4. März 2022

„Mondmeridian“ von Edo Popović

Viele Suchende in einer Anti-Utopie aus Osteuropa

Lesezeit: 3 min.

1987 veröffentlichte Edo Popović (im Shop) seinen ersten Roman „Mitternachtsboogie“, der als Kultbuch einer ganzen kroatischen Generation ähnlich gefeiert wurde wie Douglas Couplands 1991 erschienenes „Generation X“. Seitdem legte Popović, einst Mitbegründer einer der wichtigsten Literaturzeitschriften des ehemaligen Jugoslawiens und in den 1990ern außerdem einer der bekanntesten Kriegsberichterstatter seines Landes, Werke wie „Der Aufstand der Ungenießbaren“, „Die Spieler“ und „Unter dem Regenbogen“ vor. Mit Mondmeridian“ (im Shop) ist nun sein neuer Roman auf Deutsch erschienen, und in dem trifft Kapitalismuskritik aus der internationalen Hochliteratur auf utopisches bis dystopisches Gedankengut sowie weitere klassische Elemente des Science-Fiction-Genres.

In der nicht allzu fernen Zukunft, die Popović anhand von Zagreb und des ländlichen Kroatiens beschreibt, haben Biotechnologie und Gentechnik die menschliche Gesellschaft ein ganzes Stück verändert. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde noch größer, und für die Reichsten der Reichen und Mächtigsten der Mächtigen gehört es längst zum Status, dass ihre Kinder aus dem Labor stammen. Mila ist die Tochter eines besonders einflussreichen Mannes im Biotech-Bereich, doch ihre Herkunft, die Abwesenheit ihrer toten Mutter und die vielen ideologischen Konflikte mit ihrem Vater verderben Milas Leben im Wohlstand. Deshalb spielt sie einer Gruppe Aktivisten Informationen über die so genannten Vergessenen zu.

Bei denen handelt es sich um eine angebliche Enklave aus altertümlich anmutenden Jägern und Sammlern, die irgendwo in völliger Isolation als analoge Selbstversorger ohne Einfluss von außen leben sollen. Die geheime Lage ihrer Siedlung ist jedoch mit einem düsteren Umweltskandal verbunden, der einst für Aufsehen sorgte. Mirko, der einer anderen, nichtkapitalistischen Kommune angehört, macht sich mit Mila und einem alten, zum Bettler gewordenen Freund auf die Suche nach den Vergessenen. Für diese sind die Menschen in der Außenwelt unterdessen die Vergifteten, während das Leben im Einklang miteinander und der Natur paradoxerweise von denselben Lügen bzw. Wahrheiten überschattet wird, die auch Mila und Mirko umtreiben. Der junge Kaj etwa, der als Vergessener geboren wurde, weiß genau, dass sein Lehrer und auch sein Vater ihm in vielen Dingen keinen reinen Wein einschenken hinsichtlich ihres Mikrokosmos und der Außenwelt …


Edo Popović. Foto © Picture Alliance / Frank May

Seinen Titel entlehnt Popović einem Gedicht der kroatischen Schriftstellerin Vesna Parun (1922–2010), in dem es um jene geht, die zu träumen vergessen haben und pausenlos den Himmel der Veränderung anschauen – bis es dann zu spät ist. Darüber hinaus nutzt Popović in seinem Roman gesellschaftlich, menschlich und stilistisch grundverschiedene Perspektiven, um auf mehrere Aspekte seiner Zukunft zu blicken. Seine Figuren entstammen gegenläufigen Systemen, sehnen sich teilweise sogar explizit nach den Lebensumständen der anderen, aber ob sie jemals glücklich werden könnten, egal, was für Wahrheiten oder Orte sie finden?

Der technologische-dystopische Science-Fiction-Hintergrund, der für Popović nicht zentral, aber dennoch mehr als schmückendes Beiwerk ist, hat genug Gehalt, um Genre-Fans zufriedenzustellen. Trotzdem steht das Konzept der Anti-Utopie klar im Mittelpunkt des Romans, der sich letztlich als große Kapitalismus-Kritik versteht – zugleich allerdings auch nicht die Augen davor verschließt, dass die zu romantischen und blauäugigen Gegenentwürfe, ja, selbst die realen oder erträumten Paradiese nicht automatisch die perfekte Lösung aller menschlichen Probleme sind, und wir aus der Nummer wohl nur schwer rauskommen.

Edo Popović: Mondmeridian • Roman • Aus dem Kroatischen von Alida Bremer • btb, München 2022 • 256 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 12,00 • im Shop

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