-Markierungen, was die Autorin zum Anlass genommen hat, im englischen Original als generische Form ausschließlich weibliche Pronomen zu verwenden. Doch gelegentlich kommuniziert Breq mit Vertretern anderer Kulturen, die sprachlich zwischen weiblichen und männlichen Personen unterscheiden. Und dann steht sie vor der schwierigen Frage, welche Genusformen sie benutzen soll. Denn in ihrem Fall kommt erschwerend hinzu, dass sie das Geschlecht fremder Personen oft nicht auf den ersten Blick eindeutig zuordnen kann. Und wenn sie eine fremde Sprache benutzt, fällt es ihr sichtlich schwer, für einen Mann das Pronomen »he« zu verwenden.
Nachdem ich die ersten paar Seiten dieses Buches übersetzt hatte, wurde mir schnell klar, dass ich vor einer schwierigen Entscheidung stehe. Im Original wird zum Beispiel für Lieutenant Awn durchgängig das Pronomen »she« verwendet, was sich natürlich problemlos mit »sie« übersetzen lässt. Aber was ist, wenn von »the lieutenant« die Rede ist? Im Englischen sind Formen wie »the lieutenant« oder »the doctor« (ähnlich wie im Radchaai) geschlechtlich unmarkiert. Doch im Deutschen muss ich mich zwischen einem männlichen oder weiblichen Artikel entscheiden – entweder »der Arzt« oder »die Ärztin«. Wenn ich »der Leutnant« schreiben würde, wäre die Sache eindeutig männlich markiert. Damit es zum »sie« passt, muss ich konsequenterweise von »der Leutnantin« sprechen. Und logischerweise auch von »Ärztinnen«. Selbst aus einem »visitor« oder »friend« muss im Deutschen konsequent eine »Besucherin« und eine »Freundin« werden.
Damit ist die meine Übersetzung des Romans Ancillary Justice von Ann Leckie allem Anschein nach der erste deutschsprachige literarische Text in Romanlänge, der konsequent im generischen Femininum geschrieben ist. Zumindest konnte ich bei einer entsprechenden Recherche keine Hinweise finden, dass so etwas schon einmal gemacht wurde.
Konsequent, aber nicht durchgängig, möchte ich hinzufügen. Falls Sie, liebe Leserinnen (und Leser), über das Gespräch mit Denz Ay im ersten Band stolpern sollten, denken Sie bitte daran, dass dieser Dialog eben nicht auf Radchaai geführt wird.
Und die Verwendung des generischen Femininums wirkt sich auf viele andere Kleinigkeiten aus, die auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Wundern Sie sich, wenn von »den Presger« die Rede ist? Fehlt da am Ende nicht ein »n«? So könnte man argumentieren, aber dann müsste man noch einen Schritt weitergehen und von »Presgerinnen« sprechen. Nein, in diesem Fall ist das »-er« keineswegs eine deutsche männliche Endung, sondern etwas ganz anderes.
Im zweiten Band ist gelegentlich von »slavers« die Rede. Zunächst habe ich das, ohne genauer darüber nachzudenken, mit »Sklavenhändlerinnen« übersetzt. Alles klar? Nein, Moment! Wenn schon, dann muss es »Sklavinnenhändlerinnen« heißen! Beim Lesen könnte man darüber stolpern, aber genau darum geht es doch!
Eine wichtige Figur der Serie ist »the Lord of the Radch«, im Englischen mit dem Pronomen »she« beschrieben. Ein Widerspruch? Welches Geschlecht hat »sie« denn nun wirklich? Keine Sorge, ich verrate es hier nicht. In der Übersetzung habe ich »die Herrin der Radch« daraus gemacht, weil ich finde, dass »die Herrin« – ein männliches Grundwort mit weiblicher Endung – das uneindeutige englische Begriffspaar »Lord«/»she« ziemlich gut wiedergibt.
Meine schwierige Entscheidung hatte zur Folge, dass die deutsche Ausgabe dieser Trilogie ein bis zwei Schritte weiter als die englische Originalausgabe geht. Denn im Deutschen lässt sich die Grundidee wirklich nicht anders umsetzen, es sei denn, ich hätte Formen wie »die Besuchenden« oder gar »die Leutnant« verwendet, die die Lesbarkeit des Textes nicht unbedingt verbessern würden. Es war keine leichte Aufgabe, das generische Femininum so konsequent wie möglich durchzuhalten, aber nach einer Weile war ich selbst ein wenig erstaunt, wie schnell man sich daran gewöhnt. Für mich war es unter anderem auch ein hochinteressantes literarisches Experiment. Und genau das ist es ja, was richtig gute Science Fiction ausmacht. Aber urteilen Sie selbst!
PS: Wenn Sie mehr darüber wissen möchten, vor welchen ungewöhnlichen Herausforderungen die Übersetzerinnen (und Übersetzer) der bulgarischen, hebräischen, ungarischen und japanischen Ausgaben standen, empfehle ich Ihnen den Artikel »Translating Gender: Ancillary Justice in Five Languages« von Alex Dally MacFarlane.
Dr. Bernhard Kempen ist Übersetzer, Autor und Redakteur. Er hat bereits zahlreiche namhafte Autorinnen und Autoren übersetzt und wurde unter anderem mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet.
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